Wolgabulgaren
Wolgabulgaren
Die W. (Bolgaren; auch Kama-Bulgaren genannt) waren ein Turkvolk, das im 10. Jh. an der mittleren Wolga und der Kama ein muslimisches Staatswesen hervorbrachte, das zu den größten frühmittelalterlichen Staatsgebilden in Osteuropa gehörte, bis es im 13. Jh. von den Mongolen eingenommen wurde. Dank der günstigen Lage an den Handelswegen, die die islamischen Länder mit Europa verbanden, erlangten die W. rasch ein hohes wirtschaftliches und kulturelles Niveau.
Die historische Entwicklung des wolgabulgarischen Reiches lässt sich in drei Epochen gliedern:
In der ersten Phase wanderten die W. nach dem Zerfall Großbulgariens Ende des 7. Jh. aus den Gebieten oberhalb des Schwarzen und Asowschen Meeres in die Wolga-Kama-Region ein. Dazu wurden sie wahrscheinlich durch kriegerische Konflikte mit den Chasaren veranlasst, unter deren Protektorat die W. bis zum 10. Jh. lebten und das ihre Herrscher u. a. verpflichtete, den chasarischen Khaganen jeweils einen Sohn als Geisel und eine Tochter als Braut zu überlassen. Die Expansion der Chasaren wird in der Forschung meist als Ursache für den Zerfall Großbulgariens gesehen. Aufgrund des Quellenmangels für das frühe 8. Jh. kann das tatsächliche Geschehen jedoch nicht rekonstruiert werden. Die W. stellten zusammen mit den verschiedenen Wolga-/Kama-Völkern und finno-ugrischsprachigen Stämmen in der Region die multiethnische Grundlage des wolgabulgarischen Staatswesens dar, das im Laufe des 9. Jh. als kulturelle und politische Einheit auf dem bis zum Uralvorland reichenden Territorium entstand. Die Handelskontakte mit der arabisch-persischen Welt festigten sich.
Eine wichtige Zäsur in der Geschichte der W. stellt die Annahme des Islam 922 dar, der einen engeren wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit den arabischen Ländern und eine allmähliche Abwendung von dem geschwächten jüdischen Chasarenreich ermöglichte. Das Jahr 922 bildet zugleich den Abschluss der sog. frühbulgarischen Epoche. Über den Wechsel von einer Naturreligion zum Islam unterrichtet uns Ibn Faḍlān in seinem Reisebericht. Arabische Aufzeichnungen nehmen ab dem 10. Jh. zu und sind neben den altrussischen Chroniken die Hauptquelle der wolgabulgarischen Geschichte. Aus ihnen geht hervor, wie mit dem Beginn der Münzprägung die Tauschwirtschaft langsam von der Geldwirtschaft abgelöst und die wolgabulgarischen Städte Suvar und Bulgar mit arabischen Geldanleihen zu wichtigen Handelszentren ausgebaut wurden. Insbesondere in der Hauptstadt Bulgar blühten Wissenschaft und Kultur. Der arabische Kalender setzte sich durch und arabische Texte gewannen Verbreitung. Wie allerdings archäologische Funde belegen, eroberte der Islam die religiöse Vorstellungswelt der W. nie vollständig. Auch lassen sie erkennen, dass die Rolle des Handels im Leben der W. nicht überschätzt werden sollte. Die W. betrieben ebenso Viehzucht, Landwirtschaft und verschiedene Handwerke.
In der zweiten, der sog. vormongolischen Epoche (10. bis frühes 13. Jh.) intensivierten sich die Handelskontakte zur Kiewer Rus, besonders nach der Zerschlagung des chasarischen Khaganats 965 durch den Kiewer Fürsten Svjatoslav I. Igoreʹvič, nach der die W. die staatliche Selbstständigkeit erlangten. Das zunächst friedliche Zusammenleben mit dem Kiewer Reich veränderte sich im 12. Jh. mit der Verlagerung der russischen Macht weiter nordöstlich nach Vladimir-Suzdalʹ, wodurch die Kiewer Geschäftsleute zu unmittelbaren Konkurrenten der W. im Wolga-Handel wurden. Überliefert sind die durch Überfälle auf Händler der Rus ausgelösten Feldzüge Kiewer Fürsten gegen die W. in den Jahren 1172 und 1184 (Belagerung der neuen wolgabulgarischen Hauptstadt Biljar), die spätestens mit dem ersten Viertel des 13. Jh. endeten. Bei der 1221 gegründeten Stadt Nischni Nowgorod handelte es sich jedoch wohl nicht um einen Vorposten der Rus im Kampf gegen die W., wie in der Forschung gelegentlich angenommen, da im selben Jahr ein Frieden zwischen den beiden Reichen abgeschlossen und 1229 vor dem Hintergrund der mongolischen Expansion verlängert wurde. Der Vorstoß des mongolischen Khans Batu 1236 leitete die Untergangsphase, die sog. mongolische Epoche, ein. Die W. spürten als erstes europäisches Volk die Stärke der Mongolen. Das wolgabulgarische Staatswesen blieb unter der Mongolenherrschaft zunächst als kulturelle und wirtschaftliche Einheit bestehen, auch die Städte bewahrten ihre Funktion als Handelszentren, wie Funde von Münzen aus dem 13. Jh. bestätigen.
Dem Assimilationsdruck und den Machtkämpfen innerhalb der Goldenen Horde konnten sich die W. jedoch nicht lange widersetzen. Ihr Reich zerfiel zunächst in zwei Fürstentümer, die um die Mitte des 14. Jh. gänzlich untergingen. Die W. verschmolzen mit anderen Turk- und Tatarenvölkern. Neuere linguistische Untersuchungen entdeckten eine Sprachverwandtschaft zwischen den W. und den heutigen Udmurten und Tschuwaschen. Daher können diese zwei Völker als weitläufige Abkömmlinge der W. angesehen werden.
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