Weißes Meer

Weißes Meer (karel. Vienan meri, nenz. Sėrako jamʹ, russ. Beloe more)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Das W. M. ist ein vom Land fast völlig eingeschlossenes Randmeer des Nordpolarmeeres, nördlich und östlich durch die Halbinsel Kola und durch die Meerenge Gorlo mit der nördlich gelegenen Barentssee verbunden. Die Grenze zwischen beiden Meeren verläuft zwischen Kap Kanin Nos und Kap Svjatoj Nos. Die Küste wird durch die großen Buchten um Kandalakša (Kandalakšskij zaliv), Onega (karel. Äänislahi, russ. Onežskaja guba), Nördliche Dwina (Dvinskaja guba) und Mezenʹ (Mezenskaja guba) bestimmt.

An der Nordwestküste dominieren steile Klippen, an der Südostküste flache Ebenen. Die Wasserfläche beträgt rd. 90.000 km², die durchschnittliche Meerestiefe 70 m (in der Kandalakša-Bucht bis 350 m) und der Salzgehalt 27,5–34,5 ‰.

Größere Zuflüsse sind neben der Nördlichen Dwina, die Flüsse Mezenʹ, Onega, Vyg, Newa, Umba, Varzuga und Ponoj. Über die Nördliche Dwina bestehen Kanalverbindungen via Onegasee zur Ostsee (Weißmeer-Ostsee-Kanal) und via Wolga ins Kaspische, Asowsche und Schwarze Meer.

Das W. M. ist von Oktober/November bis Mai/Juni von Eis bedeckt. Die Vereisung setzt von Norden bzw. Nordosten her ein und breitet sich in das Weiße Meer hinein aus. Der Norden ist Teil der atlantischen, der Süden Teil der atlantisch-arktischen Klimazone. Die mittleren Temperaturen belaufen sich im Januar auf –8 bis –16 °C; Tiefsttemperatur bis –45 °C können erreicht werden. Die mittlere Temperatur im Juli erreicht je nach Region 8 bis 16 °C, die Höchsttemperatur liegt bei +25°C. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge beträgt 400–500 mm. Die Wassertemperatur beträgt in den obere Schichten im Sommer bis zu 15 °C, in den tieferen Schichten und allgemein im Winter durchschnittlich um –1,5 °C.

Die Meeresfauna besteht aus Flagellaten, Zooplankton, Fischen (rd. 30 Arten, v. a. Dorsche, Schellfische, Heringe) und Robben (rd. 30 Arten). Im Küstenland finden sich Kaninchen, Eichhörnchen, Marder, Füchse, Wildschweine, Wölfe, Bären, Elche, Rentiere und Moorhühner. Es existieren rund 180 Arten von Vögeln sowie ca. 20 Arten von Süßwasserfischen (darunter hauptsächlich Flussbarsche). Die Flora weist über 1000 verschiedene Arten auf, darunter hauptsächlich Flechten, Moose, Beeren, Pilze, Kräuter und verschiedene Baumarten (v.a. Lärchen, Fichten, Kiefern, Birken). Die Einleitung von Industrieabwässern in das Meer, Gezeiten- und Atomkraftwerke, eine starke Ölverschmutzung, die Überfischung und eine hohe Radioaktivität der Meeresgewässer gefährden das ökologische Gleichgewicht erheblich und bedrohen die Lebensgrundlage von Pflanzen, Tieren und Menschen.

Die größten Inseln sind die zu den „Solovecker-Inseln“ gehörende „Große Solovecker Insel“ (Bolʹšoj Soloveckij ostrov, 246 km²) am Eingang der Onegabucht, die Insel Moržovec (110 km²) am Eingang zur Meerenge Gorlo und Mudʹjuga (Fläche?) am Eingang der Bucht der Nördlichen Dwina.
Die bedeutendsten Häfen sind Archangelsk, Belomorsk (karel. Sorokka), Onega, Mezenʹ, Kemʹ (karel. Kemi), Kandalakša und Umba. Wichtigster Wirtschaftsfaktor ist die Holzindustrie an den Küsten und im Hinterland. Das W. M. stellt als Schifffahrtsweg das zentrale Bindeglied zwischen der nordwestlichen und der fernöstlichen Wirtschaftsregion Russlands dar.

