Estland

Estland (estn. Eesti), Kurzform für Republik Estland (estn. Eesti Vabariik)

Inhaltsverzeichnis

1 Statistische Angaben


Lage:
Staat im nördlichen Osteuropa, grenzt im Osten an Russland (294 km) und im Süden an Lettland (343 km) sowie im Westen und Norden an die Ostsee. Die Küstenlänge beträgt 3794 km, davon entfallen 3030 km auf die Inseln. Die Fläche des Staatsterritoriums beträgt 43.432,3 km².
Einwohner (2005):
1.344.684, davon 46,1 % männlich, 53,9 % weiblich; Altersstruktur 0–14 Jahre: 15,1 %, 15–64 Jahre: 68,3 %, 65 Jahre und älter: 16,8 %, Bevölkerungsdichte: 31,0 Einwohner/km²; 65,4 % im arbeitsfähigen Alter (Männer 15–64, Frauen 15–59); 67,1 % Beschäftigte (von den Personen im erwerbsfähigen Alter); 2,7 % Arbeitslose, Bevölkerungsentwicklung 1950-2005: 0,36 % jährlich, 1990-2005: –0,96 % jährlich, Nationalitäten (2004): 922.989 Esten (68,5 %), 346.339 Russen (25,7 %), 28.456 Ukrainer (2,1 %), 16.487 Weißrussen (1,2 %), 11.080 Finnen (0,8 %), 2524 Tataren (0,2 %), 2238 Letten (0,2 %), 2116 Polen (0,2 %), 2079 Litauer (0,2 %), 1971 Juden (0,1 %), 1898 Deutsche (0,1 %), 9393 andere (0,7 %); Religionszugehörigkeit (2000): 13,6 % Lutheraner, 12,8 % Russisch-Orthodoxe, 0,5 % Baptisten, 0,5 % Katholiken, 32,4 % andere, 34,1 % indifferent und 6,1 % Atheisten.
Hauptstadt und größere Städte (2005):
Tallinn (396.193 Einwohner), Tartu (101.740), Narva (66.936), Kohtla-Järve (45.740), Pärnu (44.198), Viljandi (20.274), Rakvere (16.698), Maardu (16.570), Sillamäe (16.567).
Währung: 1 Estnische Krone (Kroon, Abk. EEK) = 100 Senti.
Wappen:
left
Das Staatswappen zeigt drei schreitende blaue Leoparden auf goldgelbem Grund, umgeben von goldgelbem Eichenlaub.
Flagge:
left
Längsgestreifte Trikolore in den Farben Blau-Schwarz-Weiß in den Proportionen 1:2 (Breite:Länge), = vormals Flagge einer Studentenverbindung.
Hymne: Mu isamaa, mu õnn ja rõõm („Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude“), Text von Johann Voldemar Jannsen (1819–1900), Melodie von Friedrich Pacius (1809–91).
Feiertage:
Staatliche Feiertage: 1. Januar (Neujahr), 24. Februar (Tag der staatlichen Unabhängigkeit [1918]), 23. Juni (Võidupüha, „Tag des Sieges“), 20. August (Tag der wiedergewonnenen Unabhängigkeit [1991]); sonstige Feiertage: Karfreitag (beweglich), Ostersonntag (beweglich), 1. Mai (Tag der Arbeit), Pfingsten (beweglich), 24. Juni (Jaanipäev – Johannistag), 25. und 26. Dezember (1. und 2. Weihnachtsfeiertag).
Zeit: Osteuropäische Zeit
Staatssprache: Estnisch
Staatsform: parlamentarische Republik
Staatsoberhaupt: Präsident (derzeit Toomas Hendrik Ilves)
Regierungschef: Ministerpräsident (derzeit Andrus Ansip)
Politische Parteien:
Eesti Keskerakond (K, „Zentrumspartei Estlands“), Eesti Reformierakond (R, „Reformpartei Estlands”), Sotsiaaldemokraatlik Erakond (SDE „Sozialdemokratische Partei“), Eestimaa Rahvaliit (RL, „Volksunion Estlands“), Erakond Isamaa ja Res Publica Liit (IRL, „Union für Vaterland und Republik“).
Bruttoinlandsprodukt (2005): 10,639 Mrd. US-Dollar, pro Kopf der Bevölkerung 7905 US-Dollar
Bruttosozialprodukt (2005): 13,098 Mrd. US-Dollar, pro Kopf der Bevölkerung 9733 US-Dollar
Auslandsverschuldung: 11,773 Mrd. US-Dollar
Haushaltsdefizit (2005): 118,506 Mio. US-Dollar (1,1 % des BIP)
Außenhandel (2005):
Importe: 10,180 Mrd. US-Dollar: 30,9 % Maschinen und Maschinenteile, 10,3 % Rohstoffe und -erzeugnisse, 10,2 % Transportmittel; Hauptlieferländer: 19,7 % Finnland, 14,0 % Deutschland, 9,2 % Russland, 8,7 % Schweden, 6,0 % Litauen; Exporte: 7,720 Mio. US-Dollar; 28,0 % Maschinen und Maschinenteile, 11,2 % Holz und Holzprodukte, 10,2 % Rohstoffe und -erzeugnisse; Hauptabnehmerstaaten: 26,7 % Finnland, 13,1 % Schweden, 8;8 % Lettland, 6,5 % Russland, 6,2 % Deutschland.
Mitgliedschaften:
Council of the Baltic Sea States (CBSS), EU, Europarat, European Bank for Reconstruction and Development (EBRD), International Civil Aviation Organization (ICAO), International Monetary Fund (IMF), Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), International Labour Organization (ILO), Inter-Parliamentary Union (IPU), Interpol, NATO, North Atlantic Co-operation Council (NACC), OSZE, UNO, World Trade Organization (WTO).


Anmerkung der Redaktion: Stand der statistischen Angaben ist, wenn nicht anders vermerkt, das Publikationsdatum des Artikels.

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2 Geographie

2.1 Naturraum

E. ist der nördlichst gelegene und flächenmäßig kleinste der drei baltischen Staaten. Das Land ist gekennzeichnet durch eine weitgehend flache Oberflächenstruktur. Nur im Osten des Landes dominieren Moränenhügel, die mit dem Suur Munamägi („Großer Eierberg“, 318 m ü. d. M.) ihre höchste Erhebung erreichen. Entlang der Küste des Finnischen Meerbusens erheben sich bis zu 50 m hohe Kalksteinterrassen (Glint).

Das feuchte, durch kurze, warme Sommer und einen frühen Wintereinbruch gekennzeichnete Klima E.s wird durch seine Lage an der Ostsee bestimmt, mit deutlichen Unterschieden zwischen den klimatisch milderen Küstenregionen und dem kontinentalklimatisch beeinflusstem Osten des Landes. Die Durchschnittstemperatur liegt im Januar zwischen –8 und –2 °C, im Juli zwischen 16 und 18 °C. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge beträgt 550–650 mm, der Hauptanteil fällt auf die Sommermonate.

E. ist mit 48,9 % (2004) seiner Gesamtfläche sehr waldreich; es wachsen überwiegend Kiefern, Birken und Fichten. Stark verbreitet sind auch Espen, Erlen, Linden, Wacholder sowie Waldbeeren und Pilze. Den reichen Wildbestand dominieren Hirsche, Rehe, Biber, Marder, Füchse und Elche (ca. 11.700). Auch Braunbären (ca. 600) und Wölfe (ca. 100) sowie Luchse (ca. 800) sind heimisch. Zu den in E. horstenden Greifvögeln gehören Stein- (40 Paare) und Seeadler (80 Paare). Naturschutzgebiete nehmen 13,2 % des Staatsterritoriums ein. 3,1 % der Staatsfläche entfällt auf die vier Nationalparks: Karula, Lahemaa, Soomaa und Vilsandi.

Für das Landesinnere weiterhin typisch sind ausgedehnte Moor- und Wiesenlandschaften. Es herrschen überwiegend sumpfige, ackerbaulich unergiebige Böden vor.

