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int(127) Novgorod Velikij - EEO

Novgorod Velikij

Novgorod Velikij (russ., „Groß-Novgorod“, hist. Novgorod, altnord. Holmgarðr).

Im 10. und 11. Jh. umfasste das N.er Machtgebiet den Kernraum des slawischen Siedlungsgebietes im Ilmenseebecken sowie das Pskover Land. Zur Mitte des 12. Jh. erreichte das Herrschaftsgebiet die Gegend zwischen dem Ladogasee und dem Onegasee sowie Narva und die Newa. Die Expansion setzte sich in Richtung karelische Weißmeerküste und Zavoločʹe („Land jenseits der Wasserscheide“, zwischen Finnischem Meerbusen und Weißem Meer, v. a. an Vaga und Nördlicher Dwina) fort. Grenzorte nach Südosten waren Novyj Torg (heute Toržok) und Velikie Luki. Der N.er Vielvölkerstadtstaat herrschte damit insbesondere auch über die finnougrischen Woten, Ingrier und Karelier.

Seit der Mitte des 8. Jh. trafen skandinavische Kriegerhändler auch nördlich des Ilmensees auf eine lockere balto-slawische bzw. finno-slawische Besiedlung. Bis ins 10. Jh. entstand auf einem Hügel am rechten Volchovufer ein vorstädtischer Handels- und Gewerbeplatz mit dem altnordischen Namen Holmgarðr, dem späteren Gorodišče-Hügel. Von der Mitte des 10. bis zur Mitte des 11. Jh. verlagerte sich die Siedlung mit der Zunahme der slawischen Bevölkerung in einer frühstädtischen Entwicklung auf nahe gelegene Hügel zu beiden Seiten des Volchov. Mit dem Aufstieg Kiews zum wichtigsten Machtzentrum der Rus Ende des 10. Jh. wurde die N.er Bevölkerung orthodox getauft, trotz ihrer starken Beziehungen zum Ostseeraum und zu Skandinavien. 1044 entstand zwischen den neuen Siedlungskernen auf dem linken Ufer die „neue Burg“ (Novgorod) mit der 1045–50 nach dem Kiewer Vorbild errichteten Sophien-Kathedrale (Sofijskij Sobor) im Zentrum. In der Burg (detinec) lebten der Fürst (knjazʹ), seine Kriegsleute, Handwerker sowie warägische und ostslawische Kaufleute.

Seit 882 war der Stützpunkt der Waräger laut der „Erzählung von den vergangenen Jahren“ (›Pověstʹ vrěmennych lět‹, auch: Nestorchronik) durch Oleg mit Kiew vereinigt. Dennoch konnten die Kiewer Fürsten ihre Macht über N. nicht dauerhaft halten. Nach zwei Erhebungen der N. er (1132 und 1136) war die Herrschaft der Kiewer Fürsten über N. nurmehr indirekt. Der N.er Fürst musste die Burg in der Stadt verlassen und sich in dem 3 km außerhalb N.s gelegenen Fürstenhof Gorodišče niederlassen. Er verlor mehrere Anrechte. Die N.er besetzten nun das Amt des fürstlichen Statthalters (posadnik) selbst, seit 1136 wurde dieser von der Volksversammlung (veče) gewählt. Von 1156 an wählten die Städter auch ihren Bischof. 1165 wurde N. zum Erzbischofssitz (Metropolitie). Zu Ende des 12. Jh. büßten die Fürsten ihre Gerichtsbefugnisse ein. Insbesondere bei der Aushandlung von Friedensschlüssen konnten sich die N.er ihre herrschaftspolitischen Vorstellungen sichern. Von 1264 an bis zur Eroberung durch Moskau sind schriftliche Herrschaftsverträge der N.er mit ihrem jeweiligen Fürsten erhalten. Die im 15. Jh. fixierte N.er Gerichtsurkunde (sudnaja gramota) gilt als eigenständige Form eines Stadtrechts. Die Stadt gliederte sich in fünf Quartiere mit je eigener Volksversammlung, einem gewähltem Amtsmann (Posadnik) sowie eigenem Siegel. Seit spätestens 1185 kontrollierte der gewählte Tausendschaftsführer das städtische Aufgebot.

Die Bevölkerung differenzierte sich in soziale Großgruppen: Bojaren (bojare), begüterte Leute (žitʹi ljudi), Kaufleute (kupcy), sowie die Maße der freien Handwerker, Lohnarbeiter und Ackerbauern, die Schwarzen Leute (černye ljudi). Diese Gruppen verfestigten sich nicht zu korporativen Ständen, obschon sich etwa die Kaufleute in gildeähnlichen Bruderschaften organisierten.

