Polessje
Polessje (auch: Polesien, poles. Polisʹse, poln. Polesie, russ. Polesʹe, ukrain. Polissja, weißruss. Palesse).
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1 Geographie
Die P. bezeichnet eine geographische Landschaft im Südwesten des Osteuropäischen Tieflandes. Sie erstreckt sich ausgehend von Brėst über die südlichen Gebiete Weißrusslands Homelʹ, Mahilëŭ und Minsk und die nordwestlichen Gebiete der Ukraine Wolynien, Rivne, Žytomyr bis nach Kiew. Das Gebiet wird unterschiedlich abgegrenzt. Zum Kerngebiet gehören Brėst (Brėsckae Palesse), Pripjet (Prypjackae Palesse), Zaharoddze und Mazyr (Mazyrskae Palesse) in Weißrussland und Wolynien (Volynʹsʹke Polissja) – mit einem kleinen Teil in Polen –, Žytomyr (Žytomyrsʹke Polissja), Kiew (Kyjivsʹke Polissja) und Novhorod-Siversʹkyj (Novhorod-Siversʹke Polissja) in der Ukraine. Daneben werden auch die sog. Klein-P. im Süden (ukrain. Male Polissja) und Černihiv (ukrain. Černihivsʹke Polissja, russ. Černigovskoe Polesʹe im Gebiet Brjansk) im Nordosten sowie Homelʹ (weißruss. Homelʹske Palesse) und Polesie Zachodnie (auch: Polesie Lubelskie) am westlichen Bugufer (in den polnischen Woiwodschaften Lublin und Podlachien) zur P. gezählt. Die Ost-West-Ausdehnung der P. beträgt über 500 km. Sie hat je nach Abgrenzung eine Fläche zwischen 100.000 und 270.000 km² und liegt auf 100–250 m ü. d. M. (höchster Punkt: 316 m bei Ovruč).
Das ausgesprochen dünn besiedelte Gebiet befindet sich im Einzugsgebiet der Flüsse Pripjet, Dnjepr und Desna. Die überwiegend flache, nur von einigen Hügelketten umgebene Region besteht zu einem Viertel aus Sümpfen (Pripjetsümpfe), Mooren und zahlreichen Seen. Die geringen, den Wasserabfluss erschwerenden Höhenunterschiede sind Ursache des hohen Grundwasserpegels und der Entstehung von Sumpf- und Moorgebieten. Stellenweise haben sich auf dem sandigen Boden Dünen ausgebildet. Daneben gibt es, v. a. im Norden, Granit- bzw. Mergelhügel. An einigen Stellen ist es zur Karstbildung gekommen, auf die ein Teil der Seen zurückgeht (z. B. Svitjazʹ in der Ukraine, 27,5 km² und 58 m tief; Knjaže in Weißrussland, 38,5 km² und 9 m tief).
Um die landwirtschaftliche Nutzfläche zu erweitern, wurden in der Vergangenheit viele Feuchtgebiete trockengelegt. Die ersten kleinflächigen Meliorationsarbeiten wurden von polnischen Siedlern im 16. Jh. durchgeführt. Von größerer Bedeutung waren die zwischen 1873–98 durchgeführten Maßnahmen, bei denen ca. 500.000 ha für die landwirtschaftliche Nutzung trockengelegt wurden. In der Zwischenkriegszeit gab es auf polnischer Seite weitere umfangreiche Pläne, die jedoch aus militärstrategischen Gründen nicht umgesetzt wurden. Auf sowjetischer Seite wurden ab 1926 größere Flächen trockengelegt und Kolchosen bzw. Sowchosen errichtet, die jedoch keinen Bestand hatten, da der sandige Boden schnell verwitterte.
Die P. ist zu rund einem Drittel bewaldet, wobei auf den Sandböden Fichtenwälder und in den Flussauen Erlen- und Birkenwälder bzw. Eichen- und Buchenwälder überwiegen und die Grundlage der vorherrschenden holzverarbeitenden Wirtschaft bilden. Die Pflanzenwelt der P. weist zahlreiche endemische Arten (u. a. Orchideen und mehrere fleischfressende Sonnentauarten) auf. In der P. nisten über 230 Vogelarten, darunter Steinadler und Kraniche. Es leben dort weiterhin Wölfe und Elche sowie die sehr seltene Europäische Sumpfschildkröte.
In der P. herrscht ein gemäßigtes kühl-feuchtes Kontinentalklima mit einer durchschnittlichen Januartemperatur von –3 °C und einer durchschnittlichen Julitemperatur von 17 °C sowie einer jährlichen Niederschlagsmenge von 550–650 mm vor.
Auf weißrussischem und ukrainischem Gebiet befinden sich mehrere Naturschutzgebiete. Außerhalb des Kernbereiches der P. befindet sich im polnischen Teil seit 1990 ein Nationalpark (Poleski Park Narodowy, 96,48 km²). Seit 2004 zeichnet sich durch die Bildung des Internationalen Biosphärenreservats „West-P.“ (das den ukrainischen Šacʹkyj-Nationalpark und das weißrussische Schutzgebiet Prybužskae-Palesse einschliesst) eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Umweltschutz zwischen Polen, der Ukraine und Weißrussland ab.