In E. gibt es zahlreiche Seen, deren größter der Peipus-See (Peispi järv) die Grenze zu Russland bildet und der fünftgrößte See Europas ist. Seine Fauna besteht v. a. aus Weißfischen. Der zweitgrößte See im Süden E.s ist der fischreiche Võrtsjärv, in dem Aale und Hechte vorkommen. Die größten der zahlreichen meist sehr kleinen Flüsse sind Emajõgi und Narva.

Zum estnischen Staatsgebiet zählen 1521 Inseln, deren größte mit 2673 km² Saaremaa ist. Es folgen Hiiumaa und Muhu. Die estnischen Inseln liegen auf der Vogelzugroute von Nordosteuropa zum östlichen atlantischen Ozean, weshalb im Frühjahr und Herbst unzählige Zugvögel anzutreffen sind, darunter Eiderenten, Gänse und Schwäne.

Mit Ausnahme der großen Ölschiefervorkommen (Kukersit) im Nordosten E.s (Kohtla-Järve) gibt es nur wenig nennenswerte Bodenschätze, darunter neben Phosphorit und Uran, deren Abbau und Verarbeitung (Verbrennung des Ölschiefers in Narva) allerdings Ursache großer Umweltschädigungen ist, v. a. Torf, Kalkstein.

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2.2 Bevölkerung

Ende 2005 lebten in E. 1.344.684 Menschen. Somit lag die durchschnittliche Bevölkerungsdichte bei nur 31 Einwohner pro km².
An der niedrigen Geburtenrate hat die hohe Zahl der Abtreibungen großen Anteil, Anfang der 1970er Jahre war sie z. B. um das doppelte höher als die Zahl der Lebendgeborenen. Inzwischen ist sie von 42.309 (1972) auf 12.625 (2004) unter die Zahl der Lebendgeborenen gesunken. Allerdings sank diese zwischen 1972 und 2005 ebenfalls (von 21.757 auf 14.350), wobei sich seit dem Ende der 1990er Jahre, insbesondere bei den Esten, eine leichte Zunahme abzeichnet: 1998 wurden nur 12.167 Geburten registriert.
Die Geburtenrate bleibt seit 1991 kontinuierlich unter der Sterberate, so dass E. in diesem Zeitraum eine natürliche Bevölkerungsabnahme zu verzeichnen hat: Wurde 1971 noch mit 5,1 pro 1000 Einwohner ein deutlich positiver Saldo der natürlichen Bevölkerungsbewegung erreicht, so 1994 mit –5,5 pro 1000 Einwohner ein absolutes Tief. 2005 betrug der Saldo –2,2 pro 1000 Einwohner. Dabei hat sich die Rate der im ersten Lebensjahr gestorbenen Kinder von 17,7 pro 1000 Lebendgeborene 1970 auf 5,4 verringert. Nur in den beiden größten Städten des Landes gibt es eine natürliche Bevölkerungszunahme. Wegen der sozialen Veränderungen nach der Unabhängigkeit haben viele junge Leute die Familiengründung auf die Zeit nach der Ausbildung versoben. Die Geburtenrate steigt derzeit (1995: 1,38, 2006: 1,5), liegt jedoch weiterhin deutlich unter der Anzahl der Sterbefälle.

69,3 % der Bevölkerung lebt in Städten, davon mehr als ein Drittel allein im Ballungsraum Tallinn und seiner Agglomeration. Die Einwohnerzahl der meisten Städte nimmt jedoch ab – zu den wenigen Ausnahmen gehört die zweitgrößte Stadt E.s – Tartu, wobei deren Wachstum v. a. auf die große Studentenzahl zurückzuführen ist. Da die absolute Bevölkerungsabnahme im ländlichen Raum stärker ist, steigt der Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung.

Der hohe Anteil der russischsprachigen Bevölkerung (2004: 25,7 %) ist zwar vorwiegend, aber nur teilweise auf die sowjetische Bevölkerungspolitik im Rahmen der forcierten Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen. E. verzeichnete bereits nach der Eingliederung in das Russische Reich 1721 eine starke russische Zuwanderung.
Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen 1994 verließen viele russischstämmige Einwohner E.s das Land, seither nur noch in Ausnahmefällen. Die nicht zur Titularnation zählende Bevölkerung lebt vorwiegend in den industrialisierten Gebieten, wie den beiden größten Städten, dem Landkreis Ida-Virumaa im Nordosten E.s sowie in den für die Armee ausgebauten Orten (z. B. Paldiski).

Estnisch ist zwar die einzige Staatssprache, die Verfassung sieht aber Sonderregelungen für Gebiete mit mehrheitlich anderssprachiger Bevölkerung vor, wo das Estnische als Verwaltungssprache nicht zwingend vorgeschrieben ist. Dies ist v. a. in der Hauptstadt selbst und in ihrer Umgebung, wo die Esten nur eine knappe Mehrheit bilden und v. a. in Ida-Virumaa mit einem Anteil der nicht-estnischen Bevölkerung von 70,8 % (2004) der Fall. Nicht zuletzt auch aufgrund der jahrzehntelangen Zugehörigkeit zur Sowjetunion hat die russische Sprache in E. nach wie vor große Bedeutung.

Nationale Minderheiten haben überdies das Recht, Institutionen der Selbstverwaltung aufgrund des Gesetzes zur Kulturautonomie zu gründen, welches Parallelen zum Kulturautonomiegesetz der Zwischenkriegszeit aufweist. Damals wie heute gelten die Regelungen international als vorbildlich. Doch im Unterschied zur Zwischenkriegszeit wird die gegenwärtige gesetzliche Lage den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht. 1918 waren die meisten Bewohner E.s auch seine Staatsbürger; heute hat ein Teil der Minderheiten (so die während der Sowjetzeit aus anderen Teilen der Sowjetunion Zugezogenen) diesen Status nicht und kann deshalb auch die gesetzlichen Selbstverwaltungsrechte nicht wahrnehmen.

E. hat nach der Unabhängigkeit die sowjetischen Immigranten von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen, sie haben jedoch das aktive Kommunalwahlrecht und das Recht auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, sofern sie vor dem Erlangen der Unabhängigkeit in E. ansässig waren. Ihre Einbürgerung wird vom Bestehen eines estnischen Sprach- und Landeskundetests abhängig gemacht. Inzwischen erhalten in E. geborene Kinder die Staatsbürgerschaft automatisch. Seit 2000 existieren Regierungsprogramme zur sprachlich-kommunikativen, rechtlich-politischen und sozial-ökonomischen Integration der russischsprachigen Bevölkerung. Im Parlament ist die russischsprachige Bevölkerung durch sechs Abgeordnete estnischer Staatsangehörigkeit vertreten.

Nach den Angaben der letzten Volkszählung von 2000 ist das Christentum die vorherrschende Religion in E. Während die Esten vorwiegend Protestanten sind (v. a. Anhänger der Lutheranischen Kirche), ist die russischstämmige Bevölkerung zum großen Teil orthodox. Der größte Anteil der Bevölkerung identifiziert sich jedoch mit keiner institutionellen Religion, allerdings ist der Anteil von Atheisten mit 6,1 % relativ gering.

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2.3 Staat und Gesellschaft

E. ist eine unabhängige, souveräne demokratische Republik, in der die Macht vom Volk ausgeht, welches das Recht hat, sich in Wahlen und Referenden am politischen Entscheidungsprozeß zu beteiligen. Die 1992 verabschiedete Verfassung enthält keinen expliziten Grundrechtskatalog, sondern regelt in Kapitel II in über 40 Artikeln „Grundrechte, Freiheiten und Pflichten“, die für Esten und Nicht-Esten gleichermaßen gelten. Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit weichen jedoch häufig voneinander ab. Verfassungsänderungen bedürfen einer 3/5-Mehrheit des bestehenden und anschließend des neugewählten Parlamentes. Der Präsident kann ebenfalls Vorschläge zur Änderung der Verfassung unterbreiten.

