Moskauer Rus

Moskauer Rus (russ. moskovskaja Rusʹ) ist eine historiographische Hilfsbezeichnung für das russische Staatswesen vom 15. bis Anfang des 18. Jh. In russischen Quellen findet sich häufig der Begriff ›moskovskoe gosudarstvo‹ (Moskauer Reich, altertümlich: Moskowien, engl. Muscovy, latein. Moscovia). Der Begriff dient zur Abgrenzung von der (Kiewer) Rus, sowie von anderen Fürstentümern, die sich aus dem Kiewer Reichsverband heraus verselbständigt hatten und sich ebenfalls als Erbe der Rus verstanden.

Trotzdem blieb das Bewusstsein einer Zusammengehörigkeit auch in der Zeit der Teilfürstentümer erhalten. Diese Einheit wurde durch den Metropoliten „von Kiew und der ganzen Rus“ verkörpert, der allerdings seinen Sitz 1299 nach Vladimir und 1326 nach Moskau verlegte.

Der Aufstieg Moskaus von einem kleinen Teilfürstentum zur beherrschenden Macht im Nordosten der Rus war eng mit dem Großfürstentitel verbunden, den Dmitrij Donskoj 1375 endgültig für die Moskauer Fürsten sichern konnte und der dadurch aufgewertet war, dass er vom mongolischen Khan in einer besonderen Urkunde (jarlyk) verliehen wurde und später auch mit der Aufgabe verbunden war, von den anderen Fürsten Tribute einzutreiben.

Ivan I., gen. Kalita, bezeichnete sich schon bald nach seiner Ernennung (1328) als „Großfürst der ganzen Rus“ (altkirchenslaw. velikij knjazʹ vsea Rusi). Obwohl dieser Titel in der offiziellen Urkundensprache bis in das 17. Jh. mit der Stadt Vladimir verbunden blieb, wurde im allgemeinen Verständnis das Reich mit Moskau in Verbindung gebracht.

Dies hing mit dem Titel des Metropoliten zusammen, der sich ab 1458 als „Metropolit von Moskau und der ganzen Rus“ (Mitropolit Moskovskij i vseja Rusi) verstand, um sich von dem in Litauen eingesetzten „Metropoliten von Kiew und der ganzen Rus“ (Mitropolit Kievskij i vseja Rusi) abzugrenzen. Im Titel des Großfürsten bzw. ab 1547 Zaren findet sich ebenfalls der Zusatz „und der ganzen Rus“, der nun jedoch dem Epitheton „Herrscher“ bzw. ab 1589 „Autokrator“ zugeordnet wurde (gosudar’ i samoderžec vseja Rusi).

Aus historiographischer Sicht beginnt die Geschichte der M. mit der Herrschaft Ivans III. (1462–1505). In seine Regierungszeit fallen die Abschüttelung des „Tatarenjochs“ (der Mongolenherrschaft) 1480 und der Gewinn der Souveränität, die weitgehende Vollendung der „Sammlung des russischen Landes“ (sobiranie russkoj zemli) sowie die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit westeuropäischen Ländern. Dies machte bereits den Anspruch auf eine Vorherrschaft in Osteuropa erkennbar. Die Zeit Peters I. d. Gr. (1682/89–1725) markiert den Endpunkt der M., was durch die Verlegung des Regierungssitzes nach St. Petersburg sinnfällig wurde.

Die innere Entwicklung wurde durch die Herausbildung und Festigung der Moskauer Autokratie bestimmt. Der Herrscher verstand das Land als sein „Vatererbe“ ([v]otčina), der Adel besaß keine privilegierten Mitbestimmungsrechte, Stände im westeuropäischen Sinne fehlten ganz. 1547 ließ sich Ivan IV. gen. Goznyj („der Schreckliche“) zum ersten Zaren krönen, 1589 nahm sein Sohn Fëdor im Zusammenhang mit der Einrichtung des Moskauer Patriarchats den Zusatz „Autokrator“ (samoderžec) in die offizielle Titulatur auf. Im Laufe des 17. Jh. wurde die Autokratie durch Elemente überlagert, die Analogien zum westlichen Absolutismus aufwiesen: Aufbau einer zentralen Verwaltung durch Ämter (prikaze), Entstehen bürokratischer Strukturen, Schaffung eines stehenden Heeres, Ansätze zum Merkantilismus und Unterordnung der Kirche unter den Staat (1721).

