Rus (Teilfürstentümer)

Fürstentümer der zerfallenden Kiewer Rus

Die Geschichte der Rus im 12. bis zur Festigung der Mongolenherrschaft am Ende des 13. Jh. wird in der westlichen Forschung als „Periode der Teilfürstentümer“, in der sowjetischen und z. T. noch in der postsowjetischen Forschung als „Periode der feudalen Zersplitterung“ (russ. period feodalʹnoj razdroblennosti) bezeichnet. Die sowjetische Bezeichnung ist größtenteils ideologisch begründet, denn verfassungsgeschichtlich gab es in der Rus keinen Feudalismus. Die losen Abhängigkeiten der Fürsten untereinander waren eher sozialen, d. h. familiären, und wirtschaftlichen Gründen geschuldet. Auch die Bezeichnung „Teilfürstentümer“ ist problematisch, da sie ein einheitsstiftendes Großfürstentum in Kiew impliziert, das es so jedoch nur kurze Zeit, am Anfang des 11. Jh., gegeben hat. Eine Einteilung der Rus in Großfürstentum und Teilfürstentümer kann zudem durch Quellen nicht belegt werden; der Titel Großfürst für den Fürsten von Kiew wurde erst von der Geschichtsschreibung des 18. und 19. Jh. eingeführt.

Die Regierung der Rus wurde zunächst durch Warägerfürsten, für die auch der Ausdruck ›Rusʹ‹ gebraucht wird, und ihre Gefolgschaft (russ. družina) ausgeübt. Deren Regierungstätigkeit bestand in erster Linie darin, Handelswege zu sichern, von Händlern Zölle einzutreiben und von den umliegenden Völkern Tribute einzufordern. Auch Beutezüge gehörten im 12. Jh. noch zum Tagesgeschehen, nahmen jedoch ab. Zur Sicherung der Handelswege gehörte auch die Befestigung oder der Neubau von Ortschaften, die weitere Besiedelung nach sich zogen. Die Gründung von warägischen Handelspunkten auf ostslawischem Gebiet begann im 9. Jh. mit Gorodišče beim heutigen Novgorod, setzte sich fort mit Kiew, Černihiv, Gnëzdovo, Pskov und Staraja Ladoga im 10. Jh., Perejaslavlʹ, Polack und Minsk im 11. Jh. sowie Halyč, Volodymyr-Volynsʹkyj, Smolensk und Vladimir an der Kljazʹma in Suzdalʹ im 12. Jh. Der altrussische Ausdruck für die Fürstentümer lautete „Land“ (strana). Ihre Enstehung verlief unterschiedlich.

Kiew war bereits im 11. Jh. ein zentraler Handelspunkt gewesen, und der Ausbau der Stadt unter Vladimir Svjatoslavič und Jaroslav Vladimirovič brachte ihr weiteres Prestige. Zusätzlich erwarben die Kiewer großen Reichtum durch den Handel mit Byzanz und die maßgeblich von byzantinischen Handwerkern im 11. Jh. aufgebauten Werkstätten für Emaille- und Glasarbeiten.

Černihiv wurde im Laufe des 12. Jh. zum größten Fürstentum in der südwestlichen Rus. Es hatte traditionell seit der Zeit Oleg Svjatoslavovičs am Ende des 11. Jh. gute Verbindungen zu den südlichen Steppenvölkern, die ihm im Kriegsfall als Hilfstruppen zur Verfügung standen. Die Handelsverbindungen dehnten sich bis nach London aus. Viele Fürsten von Černihiv waren gleichzeitig auch Fürsten von Kiew und regierten in Černihiv durch einen Woiwoden.

Smolensk, das alte Gnëzdovo, profitierte von den sich in der Nähe befindlichen Dnjepr-Stromschnellen, an denen die Boote der Händler vorbeigezogen werden mussten. Ab 1126 war es ein eigenständiger Fürstensitz und erhielt einen Bischofssitz.