Anfang

2 Kulturgeschichte

Die frühgeschichtliche Lebenswelt der Weißmeerküste prägten nomadische und halbnomadische Jäger, Hirten und Händler, die dieses Gebiet auf der Suche nach Pelzen, Salz und Waldprodukten durchstreiften. Als Ureinwohner sind die Nenzen die wichtigste nachweisbare Bevölkerungsgruppe. Die ersten Kolonisten, ›Pomorcy‹ („Pomoren“ – „Küstenleute“) genannt, stammten Novgoroder Chroniken (13.–15. Jh.) wie ›Novgorodskaja Pervaja Letopisʹ‹ (Erste Novgoroder Chronik) zufolge aus dem Herrschaftsbereich der Novgoroder Stadtrepublik. Sie erreichten im 12. Jh. das sog. „Tersker-Land“, einen Landstrich an der Küste des W. M. („Ter-Küste“, Terskij bereg) und gründeten dort die ersten Siedlungen. Die Novgoroder Expansion begünstigte die allmähliche Unterwerfung der nichtrussischen Bevölkerung (Karelier, Nenzen u. a.) und die Etablierung der ostslawischen Kirche.

Mönche des im 12. Jh. gegründeten karelischen Valaam-Klosters am Ladogasee errichteten 1436 auf den „Solovecker Inseln“ das sog. Solovecker Kloster. Mit dem rasch anwachsenden Landbesitz des Klosters verbreiteten sich Landwirtschaft, Gewerbe (Salzsiederei) und Handel an den Küsten des W. M. Mit der Unterwerfung Novgorod Velikijs (1478) und Pskovs (1510) brachte das Großfürstentum Moskau schließlich auch die Weißmeerregion unter seine Herrschaft.

Auf der Suche nach einer nördlichen Handelsroute gelangten 1553 englische Handelsschiffe ins W. M. und etablierten über die ›Moscovy-Company‹ ca. ein Jahrhundert anhaltende Handelsbeziehungen mit Moskau.

Gleichzeitig verstärkte Ivan IV. seine Integrationspolitik gegenüber dem Weißmeergebiet. Die zivile und militärische Oberaufsicht über den Norden der Moskauer Rus oblag seit 1582 einem zarischen Statthalter (Woiwode) mit Sitz in Kola. Die 1584 gegründete Stadt Novye Cholmogory (seit 1613: Archangelsk) entwickelte sich zum Hauptumschlagplatz der Moskauer zunächst mit den englischen, bald aber auch schottischen, flämischen und niederländischen Kaufleuten. Pelze, Wachs, Holz, Teer, Hanf, Fisch und Salz waren die wichtigsten Handelsgüter. Neben Archangelsk entstanden im 16. Jh. zahlreiche unbefestigte Handelsorte (pogosti) entlang der großen Wasserwege (der Nördlichen Dwina und der Küsten des Nordpolarmeers). Ihnen verdankten russische Großkaufleute wie die Stroganovs einen raschen Aufstieg.

Die wirtschaftliche Entwicklung des Weißmeergebietes wurde zum Pull-Faktor für Bauern, die den stetig steigenden Steuern, Abgaben und Dienstverpflichtungen gegenüber dem Moskauer Staat und Adel zu entkommen hofften („Läuflinge“). Sie lebten hier von der Salzgewinnung und vom Salzhandel.

Unter ihnen befanden sich zahlreiche, im Zuge der russischen Kirchenspaltung (raskolʹ, 1666/67) vertriebene Glaubensflüchtlinge, die u. a. während einer mehrjährigen Belagerung des „Solovecker-Klosters“ durch Moskauer Truppen (1668–76) heftigen Widerstand gegen die Integrationspolitik des Moskauer Großfürsten leisteten.