Das ›Riigikogu‹ genannte Einkammerparlament hat 101 Abgeordnete, die in freien, allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden. Die Legislaturperiode dauert vier Jahre. Die Abgeordneten wählen aus ihrer Mitte den Parlamentsvorsitzenden sowie seine beiden Stellvertreter und tagen in der Regel öffentlich. Um die Öffentlichkeit auszuschließen, bedarf es einer 2/3-Mehrheit. Fraktionen und Ausschüsse des Parlaments sowie auch einzelne Mitglieder haben die Gesetzgebungsinitiative. Das suspensive Veto des Präsidenten kann mit einfacher Mehrheit überstimmt werden. Das Parlament ist ein Arbeitsparlament, die Ausschüsse tagen öffentlich. Für Untersuchungsausschüsse ist eine Mehrheit der Abgeordneten erforderlich, was durch öffentlichen Druck in der Regel gelingt. Das Recht zur Auflösung des Parlaments steht weder dem Präsidenten noch dem Ministerpräsidenten ungeschränkt zu. Das Parlament hat außerdem auf Veranlassung einer Mehrheit der Abgeordneten die Möglichkeit, Gesetzesentwürfe von nationaler Bedeutung den Bürgern in einem Referendum zur Abstimmung vorzulegen. Ein Gesetz, welches auf diese Weise angenommen wurde, wird umgehend vom Präsidenten verkündigt und tritt in Kraft. Erhält ein dem Volk zur Abstimmung vorgelegter Gesetzesvorschlag nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, so setzt der Präsident außerordentliche Parlamentswahlen an.

Das aktive Wahlrecht besitzen Bürger ab dem 18. Lebensjahr, das passive Wahlrecht hat jeder Wahlberechtigte, der das 21. Lebensjahr vollendet hat. Staatenlose haben Wahlrecht nur auf kommunaler Ebene. Die Stimmauszählung ist kompliziert und erfolgt über mehrere nacheinandergeschaltete Verrechnungsverfahren. Zunächst hat der Wähler eine Präferenzstimme, mit der er für einen konkreten Kandidaten votiert. Gleichzeitig unterstützt der Wähler damit die von der Partei des Kandidaten aufgestellte Liste im betreffenden Wahlkreis. Die Quote für die Erlangung eines direkten Mandates in das Parlament aufgrund der Präferenzstimme wird durch den Quotienten der im Wahlkreis abgegebenen Stimmen und der dort zu verteilenden Mandate berechnet. Die Restmandate werden durch Addition der für eine Partei oder Koalition abgegebenen Stimmen in großräumigeren Regionen ermittelt. Bleiben danach noch immer Sitze unvergeben, so wird der Vorgang auf nationaler Ebene wiederholt. Hier partizipieren allerdings nur jene Listen, die landesweit mehr als 5 % der Stimmen erhalten haben. Auf diese Weise können zwar auch Unabhängige ein Mandat erhalten. In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass nur wenige Kandidaten direkt durch das Erreichen der Quote gewählt werden, sondern vielmehr über die Liste durch die national verteilten Ausgleichsmandate ins Parlament einziehen. Dies wurde wiederholt von Politikwissenschaftlern als Mechanismus zur Enttäuschung der Wähler bezeichnet. Weil die Spitzenkandidaten eine Lokomotivfunktion haben, macht es für die Parteien Sinn, mit möglichst vielen Personen für jeden Wähler einen „Lieblingskandidaten“ aufzustellen, über den die Partei dann Stimmen sammelt, ohne allen Kandidaten eine reelle Chance für den Einzug ins Parlament geben zu können. Demzufolge stieg die Zahl der Kandidaten von Wahl zu Wahl sprunghaft an. Teilweise erhielten Kandidaten über die Liste Mandate, die weniger Stimmen hatten als von der Partei auf ungünstigeren Plätzen positionierte Konkurrenten.

Der Präsident wird grundsätzlich mit 3/5-Mehrheit vom Parlament gewählt. Gelingt dies in drei Wahlgängen nicht, wird ein Wahlgremium unter Beteiligung von Abgeordneten der Kommunalparlamente gebildet, was bislang 1996 und 2001 erforderlich war. Eine von diesem Prinzip abweichende Ausnahme, in Form einer Direktwahl im ersten Wahlgang, gab es 1992. Die Wiederwahl ist einmal möglich. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre. Der Präsident hat das Recht, ein Gesetz an das Parlament zur erneuten Diskussion zurückzuleiten, auch wenn es von einer Mehrheit bereits verabschiedet wurde. Gibt das Parlament das betreffende Gesetz binnen zweiwöchiger Frist ohne eine Änderung an den Präsidenten zur Verkündung zurück, kann dieser das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen lassen. Der Präsident hat gegenüber dem Parlament das Vorschlagsrecht für den Vorsitz des Nationalen Gerichtshofes, die Nationalbank, den sog. Rechtskanzler (Õiguskantsler) sowie den Kommandeur der Streitkräfte, während er selbst als Oberbefehlshaber der Armee fungiert. Sein Stellvertreter ist der Parlamentspräsident. Der Präsident benennt innerhalb von zwei Wochen nach dem Rücktritt der Regierung einen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten, der mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Dieser präsentiert sein Kabinett dem Parlament, das ohne Verhandlungen in offener Abstimmung entscheidet. Findet der Kandidat die Zustimmung des Parlaments, hat er sein Kabinett dem Präsidenten innerhalb einer Woche vorzustellen, welches dann vom Präsidenten berufen wird. Erhält der vom Präsidenten vorgeschlagene Kandidat nicht die erforderliche Zustimmung für sein Kabinett, kann der Präsident einen anderen Kandidaten benennen. Macht er von diesem Recht keinen Gebrauch oder misslingt es auch diesem Kandidaten, die erforderliche Mehrheit im Parlament zu erhalten, geht das Vorschlagsrecht auf das Parlament über. Sollte auch diesem Kandidaten die Regierungsbildung nicht gelingen, setzt der Präsident außerordentliche Parlamentswahlen an. Im Falle eines Misstrauensvotums gegen den Ministerpräsidenten oder gegen die gesamte Regierung kann der Präsident Neuwahlen anordnen. Das Misstrauen kann auch gegen einzelne Minister ausgesprochen werden. Mitglieder der Regierung dürfen weder ein anderes öffentliches Amt noch eine Führungsposition in einem Aufsichtsrat eines Unternehmens angehören.

Beim Aufbau eines nationalen Rechts- und Justizwesens wählte E. sowohl zu Beginn des Jahrhunderts als auch zum Zeitpunkt der Wiedererlangung der Unabhängigkeit den gleichen Weg. Um ein Vakuum zu vermeiden, blieb das alte System so lange in Kraft, bis neue Strukturen aufgebaut waren. Die Reform des Rechts- und Justizwesens nach 1991 bestand darin, dass sich alle vormaligen Richter erneut um das Richteramt bewerben und einer Prüfung unterziehen mussten. Das hatte zur Folge, dass rund die Hälfte der Richter neu ernannt wurde.

In E. besteht eine dezentralisierte Normenkontrolle. Jedes Gericht kann im konkreten Fall anzuwendende Rechtsvorschriften auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen und ggf. nicht anwenden. Außerdem übernimmt eine Abteilung des Obersten Gerichts Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit.

Von Umbrüchen geprägt ist das Parteiensystems E.s und damit die Zusammensetzung der Regierungen nach 1991. Mit der Streichung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei aus der estnischen Verfassung im Februar 1990 und der anschließenden Trennung der „Estnischen Kommunistischen Partei“ (Eesti Komunistlik Partei, EKP) von der KPdSU hatten die alten sowjetischen Strukturen aufgehört zu bestehen.