N. verdankte das vor- und frühstädtisches Wachstum seiner Funktion als Fernhandelsplatz skandinavischer Kriegerhändler auf dem Weg von Skandinavien
Tausendjahrmonument
über die Wolga oder den Dnjepr zum Nahen Osten. Seine Entwicklung zur Stadt im Sinne eines multifunktionalen Zentralortes im 11. und 12. Jh. war aber nicht ohne die regionale ostslawische Siedlungsverdichtung sowie seinem wachsenden Gewicht als Nahhandelsort denkbar. Zu Ende des 11. Jh. ist der Gotenhof (altruss. Gotskij dvor) belegt, in dem sich deutsche und skandinavische Kaufleute aufhielten. Der „Deutscher Hof“ (altruss. Něměčʹkij dvor, auch: „St. Peterhof“) genannte Handelshof (später Hansekontor) in N. wird auf 1192 datiert. Er entstand gleichzeitig mit dem Abklingen des Sklavenexportes in den Nahen Osten und der stärkeren Westorientierung des Fernhandels. Der Hof besaß eine eigene Gerichtsbarkeit und ein eigenes Recht (skra). Er war aber insofern mit der Hanse verbunden, als er in letzter Instanz dem Gericht der Oldermänner Gotlands, Lübecks sowie anfangs auch Soests und Dortmunds unterstand.

N. spielte seit dem 12. Jh. eine eigene machtpolitische Rolle in der Rus. Der Sieg des Fürsten von Novgorod sowie von Vladimir-Suzdalʹ, Aleksandr Nevskij, auf dem gefrorenen Peipus-See verhinderte 1242 das Vorrücken der deutschen Ordensritter wie auch der Schweden. Solange Tverʹ bis 1375 gegenüber Moskau ein Gegengewicht darstellte, konnte N. auch bei der Berufung seines Großfürsten aus einer der beiden Linien Rivalitäten zwischen beiden für eigene Zwecke nutzen. Von 1392/93 an nannten die Städter ihren Herrschaftsverband ›Velikij N.‹. Mit dem Titel „Herr Groß-N.“ (Gospodin Velikij Novgorod) trat die Gesamtheit dem Moskauer Großfürsten im 15. Jh. noch selbstbewusster entgegen. Erst 1470/71 und damit zu spät lehnte sich Velikij N. an das mit Polen verbundene Großfürstentum Litauen an: 1478 wurde die Stadt in das aufsteigende Moskauer Staatswesen eingegliedert.

Die N.er hatten bis zu diesem Zeitpunkt eine politische Kultur entwickelt, die in der Reihe der restlichen ostslawischen Städte – abgesehen von jenen im Großfürstentum Litauen – nur mit derjenigen Pskovs vergleichbar ist. N. war nach der Mitte des 14. Jh. der Sammelpunkt häretischer Gemeinschaften wie der Strigolʹniki („Geschorene“), sowie zu Ende des 15. Jh. der Judaisierenden.

In den 1480er Jahren wurde die N.er Oberschicht in die Moskauer Rus verschleppt, 1494 der St. Peterhof geschlossen. Die Stadt hatte ihre Sonderstellung, die in der russischen Historiographie der zweiten Hälfte des 19. Jh. als „beschränkte Monarchie“ erinnert wurde, verloren.

Angermann N. 2002: Novgorod. Markt und Kontor der Hanse (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte N. F. 53). Köln. Goehrke C. 1981: Groß-Novgorod und Pskov/Pleskau. Hellmann M., Schramm G., Zernack K. (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 1, I., 431–483, Stuttgart. Leuschner J. 1979: Novgorod. Untersuchungen zu einigen Fragen seiner Verfassungs- und Bevölkerungsstruktur. Giessen (= Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen 1, Bd. 107). Mühle E. 1991: Die städtischen Handelszentren der nordwestlichen Rus’. Anfänge und frühe Entwicklung altrussischer Städte (bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts) (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; 32). Stuttgart. Rohdewald S. 2002: „i stvorista mir“. Friede als Kommunikationselement in der Rus’ (10.–12. Jahrhundert) und im spätmittelalterlichen Novgorod. Boškovska N., Collmer P., Gilly S., Mumenthaler R.; von Werdt C. (Hg.): Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas. Carsten Goehrke zum 65. Geburtstag. Köln, 147–173.

(Stefan Rohdewald)

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