Neben den innerrussischen Auseinandersetzungen führte die Handelspolitik zu erheblichen zwischenstaatlichen Konflikten, in deren Folge zahlreiche Klöster und Handelsplätze im und am W. M. im 17. Jh. zu Festungen ausgebaut wurden. Mit der Verlegung der Hauptstadt Russlands nach St. Petersburg 1712 rückte das Weißmeergebiet näher an das Reichszentrum heran. 1693 schuf Peter I. das Gouvernement Archangelsk, das jedoch noch bis ins 18. Jh. Peripherie blieb.

Das 18. und 19. Jh. brachten neben der allgemeinen Integrationspolitik St. Petersburgs v. a. eine Verbesserung der Infrastruktur und den Aufschwung des russisch-norwegischen Küstenhandels. Der Ausbau von Kanälen und Straßen, besonders aber der gegen Ende des 19. Jh. energisch vorangetriebene Eisenbahnbau (Verbindung St. Petersburg-Archangelsk, Murmanbahn) ermöglichte eine effektivere inner- und interregionale Zusammenführung von Produktions- und Absatzzentren. Im russischen Bürgerkrieg (1918–20) wurde das Weißmeergebiet zu einer wichtigen militärischen Operationsbasis für „weiße“ russische und ausländische Truppen und Archangelsk Sitz einer provisorischen antibolschewistischen Regierung. Massive Rüstungen und der weitere Ausbau der Infrastruktur in der Zwischenkriegszeit sollten die sowjetische Nordflanke künftig gegen westliche Interventionen sichern und die Eroberung der arktischen Gewässer ermöglichen. Tatsächlich bildete die Weißmeerküste eine wichtige Nachschub- und Versorgungsbasis für alliierte Rüstungsgüter im Zweiten Weltkrieg.

Ab den 1930er Jahren wurde die Weißmeerregion zum Ausgangs- und Endpunkt zahlreicher ziviler und militärischer Expeditionen und Transporte durch die „Nordostpassage“ zum Nordpol und in den Nordatlantik. In der Sowjetperiode existierten die Industriebetriebe wie Eisenverhüttung aus zarischer Zeit fort, durch die Erschließung neuer Bodenschätze kamen weitere Zentren der Aluminium-, Apatit- und Nickelverarbeitung hinzu. Folge der ab den 1930er Jahren extensivierten sowjetischen Industriepolitik waren zahlreiche Bevölkerungsverschiebungen, Deportationen aus und in den Norden sowie – ausgehend von den „Solovecker-Inseln“ – der Aufbau eines GULag-Systems.

Der Zusammenbruch des Sowjetsystems wirkte sich in der Weißmeerregion vor allem ökonomisch und militärisch aus. Zahlreiche Betriebe sind im Weltvergleich nicht konkurrenzfähig oder aufgelöst worden. Dies hat zu einem massiven Anstieg der verdeckten (ausbleibender Lohn) oder offenen Arbeitslosigkeit geführt. Die militärischen Einrichtungen im Norden (v. a. Marinestützpunkte) können nur mühsam unterhalten werden und sind nach europäischen Maßstäben größtenteils veraltet. Diese Probleme können von der Moskauer Regierung momentan kaum gelöst werden. Eine Chance bietet jedoch die seit 1993 bestehende Kooperation der Region mit den nördlichen Regionen der Nachbarstaaten innerhalb der Barents Euro-Arctic Region.

Belov M. I. 1956-1969: Istorija otkrytija i osvoenija severnogo morskogo puti. Moskva. Armstrong T. E. 1965: Russian Settlement in the North. Cambridge. Brigham L. W. 1991 (Hg.): The Soviet Maritime Arctic. London. Vakhtin N. 1992: Native Peoples of the Russian Far North. London. Kauppala P. 1998: The Russian North. The Rise, Evolution and Current Condition of State Settlement Policy. Helsinki.

(Ralph Tuchtenhagen)

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