Die politische Landschaft E.s ließ sich zu diesem Zeitpunkt in vier Gruppierungen gliedern: in Kommunisten, „Volksfront“ (RR), die als erste Oppositionspartei im Sommer 1988 von ehemaligen Dissidenten gegründete „Estnische Nationale Unabhängigkeitspartei“ (Eesti Rahvuslik Sõltumatuse Partei, ERSP) und die gegen die nationale Unabhängigkeit eintretende ›Interliikumine‹, die oft als ›Interfront‹ bezeichnet, aber bewusst ›Interbewegung‹ hieß, damit sich verbal nicht zwei Fronten gegenüberstünden. Sie umfasste vorwiegend russischsprachige Mitglieder der Kommunisten. Die ERSP hingegen vereinte die radikalsten Verfechter einer sofortigen staatlichen Unabhängigkeit im Gegenteil zur mit den Reformkommunisten zusammenarbeitenden RR.

Keimzellen der national gesinnten Opposition waren die „Gesellschaft für Denkmalpflege“ (Muinsuskaitse Selts) und die „Estnische Gruppe zur Publikation des Molotow-Ribbentrop Paktes“ (Molotov-Ribbentropi-Pakti Avalikustamise Eesti Grupp, MRP-AEG). Diese politischen Kreise organisierten auch die Wahlen zum Gegenparlament „Estnischer Kongress“ (Eesti Kongress). Aus den Reformkommunisten selbst ging die Bewegung „Freies E.“ (Vaba Eesti) hervor, welcher frühere Funktionäre wie Arnold Rüütel (*1928) angehörten.

Aus der RR ging unter Edgar Savisaar (*1950) 1992 die K hervor, „Freies E.“ hingegen zerfiel in einen die Landbevölkerung ansprechenden Teil unter Arnold Rüütel und einen marktwirtschaftlich orientierten Flügel, der sich später als ›Koonderakond‹ (KE, „Allianzpartei“, mitunter auch als „Sammlungspartei“ übersetzt) konstituierte (und nach dem Wahlsieg 1995 eine Legislaturperiode regierte, sich nach der Niederlage von 1999–2001 jedoch selbst auflöste).

Erst aus den zur Wahl 1992 gegründeten Wahlkoalitionen entstanden stabilere Bündnisse. Die Sozialdemokratische Partei mit Marju Lauristin (*1940) an der Spitze kandidierte unter dem Namen Mõõdukad (M, „Moderate“) mit einer Bauernpartei. Diese nicht als links einzustufende Partei hat immer wieder mit den konservativen und liberalen Parteien koaliert. (Vor der Europawahl 2004 gab die Partei sich den Namen „Sozialdemokratische Partei“ [SDE]).

1992 gelang jedoch keiner die Minderheiten vertretenden Partei der Einzug ins Parlament. Im Verlauf der ersten Legislaturperiode wurden die russophone „Vereinigte Volkspartei E.s“ (EÜR, estn. Eesti Ühendatud Rahvapartei, russ. Obʹʹedinennaja Narodnaja partija Ėstonii) und die „Russische Partei in E.“ (VEE, estn. Vene Erakond Eestis, russ. Russkaja partija Ėstonii ) gegründet, die 1995 als „Unsere Heimat ist E.!“ (MKE, Meie Kodu on Eestimaa!) schließlich im Parlament vertreten waren, sich aber später mit jeweils ideologisch näherstehenden estnischen Parteien zusammenschlossen. Die EÜR schloss sich dann der RL an, die in E. unter den im Parlament vertretenen Parteien als einzige als links gelten darf.

Die Mehrheit der Wahlberechtigten im vorwiegend von Immigranten aus Russland dominierten Kreis Ida-Virumaa im Nordosten E.s stimmen bis heute für estnische Parteien. Doch gerade hier leben besonders viele Nicht-Staatsbürger, die an der Wahl nicht teilnehmen können. Die wenigen Esten dieser Gegend tendieren um so mehr zu nationalen Parteien. Aber auch die russophone Wählerschaft hat sich von russischen Parteien abgewandt. Weder 1999 noch 2003 gelang es einem russophonen Bündnis, Abgeordnete in das Parlament zu entsenden. Geschäftsleute bevorzugen die R, mit welcher sich die VEE später vereinigte. Savisaar bindet zudem viele Wähler der Minderheiten an die K.

Die 1995–99 regierende KE ebenso wie die K haben jeweils während ihrer Regierungsbeteiligungen die Reformpolitik fortgesetzt. Die meisten Parteien in E. jedoch zählen im weitesten Sinne und durch ihre Selbstbezeichnung zum konservativ-liberalen Lager ungeachtet der Herkunft ihrer Politiker aus Kommunisten- oder Dissidentenkreisen. Die „Vaterland“-Partei (I, Isamaa), die sich selbst inoffiziell (und für Ausländer verständlicher) auch ›Pro Patria‹ nennt, gewann 1992, erlitt aber wie die ERSP 1995 eine Niederlage, was zur Vereinigung zur IL führte. Die R wurde 1994 von Siim Kallas (*1948) gegründet, der zu Sowjetzeiten Vorsitzender der Gewerkschaft und 1990 eine führende Figur im national-orientierten Flügel des „Freien E.“ war.

Mit der Niederlage der KE kamen 1999 wieder die konservativ-liberalen Parteien an die Macht. Die Koalition war mit drei Jahren die bisher am längsten amtierende. Doch Unzufriedenheit mit der Politik der mehrheitlich befürworteten Parteien in Wählerschaft und unter Intellektuellen führte vor der Wahl 2003 zur Gründung von RP, der sich Wissenschaftler und Politiker anderer liberalkonservativer Parteien anschlossen. Nach ihrem Wahlsieg war die RP unter Ministerpräsident Juhan Parts (*1966) größte Regierungspartei. Nach einer Regierungskrise 2005 wechselte die R den Koalitionspartner und regiert nun mit der K.

Mit dem neuen Gewerkschaftsgesetz vom Dezember 1989 wurden die Gewerkschaftsstrukturen der Sowjetunion aufgehoben und ein neuer unabhängiger „Zentralverband der Gewerkschaften E.s“ (Eesti Ametühingute Keskliit, EAKL) gegründet. Von ihm spalteten sich 1992 die Gewerkschaftsorganisationen der Kulturschaffenden, des Bildungswesens und der Hochschulen ab und gründeten die „Unionen der Dienstleistungsgewerkschaften“ (Teenistujate Ametiliitude Keskorganisatsiooni, TALO). Daneben bestehen weitere gewerkschaftliche Organisationen, die keinem der beiden genannten Verbände angehören. EAKL (ca. 200.000 Mitglieder) und TALO (ca. 75.000 Mitglieder) bleiben dennoch die größten Gewerkschaftsdachverbände E.s.

Die Gewerkschaften müssen sich gegen das Erbe der Sowjetzeiten durchsetzen, als sie trotz unfreiwilliger Mitgliedschaft im Ruf standen, Arbeitnehmerinteressen nur bedingt zu vertreten. Das ist nicht zuletzt der Grund für den stetigen Rückgang der Mitgliedszahlen. 1996 waren nur noch rd. 30 % der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, das bedeutete für den EAKL einen Rückgang um 40 % seit 1994. Bestand zu Zeiten der Sowjetunion kein Recht auf Streik, so hat sich dies zwar inzwischen geändert, doch bislang kam es zu keinem nennenswerten Streik, weil einerseits Streikfonds erst aufgebaut werden müssen und andererseits die Sorge um den Arbeitsplatz bei vielen Arbeitnehmern Vorrang hat.

Da Arbeitgebervereinigungen zu sowjetischen Zeiten nicht existierten, wurde im November 1991 der „Zentralverband der estnischen Industrie“ (Eesti Tööstuse Keskliit, ETKEL) gegründet und 1995 zum „Zentralverband der estnischen Industrie und Arbeitgeber“ (Eesti Tööandjate Keskliit) erweitert. Parallel dazu gründete sich die „Assoziation der estnischen Kleinunternehmer“ (Eesti Väikeettevõtluse Assotsiatsioon, EVEA).

E. ist ein unitarischer Staat. Das Verwaltungssystem aus sowjetischen Zeiten wurde mit geringfügigen Änderungen übernommen. Das heutige Verwaltungssystem besteht aus 15 Kreisen (maakond), die in 202 ländliche Gemeinden (vald) und 39 Städte (linn) aufgeteilt sind. Den Kreisen steht als Repräsentant der Zentralregierung der von dieser für je fünf Jahre festgesetzte Gouverneur (maavanem) vor. Bis 17.10.1993 besaßen die Landkreise eine Selbstverwaltung.