2 Kulturgeschichte
Die Siedlungsgeschichte der P. lässt sich heute weit zurückverfolgen. Bereits im 6. Jh. siedelten hier u. a. die Stämme der „Dregowitschen“, „Drewljanen“ und „Poljanen“. In dieser Zeit entstanden v. a. an den größeren Flüssen die ersten Siedlungen, aus denen im 10./11. Jh. u. a. die Städte Homelʹ, Mazyr, Pinsk oder Turaŭ hervorgingen. Diese waren durch Gräben, Wälle und Holzpalisaden geschützt und entwickelten sich zu ökonomischen Zentren, von denen aus in den folgenden Jahrhunderten Handelskontakte mit dem Kiewer Reich (Rus), Polen und dem Baltikum geknüpft wurden.
Vom Ende des 10. Jh. bis Mitte des 12. Jh. gehörten weite Teile der P. zum Fürstentum Turaŭ-Pinsk und in geringerem Umfang zu den Fürstentümern Černihiv, Kiew und Volodymyr-Volynsʹkyj. In diesen Zeitraum fällt auch ihre orthodoxe Christianisierung. Zeugnisse der „heidnischen Vergangenheit“ der P. sind (in Form von aus Holzstämmen errichteten Grabstätten) an vielen Orten erhalten geblieben.
Im Zuge der Ausdehnung des litauischen Großfürstentums kam die P. im 14. Jh. zu Litauen. Sie bildete seit dieser Zeit einen der Siedlungsschwerpunkte der aus West- und Mitteleuropa vertriebenen Aschkenasim, die maßgeblich an der Kolonisation des Gebietes beteiligt waren. Mit der zwischen Litauen und Polen 1569 geschlossenen Union von Lublin wurde die P. in der Folgezeit Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik.
Die politische und wirtschaftliche Macht übten die über ausgedehnte Ländereien verfügenden Magnatengeschlechter, wie das der Radvila (litau., poln. Radziwiłł) oder der Sapeha (litau., poln. Sapieha) und der eingewanderte polnische bzw. polonisierte Kleinadel (Szlachta) aus. Ihre Güter waren v. a. auf die Holzwirtschaft und den Handel mit Holzprodukten ausgerichtet, der durch die Errichtung verschiedener Kanalsysteme ab dem 18. Jh., wie dem Ogiński-Kanal (1767–83) von langanhaltender Bedeutung für die Region war. In den nach Magdeburger Recht organisierten Städten, insbesondere Pinsk, dominierten in ökonomischer Hinsicht v. a. jüdische Kaufleute und Wirtschaftstreibende. Eine wichtige kulturelle Rolle spielten hier zudem die orthodoxen Bruderschaften (etwa in Mahilëŭ) und die geistlichen Orden der katholischen Kirche (Dominikaner und Jesuiten). Zu Verwüstung und Entvölkerung führten der Kosakenaufstand von 1648 und der Zweite (1655–60) und Dritte Nordische Krieg (1700–21). Nach den Teilungen Polen-Litauens 1772, 1793 und 1795 ging die Region in den Bestand des russischen Reiches über und gehörte hier zum jüdischen „Ansiedlungsrayon“.
Infolge der mit der Neugründung des polnischen Staates und dem Zusammenbruch des russischen Zarenreiches nach dem Ersten Weltkrieg hervorgerufenen territorialen Veränderungen (Friede von Riga 1921) in der Region kamen die östlichen Gebiete der P. als Teile der Weißrussischen (russ./weißruss. BSSR) und der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) zur Sowjetunion.
Die westlichen Regionen fielen – anders als die Alliierten zunächst vorgesehen hatten – an Polen, das seine Ansprüche auf „altes Staatsgebiet“ hier militärisch erfolgreich durchsetzen konnte. Sie bildeten als Woiwodschaft P. (województwo poleskie) zusammen mit den Woiwodschaften Wilna, Nowogródek und Wolynien die sog. Ostgebiete (poln. Kresy wschodnie) Polens.
Die Woiwodschaft P. war mit einer Fläche von über 42.000 km², was etwa 11 % der Gesamtfläche des damaligen polnischen Staates entsprach, die größte Woiwodschaft des Landes. Wegen ihrer extrem dünnen Besiedlung (ca. 27 Einwohner/km²) hatte sie mit etwa 1,1 Mio. Einwohnern (1931) jedoch die wenigsten Einwohner aller 16 Woiwodschaften Zwischenkriegspolens. Die wichtigsten der 17 Städte der Woiwodschaft waren neben der damals rd. 50.000 Einwohner zählenden Hauptstadt Brześć nad Bugiem (heute weißruss. Brėst) und der zweitgrößten Stadt Pińsk (damals ca. 32.000 Einwohner, heute weißruss. Pinsk) die Städte Bereza Kartuska (heute weißruss. Bjaroza), Drohiczyn (heute weißruss. Drahičyn) und Kobryń (heute weißruss. Kobryn).
