Polack (Stadt)

Polack (weißruss., russ. Polock; litau. hist. Polockas, poln. hist. Połock).

Die Bezirkshauptstadt P. liegt im Gebiet Vicebsk am Zusammenfluss der westlichen Düna mit dem Fluss Polata, ca. 100 km nordwestlich der Stadt Vicebsk. 2004 betrug die Einwohnerzahl 82.400. Bedeutsam ist P. v. a. als Verkehrsknotenpunkt zwischen Weißrussland und dem Baltikum.

Kulturgeschichte

P. wird bereits in der sog. Nestorchronik aus dem 11. Jh. unter dem Jahr 864 als Siedlungsmittelpunkt des Stammes der „Polotschanen“ erwähnt. Schon für diese Zeit sind die Anfänge einer Stadtentwicklung mit doppelter Funktion als Herrschafts- und Handelszentrum anzunehmen. Nach der Gründung als Umschlagplatz zwischen See- und Binnenhandel am Fernhandelsweg von Riga über Kiew zum Schwarzen Meer, errichteten bereits warägische Fürsten hier eine Burg. Auf die Eroberung durch die „Rjurikiden“ Mitte des 9. Jh. folgten sowohl die Stärkung der Handelsfunktion durch eine zunehmende sozialökonomische Differenzierung der Einwohnerschaft als auch ein Ausbau der Herrschaftsfunktion bis zur Etablierung eines unabhängigen Fürstentums P. im 11. Jh. Die Entwicklung zu einem der führenden Teilfürstentümer wird auch durch den Bau der Sophienkathedrale 1044–66 bestätigt.

Bis zur endgültigen Inbesitznahme durch die litauischen Großfürsten nach 1307 zeigte die Stadtentwicklung ambivalente Tendenzen: dem Aufschwung des Handels und der Weiterentwicklung der städtischen Selbstverwaltungsorgane standen wiederholte Eroberungen aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen gegenüber. In der Blütezeit des unabhängigen Fürstentums P. zwischen dem 10. und 12. Jh. hat die aufkommende weißrussische Nationalgeschichtsschreibung des späten 19. Jh. den Keim einer selbständigen weißrussischen Nation gesehen und dieses Kontaktgebiet verschiedener Ethnien damit einseitig für eine von Moskau unabhängige ostslawische Herrschaftsbildung vereinnahmt. Infolge der Konsolidierung der litauischen Herrschaft nach 1385 verlor P. allmählich seine Stellung als Teilfürstentum, eine Entwicklung, die um 1396 mit der Einsetzung eines Statthalters abgeschlossen war. Als gesellschaftliche Gruppen sind in dieser Zeit v. a. der Adel, eine diesem weitgehend gleichgestellte Bürgerelite, und die „schwarzen Leute“ (russ. čërnye ljudi), abgabepflichtige Städter ohne Bodenbesitz, unterscheidbar.

Die Verleihung des Magdeburger Rechts 1498 veränderte zusehends das politische und wirtschaftliche Gefüge der Stadt. Erst jetzt erlangte der Stadtrat die volle Souveränität in städtischen Angelegenheiten und P. erhielt das Stapelrecht. Zu dieser Zeit wirkte auch der in P. geborene Humanist Francišak Skaryna, der neben seinen Bestrebungen zur Erneuerung der orthodoxen Kirche v. a. mit seiner weißrussischen Bibelübersetzung Bedeutung erlangte. In der ersten Hälfte des 16. Jh. kam es zu einem Bedeutungsverlust der orthodoxen Geistlichkeit und der Stärkung katholischer und calvinistischer Einflüsse. Auch die jüdische Gemeinde etablierte sich jetzt dauerhaft.

P. lag in einem Schnittpunkt sich überlappender kultureller Einflüsse, die die Stadt nach der Eroberung durch Ivan IV. 1563 in deutlichen Gegensatz zu den übrigen Städten des Moskauer Zarenreiches brachten. Die geographische und kulturelle Zwischenlage erschwerte aber die Herausbildung eines eigenen regionalen Bewusstseins. Der Beginn der russischen Herrschaft, die bis zur Einnahme durch den polnischen König Stefan Batory 1579 andauerte, ging mit ausgedehnten Zerstörungen einher und bedeutete den langsamen Niedergang der Stadt. Pestwellen und Hungersnöte waren die Begleiterscheinungen andauernder Kriegshandlungen zwischen dem russischen Zaren und dem polnischen König, deren Herrschaft über die Stadt jetzt mehrfach wechselte.