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2.4 Wirtschaft

Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte E. sowohl eine gut entwickelte Landwirtschaft als auch Industrie. Diese Struktur blieb auch während der Sowjetzeit erhalten.

Nach der Unabhängigkeit 1991 schrumpfte die in hohem Maße mit den anderen sowjetischen Republiken verflochtene Wirtschaft E.s zunächst dramatisch. Die Hauptwirtschaftszweige E.s sind heute: Textilindustrie, Lebensmittelverarbeitung und Holzwirtschaft. An dem sehr hohen Wirtschaftswachstum (bis 11 % jährlich) hat den größten Anteil der Dienstleistungsbereich. Ausländische Unternehmen haben bis Ende 2005 in E. 12,891 Mrd. US-Dollar investiert. Zu den bedeutendsten ausländischen Investoren gehören neben den skandinavischen Ländern (v. a. Schweden und Finnland), die USA, die Niederlande, Russland, Deutschland und Österreich. Ausländisches Kapital wurde insbesondere in Bankwesen und Telekommunikation investiert. Einen Standortvorteil bilden die relativ niedrigen Steuersätze. Die Lohn- und Einkommenssteuer betragen in E. zurzeit 23 %, die Mehrwertsteuer 18 %.

Schwierig bleibt die Einschätzung des Arbeitsmarktes, weil viele Arbeitslose wegen der geringen Unterstützung eine Registrierung nicht anstreben: Nach der amtlichen Statistik betrug die Arbeitslosenquote im März 2006 2,3 %, gemäss den Kriterien der ILO betrug sie jedoch 7,9 %. Gleichzeitig ist Schwarzarbeit gerade im Handwerk sehr verbreitet. Auch die Tatsache, dass viele Menschen mehr als eine Arbeitsstelle haben und dabei offiziell nur das Minimaleinkommen beziehen, während ihnen der Rest im Umschlag ausgezahlt wird, erschwert die Ermittlung des Durchschnittseinkommens. Offiziell wird es mit 594 Euro monatlich angegeben (Ende 2005).

Die Landwirtschaft konzentriert sich aufgrund der für den Ackerbau ungünstigen Klima- und Bodenverhältnisse auf Viehzucht, insbesondere Geflügel-, Schweine- und Rinderhaltung, letztere zur Milch- und Fleischgewinnung. Die landwirtschaftliche Nutzfläche E.s beträgt heute 19,1 %. Der Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung des Landes hat sich zwischen 1993 und 2005 von 8,5 % auf 2,1 % verringert. Die Ackerbaufläche wird überwiegend zum Getreideanbau (v. a. Gerste, Weizen, Hafer und Roggen) genutzt, daneben werden v. a. Raps und Rüben sowie, im geringeren Ausmaß, Kartoffeln und Hülsenfrüchte angebaut. Für die Bevölkerung der Westküste und der Inseln ist der Fischfang von Bedeutung, der sich v. a. auf Sprotte, Hering und Dorsch konzentriert.

Der Waldreichtum begünstigte früher die Zellstoff- und Papierindustrie, v. a. die Möbelindustrie. 2003 wurde in E. 9,953 Mio. m² Holz geschlagen. Daneben bedeutsam ist der Abbau von Torf, der der jedoch wegen des dadurch verursachten Absinkens des Grundwasserspiegels ökologisch problematisch ist. Kalkstein wird in E. seit Jahrhunderten abgebaut und bis heute im Hausbau verwandt. Der Ölschieferabbau begann in den 1920er Jahren und seine wirtschaftliche Bedeutung nahm in den letzten Jahren stark zu. 2003 betrug die Abbaumenge 12.459 Tsd. m³ (= 87,8 % der Weltförderung). In E. existieren die weltweit einzigen zwei mit Ölschiefer betriebenen Kraftwerke. Der Abbau von Phosphorit und Uran wurde 1989 aufgrund ökologischer Probleme eingestellt.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion geriet die estnische Industrie in eine tiefe Krise und viele Betriebe mussten ihre Produktion komplett einstellen bzw. neu ausrichten. Doch das positive Investitions- und Wirtschaftsklima begünstigte die Sanierung bzw. Neugründung von Firmen. Besonders die Entwicklung von neuen Technologien (Telekommunikation, Elektronik, Biotechnologie) wird vorangetrieben, aber auch die Bau-, Holzverarbeitungsindustrie und Maschinenbau verzeichnet hohe Produktionssteigerungen. Schätzungsweise 60 % estnischer Metall- und Maschinenbauunternehmen, die insgesamt ca. 20.000 Personen beschäftigen, produzieren als Zulieferer für andere Firmen, z. B. für skandinavische Autohersteller. Die meisten Produktionsbetriebe befinden sich in Tallinn oder um die Hauptstadt herum.

Die Währungsreform im Juni 1992 mit dem Übergang vom russischen Rubel zur Estnischen Krone, die im Kurs von 8:1 an die Deutsche Mark (bzw. 15,64664 zum Euro seit 1999) gebunden wurde, hat die Hyperinflation durch Stabilität abgelöst. Der ursprünglich für den 1.1.2007 geplante Beitritt zur Eurozone ist inzwischen auf voraussichtlich den 1.1.2008 verschoben worden, da E. die Konvergenzkriterien nach dem Vertrag von Maastricht (v. a. in Bezug auf die Inflationsrate: 4,1 % im Jahr 2005) bisher nicht erfüllen konnte.

Seit der Währungsreform entwickelt sich der Finanzsektor am schnellsten von allen Wirtschaftsbranchen und seine Wertschöpfung stieg seitdem um ca. das zwölffache. Der estnische Finanzmarkt ist ein Anziehungspunkt ausländischer Kreditinstitute. Im dritten Quartal 2005 wurden dort 13 ausländische Banken registriert und 90 weitere warteten auf eine Zulassung. Der Wertpapierhandel wird über die 2001 gegründete Tallinner Wertpapierbörse abgewickelt, die seit 2004 von einem finnisch-schwedischen Konsortium übernommen wurde. Inzwischen wird ein Drittel aller Zahlungen bargeldlos ausgeführt (mit einer Kredit- oder Debitkarte oder per Internet bzw. WAP/SMS). Über 80 % der Bevölkerung verfügen über mindestens eine Karte zur bargeldlosen Bezahlung, v. a. eine Debitkarte.

Zum boomenden Sektor gehören auch Versicherungen, v. a. Rentenversicherungen: Seit der Reform des Rentensystems entschieden sich über 80 % der arbeitenden Bevölkerung für eine private Zusatzrentenversicherung.

Der Anteil der Dienstleistungen an der Bruttowertschöpfung der estnischen Wirtschaft erreicht 76,9 % (2005). Einen hohen Bedeutungsgrad hat dabei der Handel: Durch die boomende Wirtschaft steigt die Nachfrage im Inland stetig, zumal sich aufgrund der sowjetischen Vergangenheit, mit den dazugehörenden restriktiven Marktregeln, Nachholbedarf in vielen Bereichen ergab. Auch der Außenhandel entwickelt sich rasant, v. a. der Import zur Stillung der Binnennachfrage. Sein Volumen ist seit 1993 um das Zwölffache gestiegen. Durch die relativ unkomplizierten Vorschriften und den im EU-Vergleich billigen Arbeitskräften, gepaart mit einer zielgerichteten Politik zur Ansiedlung ausländischer Firmen, konnte die estnische Wirtschaft ihre Produktivität in den letzten Jahren deutlich steigern, so dass estnische Güter und Dienstleistungen auch im Ausland konkurrenzfähiger wurden. Die Exportwerte stiegen im gleichen Zeitraum um das Zehnfache.