Die soziale Entwicklung führte v. a. seit Ivan Groznyj zur Entmachtung der Bojaren („Opričnina“) und zur vermehrten Verteilung von Land an Dienstadelige, deren Stellung sich dadurch erheblich stärkte. Obwohl dieser Landbesitz ursprünglich an den Dienst gekoppelt war, wurde seit Mitte des 16. Jh. das Dienstgut wegen des Mangels an Ackerland – der umfangreiche kirchliche Landbesitz wurde erst 1762/64 säkularisiert – allmählich dem Erbgut gleichgestellt. Ein großes Problem stellten zudem die „Läuflinge“ dar: Bauern auf den Gütern nutzten die Abwesenheit des Dienstadels zur Flucht. Schon das Gesetzbuch ›Sudebnik‹ von 1497 begrenzte das Recht der Bauern zum freien Fortzug auf die Tage um den St.-Georgstag (26.11.), seit 1581 wurden jedoch vermehrt „Verbotsjahre“ eingeführt, in denen ein Abzug untersagt war. Das Gesetzbuch ›Uloženie‹ von 1649 hob das Abzugsrecht der Bauern ganz auf und band sie an die Scholle, was faktisch die Leibeigenschaft bedeutete. Wirtschaftlich wurde die M. seit Mitte des 16. Jh. vermehrt in den internationalen Handel (Gründung der englischen Handelskompanie ›Muscovy Company‹ 1555) eingebunden. Hauptträger waren v. a. Fernhändler aus Westeuropa und dem Nahen und Mittleren Osten. Im 17. Jh. entstanden die ersten Manufakturen (v.a. Metallverarbeitung, Pulverfabriken, Glas-, Papier- und Textilherstellung. Auf kulturellem Gebiet machte sich zwar in der Architektur, Ikonenmalerei und Musik schon zu Beginn des 16. Jh. ein westlicher Einfluss bemerkbar, das Geistesleben stagnierte jedoch aufgrund der von der Kirche aus Furcht vor Häresien auferlegten Isolation. Institutionalisierte Schulen bestanden bis 1682 nicht, Lese-, Schreib- und Fremdsprachenkenntnisse blieben auf Wenige begrenzt. Erst die Wiederannährung an die orthodoxe Universalkirche ermöglichte in der zweiten Hälfte des 17. Jh. ein allmähliches Eindringen von westlichem Gedankengut.

Marksteine der außenpolitischen Entwicklung waren die Eroberung der Khanate von Kasan und Astrachan, die Erschließung Sibiriens sowie das Ringen mit Schweden und Polen-Litauen um die Vorherrschaft in Osteuropa. Der von Ivan IV. initiierte Livländische oder Erste Nordische Krieg (1558–83) führte zu einem desaströsen Rückschlag, dem – nach dem Aussterben der Rjurikidendynastie (1598) – in der „Zeit der Wirren“ (Smuta) von 1598–1613 die zeitweilige Besetzung der M. durch polnisch-litauische und schwedische Truppen und soziale Unruhen folgten. Im Zweiten Nordischen Krieg (1654–67) konnte Zar Aleksej Michajlovič jedoch den Erwerb der ukrainischen Gebiete östlich des Dnjepr einschließlich Kiews sowie Weißrusslands verteidigen. In dieser Zeit kam der Begriff „Russland“ (Rossija) in Gebrauch. Erst der Große oder auch Dritte Nordische Krieg (1700–21) führte mit dem Erwerb Livlands, Estlands und Ingermanlands zu einem dauerhaften Zugang zur Ostsee und deklassierte die alten Hegemonialmächte Schweden und Polen-Litauen. Gegenüber dem nach Westeuropa expandierenden Osmanischen Reich verhielt sich die M. lange Zeit zurückhaltend, erst 1686 ließ sie sich in die „Heilige Liga“ einbinden. Die Tragweite dieses Kurswechsels zeigte sich in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jh., als die „orientalische Frage“ zum Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Großmächten wurde.

Hellmann M. 1981: Zum Problem der Geschichte Russlands im Mittelalter. Hellmann M., Zernack K., Schramm G. (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands, I.1. Stuttgart, 1–7. Zernack K. 1986: Zum Problem der Geschichte Russlands in der Frühen Neuzeit. Hellmann M., Zernack K., Schramm G. (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands, II.1. Stuttgart, 1–7. Torke H.-J. 1997: Einführung in die Geschichte Russlands. München. Crummey R. O. 1987: The Formation of Muscovy, 1304–1613. London.

(Wolfram von Scheliha)


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