Erst 1772 erfolgte die endgültige Inkorporation in das Russische Reich als Ergebnis der Ersten Teilung Polen-Litauens. Dazu kamen die Erschütterungen auf religiösem Gebiet als Folge der Gründung der Unierten Kirche auf der Synode von Brėst 1596, die in der Region um P. 1623 in einem großen Aufstand gipfelten. Erst die russische Politik der religiösen Unifizierung im Sinne der Orthodoxie führte zum Abflauen der Glaubensauseinandersetzungen, allerdings um den Preis der Unterdrückung katholischer und unierter Religionsausübung. Die jüdische Bevölkerung war noch 1764 umfassend privilegiert worden. Nach 1791 lag P. innerhalb des „Ansiedlungsrayons“, der von Katharina II. zum Siedlungsgebiet der Juden bestimmt worden war.

Seit dem Verbot der Unierten Kirche 1839 wirkten konfessionelle und damit verbundene ethnische Zuschreibungen wieder stärker polarisierend: orthodoxe Russen standen katholischen Polen gegenüber. Seine Rolle als Handelszentrum hat P. durch die Gründung St. Petersburgs und den Aufschwung der baltischen Häfen im 18. Jh. weitgehend eingebüßt. Während des napoleonischen Russlandfeldzuges war P. 1812 Schauplatz von zwei großen Schlachten, die später in der Sowjetunion im Rahmen des Kultes um den „Vaterländischen Krieg“ eine propagandistisch verzerrte Darstellung erfuhren. Die ersten genauen Angaben zur Einwohnerzahl aus dem Jahr 1891 bestätigen die ausgeprägt heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung: Bei einer Gesamtzahl von 20.321 Einwohnern wurden 10.797 Juden, 6989 Orthodoxe, 1534 Katholiken, 611 Altgläubige, 299 Lutheraner, ein Moslem gezählt. Die starke Stellung der jüdischen Gemeinde verweist v. a. auf die Tradition als Handelszentrum.

Nach kurzzeitiger Besetzung durch deutsche Truppen in der Endphase des Ersten Weltkrieges und wechselnden Besatzungen im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution, wurde P. als Rayonstadt des Gebiets Vicebsk in die neugegründete Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik (russ./weißruss. BSSR) eingegliedert. 1939 hatte die Stadt ca. 30.000 Einwohner, von denen noch über 20 % jüdischer Religionszugehörigkeit waren. Während des Zweiten Weltkrieges wurde P. am 16.7.1941 durch deutsche Truppen besetzt und blieb bis zur Rückeroberung durch die Rote Armee am 4. Juli 1944 unter deutscher Militärverwaltung.

P. wurde im Zweiten Weltkrieg zu ca. 75 % zerstört und gehört damit zu den am stärksten geschädigten Städten Weißrusslands. Ab August 1941 wurden ca. 8000 Juden in einem Getto auf freiem Feld zusammengepfercht. Bereits im Dezember 1941 wurden die Bewohner – die Opferzahlen schwanken zwischen 5000 und 8000 – getötet. Ein Anlass für die schnelle Ermordung der jüdischen Bevölkerung war die Hungersnot, die sich bis zum Mai 1942 im gesamten Nordosten Weißrusslands zu katastrophalen Dimensionen entwickelte. P. stellt ein besonders drastisches Beispiel für die deutsche Politik der Entvölkerung der weißrussischen Gebiete dar, die sich nach der Vernichtung der jüdischen Gemeinde auf die Partisanenbekämpfung konzentrierte.

Nach der Befreiung durch die Rote Armee bildete P. das Verwaltungszentrum des Gebiets P., in dem während der deutschen Besatzung offiziell 105.211 Zivilisten und 157.007 Kriegsgefangene umgekommen waren. Außerdem wurden 52.599 Personen als Zwangsarbeiter verschleppt. Ein 1948 beschlossener Generalplan zum Wiederaufbau der Stadt führte zu einem raschen Anwachsen der Einwohnerzahl. 1959 zählte man bereits wieder 44.000 Einwohner. Dem stehen Gewaltmaßnahmen der sowjetischen Regierung gegenüber, wie die Aussiedlung der sog. Kulaken und ihrer Familien 1952. Seit 1974 bildete die Stadt das Zentrum des Rayon P. im Gebiet Vicebsk bei einer Bevölkerungszahl von 72.000 und das Hauptwirtschaftszentrum im Norden der SSR.

Wichtigste Sehenswürdigkeiten P.s sind neben der Sophienkathedrale das Spaso-Evfrasinʹja-Kloster (12. Jh.). An F. Skaryna (*ca. 1490) erinnert seit 1974 ein Denkmal.

Beyrau D., Lindner R. (Hg.) 2001: Handbuch der Geschichte Weißrußlands. Göttingen. Gerlach C. 1999: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Hamburg. Mühle E. 1991: Die städtischen Handelszentren der nordwestlichen Rusʹ. Anfänge und frühe Entwicklung altrussischer Städte (bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts). Stuttgart. Petrikov P. (Hg.) 1987: Polock. Istoričeskij očerk. Minsk.

(Jens Binner)

Anfang
Views
bmu:kk