Das Straßennetz E.s ist verhältnismäßig gut ausgebaut; wenngleich 45,2 % (2005) der 16.470 km Staatsstraßen nicht asphaltiert sind. Gegenwärtig erfolgt der Ausbau des Straßennetzes v. a. entlang der Fernverbindung ›Via Baltica‹ in Richtung Süden bis zum Grenzübergang nach Lettland in Ikla, in Richtung Norden nach Narva, wo sich der wichtigste Grenzübergang nach Russland befindet und auf der Verbindung zwischen Tallinn und Tartu. Dazu gibt es einige autobahnähnlich ausgebaute Straßen rund um Tallinn. Die gesamte Straßenlänge E.s beträgt 56.850 km. Der Kfz-Bestand in E. belief sich 2005 auf rd. 493.800 PKW (367,4 auf 1000 Einwohner).

Das Eisenbahnnetz in russischer Breitspur (1520 mm) umfasste 2005 963 km, davon 131 km elektrifiziert. Es ist aber stark sanierungsbedürftig. 2005 wurden 68,2 Mio. t Güter auf den Schienen transportiert – doppelt soviel wie vor dem Zerfall der Sowjetunion, die Passagiermenge verringerte sich jedoch im selben Zeitraum um das 13-fache. Die dominierende Rolle der Eisenbahn im Warenverkehr (²/₃ aller Landestransporte) nahm in den letzten Jahren zugunsten des Autotransports stark ab. Überlandbusse übernehmen im gesamten Inland den Hauptteil des Fernverkehrs. Es gibt auch zahlreiche Busverbindungen ins Ausland. Der Inlandverkehr wurde vom internationalen und vom Güterverkehr getrennt. Seit 2000 gibt es heftige Diskussionen über die Pläne der Regierung, große Teile des Inlandverkehrs im Südosten des Landes stillzulegen und den internationalen Verkehr an einen amerikanischen Investor zu verkaufen.

Tallinn hat einen internationalen Flughafen, über den mehr als 95 % des Flugpassagier- und Frachtaufkommens des Landes abgewickelt werden. Insgesamt befinden sich in E. sechs internationale Flughäfen. Die Anzahl der Flugpassagiere hat sich in E. seit 2001 verdreifacht (2005: 1,475 Mio.), die Menge der Luftfracht (9941 t) mehr als verdoppelt. Ebenfalls in T. befindet sich ein bedeutender Seehafen, der eigentlich aus zwei Häfen in der Stadt selbst sowie aus zwei weiteren Häfen (Muuga und Paldiski) besteht. Rd. 80 % des gesamten Gütertransportes E.s werden über die Tallinner Häfen abgewickelt. Kleinere Häfen gibt es in Pärnu und Kunda. Jüngst wurde auch in Sillamäe ein Hafen eröffnet.

Die Verbreitung von Mobiltelefonen (2004 besaßen 93 % der Bevölkerung ein Mobiltelefon) und das flächendeckende Angebot von öffentlichen Internetzugängen in E. ist beispielhaft. Das estnische Parlament garantiert seit 2000 jedem Bürger einen Internetzugang. Im selben Jahr verzichtete die Regierung auf Papierausgabe von internen Dokumenten. 54 % der Esten im Alter zwischen 6–74 Jahren nutzen das Internet. Unlängst wurde beschlossen, dass künftig im gesamten Hauptstadtgebiet schnurloser Internetzugang möglich sein wird.

E. konnte im letzten Jahrzehnt eine gut funktionierende touristische Infrastruktur entwickeln. Wenige Monate vor dem EU-Beitritt E.s ging die Zahl der Einreisen nach E. zwar drastisch zurück, doch dies ist auf die beitrittsbedingten Einschränkungen für die Bürger der GUS-Staaten zurückzuführen, die meistens als Kleinhändler, (Schwarz-)Arbeiter bzw. zwecks Familienbesuch oder Transits nach E. eingereist sind. Im selben Zeitraum ist die Zahl der ausländischen Touristen um ca. ein Drittel gestiegen. Seit 2001 hat sich die Anzahl der ausländischen Touristen in E. mehr als verdoppelt (von 1231 Tsd. auf 2327 Tsd.). 2004 gab es in E. 609 Unterkünfte im Fremdenverkehr (1992: 67) mit 32.899 Betten (1992: 6189), die sich v. a. in der Hauptstadt und an der Westküste bzw. den Inseln konzentrierten. 2005 wurden 2.071.731 Übernachtungen im Fremdenverkehr registriert, wovon über 70 % ausländische Touristen ausmachten (1.453.003). Die meisten ausländischen Besucher kommen aus Skandinavien (v. a. Finnland), Deutschland, den anderen baltischen Ländern, Russland, Großbritannien Italien und den USA.

Besonders aus Finnland, aber auch aus Schweden, kommen viele Tagesausflügler zum Einkaufen in das deutlich billigere E. Aus Finnland werden Fährenausflüge nach E. angeboten, bei denen die Passagiere gar nicht das estnische Festland betreten müssen, sondern in estnischen Territorialgewässern die strengen finnischen Alkoholkonsumvorschriften und die sehr hohen dortigen Alkoholpreise umgehen können.

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2.5 Bildung und Kultur

Das estnische Schulwesen beginnt mit der vierjährigen Grundschule. Anschließend besuchen die Jugendlichen die Schulpflicht erfüllend mindestens bis zur 9. Klasse eine sog. Mittelschule, in der alle Schüler gemeinsam unterrichtet werden. Für den Hochschulzugang ist der fortgesetzte Besuch oder der Wechsel auf eine meist Gymnasium genannte weiterführenden Schule bis zur 12. Klasse erforderlich.

Das Recht auf Unterricht in estnischer Sprache ist verfassungsrechtlich verankert, gleichzeitig wird den Minderheiten zugebilligt, über ihre Unterrichtssprache zu entscheiden. E. hat 706 Mittelschulen von denen in 584 estnisch und in 104 russisch unterrichtet wird, 18 Schulen sind zweisprachig. Seit dem Schuljahr 1997/98 gibt es in Tallinn ein estnisches Gymnasium mit deutschsprachiger Abteilung. Dort haben im Sommer 2004 bereits zum dritten Mal Schüler zugleich das deutsche und das estnische Abitur abgelegt. E. verfügt über 14 staatliche und 8 private Hochschulen. Wichtigster Bildungsstandort ist Tartu mit seiner während der schwedischen Herrschaft im 17. Jh. gegründeten Universität (Tartu Ülikool), die in weiteren Städte Filialen unterhält, so in Narva. Auch die Landwirtschaftsuniversität (Eesti Põllumajanduse Ülikool) befindet sich in Tartu. Die Pädagogische Universität Tallinn (Tallinna Pedagoogika Ülikool) ist inzwischen mit der Universität Tallinn (Tallinna Ülikool) zusammengeschlossen worden. Daneben namhaft ist v. a. auch die Technische Universität der Hauptstadt (Tallinna Tehnika Ülikool). Zwar gibt es sog. Budgetplätze, d. h. die Studenten müssen für ihr Studium nicht bezahlen, dennoch muss der größere Anteil der Studierenden die Ausbildung selbst tragen. Dafür gibt es sowohl einige Stipendien als auch die Möglichkeit, Kredite bei Banken und beim Staat aufzunehmen. Die nicht universitäre Berufsausbildung erfolgt in Berufschulen, derer es 82 gibt, darunter 14.

Musik stellt einen wichtigen Bestandteil der estnischen Kultur dar. Weit verbreitet sind Chöre und Volkstanzgruppen, die regelmäßig auch an den Sänger- und Tanzfesten teilnehmen, die in der estnischen Geschichte bereits Ende des 19. Jh. eine („Zeit des nationalen Erwachens“ – Ärkamine) außerordentlich mobilisierende Kraft entfalten konnten. Die Protestbewegung Ende der 1980er Jahre wurde als zweites nationales Erwachen und wegen der spontan angestimmten Volkslieder auch als „Revolution (singende)|singende Revolution“ bezeichnet. In E. ist neben westlicher Popmusik auch einheimischer Rock und Pop populär, der häufig westliche Elemente mit estnischer Folklore verbindet. Zu den erfolgreichsten Gruppen zählen heute ›Ultima Thule‹, ›Vanilla Ninja‹. Populäre Schlagersänger sind neben dem Rocksänger Tõnis Mägi (*1948) Ivo Linna (*1949) und Anne Veski (*1959). 2001 gewann E. den ›Eurovision Song Contest‹. Bedeutsam für die moderne klassische Musik sind die Komponisten Gustav Ernesaks (1908–93), Veljo Tormis (*1930) und der seit langem in Deutschland lebende, auch international bekannte, Arvo Pärt (*1935).