Die Woiwodschaft P. war im Hinblick auf die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung eine der inhomogensten Woiwodschaften des Landes. Entsprechend offizieller polnischer Darstellungen für das Jahr 1921 betrug der Anteil der Weißrussen rd. 43 % (höchster Anteil aller damaligen polnischen Woiwodschaften), danach folgten Polen (24 %), Ukrainer (18 %) und Juden (10 %). In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass sich über die Hälfte der Bevölkerung bei Befragungen für keine der oben genannten Nationalitäten entschied und sich als „Hiesige“ bzw. „Einheimische“ (poln. tutejsi) bezeichnete. V. a. der Anteil derjenigen Personen, die sich als Weißrussen bezeichneten, war gering. Die zumeist auf dem Land lebenden „Einheimischen“ werden im Polnischen auch als ›Poleszucy‹ („Polesier“) bezeichnet. Sie bedienten sich eines vornehmlich auf dem Weißrussischen basierenden slawischen Mischdialektes mit Einflüssen aus dem Polnischen, Russischen und Ukrainischen, des sog. Polesischen, das von einigen Sprachwissenschaftlern als eigenständige Sprache bezeichnet wird. Viele Befragte gaben als Muttersprache an, ›po prostemu‹ (poln., etwa „nach Art der einfachen Leute“) zu sprechen. Im Zuge der zunehmenden Polonisierung während der Zwischenkriegszeit stieg der Anteil polnischer Wörter innerhalb des Dialektes v. a. bei den Jugendlichen, da diese in polnischsprachigen Schulen unterrichtet wurden, was 1923/24 auch zu Schulboykotten führte. Zwischen 1921–31 wurden zudem ca. 40.000 Polen, meist Armeeangehörige, in der P. angesiedelt. In wirtschaftlicher Hinsicht gehörte die Woiwodschaft P. zu den rückständigsten Regionen des Landes, trotz staatlicher Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur und der landwirtschaftlichen Nutzfläche.
Im Einklang mit den Bestimmungen des Hitler-Stalin-Paktes marschierte die Rote Armee am 17.9.1939 in die polnischen Ostgebiete ein, was den Anschluss der Woiwodschaft P. an die BSSR bzw. USSR zur Folge hatte. In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde der Einmarsch mit der Notwendigkeit begründet, die dort lebende weißrussische und ukrainische Bevölkerung vor den deutschen Truppen zu schützen und von ihren polnischen Herren zu befreien. Bis zum Einmarsch der Wehrmacht 1941 kam es zu einer forcierten Sowjetisierung der westlichen Teile der P. In dieser Zeit wurden v. a. viele Polen ins Landesinnere der Sowjetunion deportiert. Während des Zweiten Weltkriegs verübten die deutschen Besatzer unvorstellbare Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung, sowjetischen Kriegsgefangenen und v. a. der jüdischen Bevölkerung.
Die P. lag wiederholt unmittelbar im Kampfgebiet und war aufgrund ihrer geographischen Gegebenheiten gleichzeitig ein Zentrum des Widerstandskampfes der polnischen „Heimatarmee“ (Armia Krajowa) und sowjetischer Partisaneneinheiten.
1945 anerkannte die Volksrepublik Polen die von den Alliierten festgelegte Grenzziehung, die im Wesentlichen der 1920 entworfenen sog. Curzon-Linie entsprach und für Polen den fast vollständigen Verlust der P. zur Folge hatte. Bereits im September 1944 schloss die polnische Seite (in Gestalt des „Polnischen Nationalen Befreiungskomitee“, Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego, PKWN) mit der Weißrussischen und der Ukrainischen SSR ein Repatriierungsabkommen über den Transfer der polnischen Bevölkerung aus diesen beiden Republiken nach Polen und der weißrussischen sowie ukrainischen Bevölkerung aus Polen in die Weißrussische bzw. Ukrainische SSR. Dieser nach Kriegsende durchgeführte „Bevölkerungsaustausch“ betraf insbesondere die P.-Region. Er verlief entgegen den getroffenen Vereinbarungen auch unter Anwendung von Zwang und Gewalt, erfolgte letztlich jedoch nicht vollständig, da v. a. die polnische Landbevölkerung von den ukrainischen und weißrussischen Behörden, die eine Entvölkerung der schwach besiedelten ländlichen Gebiete fürchteten, teilweise an der Ausreise gehindert wurde.
Polen bilden heute in der Ukraine und in Weißrussland die zweitgrößte Minderheit mit P. als einem der Siedlungsschwerpunkte, Ukrainer und Weißrussen in Polen die zahlenmäßig zweit- bzw. drittstärkste Minderheit. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 befindet sich die Region heute weitestgehend innerhalb der Grenzen der neu entstandenen unabhängigen Staaten Republik Weißrussland und Ukraine.
Die P. aus der Zeit der polnisch-litauischen Union und der polnischen Zwischenkriegszeit bildet einen v. a. in Literatur und Kunst manifesten Bestandteil der polnischen Kultur.