Kiewer Rus

Kiewer Rus

Während der Ausdruck ›Rusʹ‹ (russ.) als Bezeichnung einer Ethnie wie auch für einen Staat, der zwischen dem 10.–13. Jh. zwischen Volchov und Ladogasee im Norden und dem Dnjepr-Becken im Süden lag, von den Quellen gestützt wird, ist die Bezeichnung „Kiewer“ auf den Wunsch der Historiker des 18. Jh. zurückzuführen, in diesem einen Staat mit Kiew als Zentrum und Hauptstadt zu sehen. Ein solcher hat jedoch nie existiert. Die Besiedlung Kiews und des mittleren Dnjepr hat um ca. 900 durch aus dem Norden kommende Waräger bzw. ›Rusʹ‹ auf der Suche nach neuen Handelswegen zum Schwarzen Meer (unter Umgehung des Chasarenreiches und des Reiches der Wolgabulgaren) stattgefunden.

Kiew empfahl sich als Standort aufgrund seiner guten Ost-West-Verbindung und der Möglichkeit, von der Dnjeprmündung in 48 Stunden zu Schiff nach Byzanz gelangen zu können. Damit begann insofern eine neue Form der Besiedlung ostslawischer Gebiete durch die Waräger, als dass eine Rückkehr ins angestammte Gebiet von hier aus nicht mehr leicht möglich war. Im 10. Jh. intensivierten sich die Handelsbeziehungen der K. R. mit Byzanz, ebenso nahmen von hier ausgehende bewaffnete Überfälle auf Byzanz zu, und es kam zu ersten Ansätze einer Christianisierung des Gebietes und der herrschenden Elite in Person der Fürstin Olʹga.

Ihr Sohn Svjatoslav Igorevič konnte sich mit dem Steppenvolk der Petschenegen verbinden und strebte um 970 eine Verlegung des Herrschaftsgebietes in die Donauregion an, zu der es jedoch nicht kam. Auf Svjatoslavs Tod folgte ein Nachfolgekampf unter seinen Söhnen, den der in Novgorod als Fürst eingesetzte Vladimir Svjatoslavič mit warägischen Hilfstruppen, die er später zur Unterstützung Basileios' II. in den byzantinischen Erbfolgekrieg entsandte, gewann. Vladimir gelang es, in Kiew einen stabilen Fürstensitz zu errichten, nicht zuletzt unter Indienstnahme der Religion.

Etwa um das Jahr 988 nahm er für sich und sein Volk das Christentum byzantinischer Prägung an und konnte zum Dank für die entsandten Truppen die „purpurgeborene“ byzantinische Prinzessin Anna als Braut heimführen (Taufe der Rus). Deren Hofstaat bildete wohl den Grundstock für die Christianisierung der Rus, da dieser, wenn nicht einen Metropoliten, so sicher einen Bischof und Priester mitführte. Vladimir begann nicht nur mit dem Bau einer steinernen Kirche und eines repräsentativen Fürstensitzes in der Kiewer Oberstadt Vyšhorod, sondern auch mit dem Anlegen eines großen Walls und befestigter Ortschaften, um das Umland vor Einfällen der Steppenvölker zu schützen.

Nach Vladimirs Tod 1015 brach der bereits unter seinen Söhnen schwelende Bürgerkrieg vollends aus, der erst Anfang der 1020er Jahre beendet war, als die überlebenden Jaroslav Vladimirovič in Kiew und Mstislav Vladimirovič in Černihiv zu einer Politik der friedlichen Koexistenz fanden. Unter Jaroslav begann eine monarchistische Phase in Kiew, in deren 30jährigem Verlauf die Stadt zu einem Abbild Konstantinopels ausgebaut wurde und byzantinische Bautechniken sich in der gesamten Rus auszubreiten begannen. Der daraus resultierende Reichtum Kiews ebenso wie die Tatsache, dass sich dort der Metropolitensitz befand, haben wohl dazu beigetragen, dass die Stadt auch in der Jaroslavs Tod (1054) folgenden Phase ein begehrter Fürstensitz war, ohne dass jedoch der Titel Großfürst jemals an einen Kiewer Fürsten verliehen worden wäre.

Beherrschend für das 11. Jh. war die Bedrohung der Rus durch das Steppenvolk der Polovcer. Die zahlreichen sog. Fürstentage, deren prominenteste 1070 in Vyšhorod zur Versöhnung der Söhne Jaroslavs und der Kanonisierung des Brüderpaares Boris und Gleb und 1097 in Ljubeč stattfanden, waren Verhandlungen ganz nach Art der Steppenvölker: Sie wurden hoch zu Ross in freier Natur begangen und dienten sowohl der Einigung über Einflussbereiche als auch der Vereinigung der Truppen gegen die Polovcer. In dieser Zeit entwickelte sich die Idee von der Verwandtschaft aller Fürsten als von einem Vater (d. i. Vladimir Svjatoslavič) abstammende Brüder (russ. brat = Bruder/Cousin), die einander, dem Seniorat entsprechend, untertan sind und sich gemeinsam der äußeren Feinde erwehren. Der Kult um die beiden im Nachfolgekrieg 1015 ermordeten Söhne Vladimirs, Boris und Gleb, erfuhr deshalb ab 1070 besondere Förderung, ihre Ermordung durch ihren Halbbruder Svjatopolk Izjaslavič (oder Jaroslav Vladimirovič selbst?) wurde zum Märtyrertod stilisiert.

Eine letzte ruhige Periode erlebte das Kiewer Fürstentum unter Vladimir Vsevolodovič Monomach (1113–25), der mit der Verteilung der Fürstentümer an seine Söhne, die dort gleichsam als seine Stellvertreter regierten, die machtpolitischen Bedingungen für ein Ausweiten der Besiedelung der Rus schuf. In der seiner Herrschaft folgenden Zeit setzte sich der Prozess der Herausbildung unterschiedlicher Fürstentümer auf dem Gebiet der K. R. fort. Als Ende der K. R. gilt das Jahr 1242, als Kiew durch die Mongolen zerstört wurde.

Franklin S., Shepard J. 1996: The Emergence of Rus, 750–1200. London (=Longman History of Russia 1). Pritsak O., Shevchenko I. (ed.) 1988/89: Proceedings of the International Congress Commemorating the Millenium of Christianity in Rusʹ-Ukraine. Harvard Ukrainian Studies 12/13. Rüß H. 1987: Das Reich von Kiev. Hellmann M. (Hg.): Handbuch der Geschichte Rußlands Bd. 1, I. Stuttgart, 199–430.

(Cornelia Soldat)

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