In der Hauptstadt Tallinn gibt es Theater in estnischer und russischer Sprache sowie zahlreiche Kinos und ein Kinostudio. Tartu bietet als Stadt der Intellektuellen ebenfalls ein umfangreiches Kulturleben. Die nationalen staatlichen Fernsehprogramme und Radiosender verfügen in vielen Provinzstädten über Lokalredaktionen. Seit der Unabhängigkeit 1991 gibt es auch private Sender.

Die größte estnische Tageszeitung ist die traditionsreiche ›Postimees‹ („Postbote“) mit Sitz in Tallinn und Tartu. In Tallinn erscheinen ›Eesti Päevaleht‹ („Estnisches Tageblatt“) sowie ›Eesti Ekspress‹, eine 1989 gegründete Wochenzeitung, die sich inhaltlich und stilistisch der Boulevardpresse nähert. ›SL Õhtuleht‹ („Abendblatt“) ist ein täglich erscheinendes Boulevardblatt. Wichtige Wirtschaftszeitung ist ›Äripäev‹ („Geschäftstag“), Fachblätter beschäftigen sich mit Autos, Garten, Familie etc. Darüber hinaus gibt es russischsprachige Organe, wie die Tageszeitung ›Ėstonia‹ und die Wochenzeitung ›Denʹ za Dnëm‹ („Tag für Tag“). Konzerne aus den benachbarten skandinavischen Staaten sind häufig wenigstens Teileigentümer.

Zu den populärsten Sportarten zählen Skilanglauf, Ballsport, insbesondere Fußball , weiterhin Wassersport und Leichtathletik. International erfolgliche Sportler E.s sind der Leichtatlet Erki Nool (*1970), die WintersportlerInnen Andrus Veerpalu (*1971) und Katrin und Kristina Šmigun (*1977) sowie der Radsportler Jaan Kirsipuu (*1969).

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3 Kulturgeschichte

Die ersten Spuren menschlicher Besiedlung auf dem Gebiet des heutigen E. stammen aus dem 11. Jt. v. Ch. Das seit dem 1. Jt. v. Chr. vom finnougrischen (ostseefinnischen) Volk der Esten besiedelte Territorium befand sich zwischen Ende des 12. und Ende des 20. Jh. – unterbrochen nur von einer kurzen staatlich-unabhängigen Phase in der Zwischenkriegszeit (1918-40) - unter wechselnder dänischer, deutscher, polnischer, schwedischer und russischer (sowjetischer) Herrschaft. Seit 1991 besteht in Gestalt der Republik E. wieder ein eigenständiger estnischer Staat.

Aufgrund seiner peripheren Lage zu den mittelalterlichen Haupthandelsrouten der Region (über die Düna) zunächst lange vor der christlichen Expansion geschützt, wurde bis Mitte des 14. Jh. ganz E. Teil des Herrschaftsgebietes des Deutschen Ordens (in dem um 1237 der Schwertbrüderorden aufgegangen war). Unmittelbar vorausgegangen war dem die gewaltsame Niederschlagung eines Aufstand der Esten in der St. Georgsnacht 1343 und der Verkauf des seit Anfang des 13. Jh. in dänischem Besitz befindlichen Nordestland an den Orden 1345.

Versehen mit deutschem Stadtrecht und eingebunden in die Hanse erlangten insbesondere die Städte Dorpat (estn. Tartu), Fellinn (Viljandi), Narwa (Narva), Pernau (Pärnu) und Reval (Tallinn), für die ein starkes kaufmännisches – überwiegend deutschstämmiges - Bürgertum charakteristisch war, überregionale wirtschaftliche Bedeutung. Maßgeblichen Anteil am Landesausbau E.s hatte die vom Deutschen Orden organisierte, im Zusammenhang mit der Eroberung des Gebietes stehende, Ostkolonisation, an der im Baltikum v. a. aus dem Westen des Deutschen Reiches stammende adlige Schichten beteiligt waren. Von Bedeutung waren weiterhin die Orden der Dominikaner und Zisterzienser.

Der als ›Livländische Konföderation‹ bzw. Livland bekannte Ordensstaat zerfiel im Zuge der Reformation 1561, E. wurde danach schwedisch (die unter dänischer Herrschaft befindliche Insel Saaremaa erst 1645, der Süden E.s um Tartu war bis 1629 polnisches Lehen).

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Für E.s kulturelle Entwicklung war die seit 1523 Einfluss gewinnende Reformation von besonderer Bedeutung, weil sich erstmals Geistliche um die Volkssprache bemühten. Es wurde in der Landessprache gepredigt, 1525 erschien in Lübeck eine estnische Bibel, 1535 der Wanradt-Koell Katechismus. Die E., deren Christianisierung bis dahin eher oberflächlich geblieben war, sind seitdem vorwiegend lutheranischen Glaubens.

Im Livländischen Krieg (1558–83), der weite Teile E.s verwüste, gelang es Schweden (mit Polen-Litauen), sich nochmals gegen das westwärts expandierende Russische Reich zu behaupten. Die Schwedenzeit ist in die Geschichte des Baltikums/E.s als die „gute Zeit“ eingegangen, der deutschbaltische Adel bekam zwar seine Privilegien bestätigt, allerdings wurde der bis dahin praktizierten rechtlichen Willkür gegenüber den Bauern im Rahmen der Gutsherrschaft deutliche Grenzen gesetzt. Unter Karl XI. (1672–97) wurde die sog. Güterreduktion durchgeführt, infolge derer fünf Sechstel des adligen Grundbesitzes vom schwedischen Staat eingezogen wurden. Der Adel konnte diese Domänen pachten, die Kronbauern wurden rechtlich privilegiert. Die estnische Bevölkerung erfuhr darüber hinaus besondere Förderung in Bildung, Religion und Kultur. 1632 wurde die Universität von Tartu gegründet.

Im Ergebnis des Großen Nordischen Kriegs zwischen Schweden und Russland fiel E. 1721 an das Russische Reich. Die Privilegien des deutschen Adels (Glaubensfreiheit, Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit) wurden bestätigt, die Situation der Bauern verschlechterte sich infolge der Einführung der Leibeigenschaft 1739 wieder Die Provinz E. blieb als Gouvernement erhalten. 1816–19 beschloss die livländische (estnische) Ritterschaft die Aufhebung der Leibeigenschaft. Mit der Agrarreform von 1849 schließlich ging eine Veränderung des agrarökonomischen Systems einher, welches den Esten die Grundlagen zur nationalen Emanzipation gab. Die estnischen Bauern konnten mit öffentlichen Krediten Grund und Boden erwerben. Gleichzeitig wurde die Fronpacht durch die Geldpacht ersetzt. Das politische Ziel war ein wirtschaftlich unabhängiger Stand bäuerlicher Eigentümer. Eine politische Beteiligung gelang den liberalen Reformern jedoch nicht.

Eine Schicht estnischer Bauern entstand, deren wirtschaftlicher Erfolg eine soziale Differenzierung innerhalb der estnischen Bevölkerung zur Folge hatte. Dank der Intensivierung der Landwirtschaft und der industriellen Entwicklung erhielten zunehmend auch Esten eine Chance für den Aufstieg in andere Berufe, und mit der Urbanisierung wurden auch die Mobilitätsgrenzen überwunden. Die Ostseeprovinzen übernahmen ökonomisch im Zarenreich eine Vorreiterrolle. Häfen und Großstädte begünstigten, dass bereits vor 1914 eine voll ausgebaute Industriewirtschaft existierte. Das machte sich auch im Bildungsbereich bemerkbar. Die Alphabetisierungsrate war in den baltischen Provinzen um ein vielfaches höher als im restlichen Russland. „Reval (Tallinn) entwickelte sich nach St. Petersburg und neben Riga zum bedeutendsten Importhafen des Russischen Reiches. Zwischen 1860 und 1880 wuchsen auch andere Städte in E. rasant.