Volodymyr-Volynsʹkyj und Halyč, das um 1140 Fürstensitz war, wurden wichtige Kontrollpunkte für den Pelzhandel mit Westeuropa, der vom Anfang des 12. Jh. an über Regensburg abgewickelt wurde. Zuvor hatten die Fürsten von Terebovlʹ und Zvenigorod diese Funktion inne. Galizien-Wolynien hatte v. a. im 13. Jh. bedeutende dynastische, wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen nach Westen. Sein Ansehen wird daran deutlich, dass die Fürsten hier wiederholt ihre Söhne als Regenten einsetzten.

Dem Fürstentum von Suzdalʹ, zu dem auch Vladimir an der Kljazʹma und Rostov Velikij gehörten, gelang durch Ausbau von Befestigungsanlagen ein beachtlicher Aufschwung des Handels. Ende des 12. Jh. zog v. a. Vladimir viele, zumeist byzantinische, jüdische und westeuropäische Händler an. Die politische und wirtschaftliche Macht Suzdalʹs war Mitte des 12. Jh. so gefestigt, dass der regierende Fürst Andrej Jurʹevič Bogoljubskij 1169 im Zuge einer der üblichen Machtstreitigkeiten Kiew angreifen und plündern ließ, jedoch dessen Fürstenthron nicht mehr beanspruchte, sondern seine Residenz in Bogoljubovo zu einem „Abbild des himmlischen Jerusalem“ ausbauen ließ. Nach 1173 mischten sich die Fürsten in der nördlichen Rus nicht mehr in die Rivalitäten um den Kiewer Fürstenthron ein.

Novgorod wurde etwa Mitte des 12. Jh. zu einem Haupthandelsstützpunkt für den Pelzhandel im Ostseeraum. Trotz einer relativ selbständigen Stadtregierung unter einem Erzbischof berief es immer wieder einen Fürsten. Diese und ihre Gefolgschaften regierten das Hinterland von den Städten aus, das durch Kriegszüge ständig ausgeweitet wurde.

Die Städte profitierten materiell von der Einsetzung eines Fürsten, der Schutz im Kriegsfalle bot und einen Teil der von ihm eingetriebenen Tribute und Zölle an Ort und Stelle für den Aufbau seiner Residenz ausgab. Mit den Fürsten siedelten sich auch Handwerker wie Steinmetze, Maler usw. in den Orten an, normalerweise auch ein Bischof und mit ihm das Christentum. Die Zunahme der Fürstentümer im 12. und 13. Jh. ist zunächst ein Kennzeichen für die wachsende Besiedelung des Landes durch Waräger bzw. deren assimilierte Nachkommen. Im Unterschied zum 11. Jh., verteilten sich im 12. und 13. Jh. mehr und mehr Fürsten in immer kürzeren Abständen auf eine wachsende Zahl von Fürstensitzen. Dieser Umstand deutet auf eine sehr dynamische soziale und politische Entwicklung hin, die mit ihrer Siedlungsverdichtung und den zahlreichen Residenzen mehr einem Landesausbau als Zerfall und „Zersplitterung“ entspricht, die auch in der Eigenwahrnehmung der Rus nicht erkennbar sind. Die Quellen kennen im Gegenteil drei wesentliche gemeinsame Merkmale der Rus: die Verwandtschaft der Fürsten, die sich z. B. im Kult der Brüder Boris und Gleb ausdrückte; die gemeinsame slawische Sprache, in der geschrieben wurde, und den Glauben der „Griechen“, der durch die „Ausschmückung“ der Residenzorte mit Bischofssitzen immer weiter in die Umlande getragen wurde, so dass am Ende des 12. Jh. die Rus vollständig christianisiert war. Diese drei Merkmale sind es auch, die die Kontinuität von der Kiewer zur Moskowiter Periode in der Geschichte der Rus ausmachen, die, wenn nicht als staatlich, so doch als protonational bezeichnen werden kann.

Dimnik M. 1981: Mikhail, Prince of Chernigov and Grand Prince of Kiev, 1224–1246. Toronto (=Studies and Texts. Pontifical Institute of Medieval Studies 52). Ders. 1994: The Dynasty of Chernigov, 1054–1146. Toronto. Fennell J. 1983: The Crisis of Medieval Russia 1200-1304. London (=Longman History of Russia 2). Franklin S., Shepard J. 1996: The Emergence of Rus, 750–1200. London (=Longman History of Russia 1).

(Cornelia Soldat)

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