Das Verhältnis zwischen der deutschen Oberschicht und den Esten war gleichwohl schlecht. Die deutsche Oberschicht blieb den jeweils herrschenden Mächten loyal, sofern die alten Rechte und Privilegien bestätigt wurden. Der deutschbaltische Adel bildete ab Anfang des 19. Jh. die Elite des Zarenreiches. Erst mit dem nationalen Erwachen im 19. Jh. bildete sich eine nationale Elite in E. heraus, die sich gegen die faktisch erforderliche Germanisierung als Voraussetzung für den sozialen Aufstieg wandte. Bis dahin hatte es als unmöglich gegolten, dass ein Este gebildet sein kann. Selbst Esten zweifelten an der Tauglichkeit ihrer Sprache für Literatur.

Zunächst erhofften sich die aufstrebenden Nationalisten Unterstützung aus Russland gegen die Deutschbalten, was sich angesichts der ab den 1880er Jahren einsetzenden Russifizierungspolitik – symbolisiert u. a. durch den Bau der orthodoxen Aleksandr-Nevskij Kathedrale auf dem Tallinner Domberg (anstelle eines Lutherdenkmals) oder die Umbenennung Dorpats/Tartus in Jurʹev – schnell als Irrtum herausstellte. 1888 wurde zwar die Privilegien der Deutschen in E. weitgehend eingeschränkt, Verwaltungs- sowie andere wichtigen Posten nun jedoch von Russen übernommen. Die Deutschen blieben weiterhin die stärkste wirtschaftliche Schicht in E. bis zum Ende des Zarenreichs.

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Die zweite Hälfte des 19. Jh. ist in kulturgeschichtlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung für die estnische Nationalbewegung. Es entstanden hier z. B. die patriotischen Gedichte von Lydia Koidula (1843-86). Ihr „Mein Vaterland ist meine Liebe“ (Mu isamaa on minu arm) wurde später während der Sowjetzeit zur heimlichen Hymne E.s. Der Stadtarzt von Võru (dt. hist. Werro), Friedrich Reinhold Kreutzwald, gab 1857 das Nationalepos ›Kalevipoeg‹ („Sohn des Kalev“) heraus. 1869 wurde in Tartu das erste Sängerfest mit 845 Teilnehmern organisiert. Mitte des 19. Jh. entstand schließlich auch eine eigene estnische Zeitungslandschaft (1806: Tarto maa rahwa Näddali-Leht). Jaan Tõnisson übernahm 1896 die Redaktion der ersten estnischsprachigen Zeitung, ›Postimees‹ („Postbote“, 1857 in Pärnu entstanden), in Tartu. Diesem die Zwischenkriegszeit prägenden liberalen Politiker stand bald schon der spätere autoritäre Herrscher Konstantin Päts (1874–1956) mit seinem Anzeiger ›Teataja‹ („Der Bote“) in Tallinn gegenüber. Für die Landbevölkerung wurde die Publikation ›Sakala‹ wichtig. Nach der Jahrhundertwende entstand mit Anton Hansen Tammsaares fünfbändiger Familiensaga „Wahrheit und Recht“ (Tõde ja õigus, 1926-33), in dem das Landleben auf einem Gehöft in den Mooren Zentralestlands geschildert wird, ein zentrales Werk der estnischen Nationalliteratur.

Sozialistische und sozialdemokratische Ideen waren damals im gesamten Baltikum außerordentlich populär. Die Revolution von 1905 verlief in den Ostseeprovinzen im Vergleich zu anderen russischen Gebieten sehr viel gewaltsamer. Gutshöfe wurden angesteckt, Deutsche und auch Priester ermordet, worin sich der antikirchliche Charakter der Revolution ausdrückte.

Im Frühjahr des Revolutionsjahr 1917 entstand schließlich eine das heutige Gebiet E.s zusammenfassende administrative Einheit, die in Gestalt eines eigenen Parlaments und eigener Exekutive über ein gewisses Maß an Autonomie verfügte.

Von September 1917 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war das gesamte Baltikum deutsch besetzt. In E. deklarierte nach der Oktoberrevolution ein nationales „Rettungskomitee“ am 24.2.1918, kurz vor der deutschen Besetzung Tallinns, unter Konstantin Päts die Unabhängigkeit. Nach dem Frieden mit dem Deutschen Reich (Brėst-Litovsk) versuchten sowjetische Truppen das Baltikum zurückzuerobern. Im Januar 1919 kontrollierten sie etwa zwei Drittel E.s. Auf der Seite der Bolschewisten kämpften auch estnische Einheiten, die aber von der Bevölkerung trotzdem als fremde Armee begriffen wurden. E. konnte unter dem Oberbefehl von Johan Laidoner (1884-1953) Truppeneinheiten mobilisieren, und mit Hilfe finnischer und anderer Freiwilliger sowie der britischen Marine gelang es zum Jahrestag der Unabhängigkeit, die sowjetischen Einheiten aus dem Land zu drängen. Bei der Befreiung Narvas spielten auch die Partisaneneinheiten von Julius Kuperjanov (1894-1919) eine wichtige Rolle. Im Juni 1919 wurden einfallende Truppen der deutschen Landwehr in der Schlacht bei Wenden (lett. Cēsis) besiegt. Die Kriegshandlungen endeten am 2.2.1920 mit dem Friedensvertrag von Tartu, in dem Russland (die Sowjetunion) für immer auf Ansprüche gegen E. verzichtete.

E. wurde eine parlamentarische Republik. Die Verfassung sah nur einen Staatsältesten (Riigivanem) als Regierungschef vor. Der große (deutschbaltische) Grundbesitz wurde mehr oder weniger entschädigungslos enteignet. Die nach dem gescheiterten kommunistischen Putsch in Tallinn 1924 erlassene Minderheitsgesetzgebung war mit der Gewährung weitreichender Kulturautonomie für die nationalen Minderheiten vorbildlich. Nicht zuletzt Dank der Reparationszahlungen Russlands (in Höhe von 15 Mio. Goldrubel) konnte E. neben der Landwirtschaft auch die Ölschiefergewinnung und Nutzung intensivieren. Doch in Zeiten der Krise kam es zu einer verstärkten interventionistischen Wirtschaft.

Die Instabilität des extremen Parlamentarismus begünstigte die Offensive der Freiheitskriegsveteranen, zur Einführung des Präsidialsystems 1933. 1938 gelang Päts, der 1934 das Parlament entmachtet hatte und faktisch per Dekret regierte, über die Einberufung einer Nationalversammlung, die Durchsetzung einer Präsidialverfassung.

Im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 wurde E. dem sowjetischen Interessensbereich zugeschlagen. Ca. 20.000 Deutschbalten wurden 1939–41 infolge einer Vereinbarung der deutschen Reichsregierung und der estnischen Regierung (meist gegen ihren Willen) in den eroberten polnischen Warthegau gebracht. Nachdem die Sowjetunion ultimativ die Gewährung von Stützpunkten gefordert hatte, besetzte sie E. im Zuge eines erneuten Ultimatums im Juni 1940. Es folgten Wahlen unter dem Eindruck von Terror. Das daraus hervorgegangene Parlament beantragte im August 1940 die Aufnahme E.s als Estnische SSR in die UdSSR. Päts wurde ins Innere der Sowjetunion verbracht, insgesamt 10.205 Menschen nach Sibirien deportiert.

Die anschließende deutsche Besatzungszeit 1941-44 ist, nicht zuletzt, da sich mit ihr die Hoffnung auf erneute Eigenstaatlichkeit verband, der Bevölkerung positiver im Gedächtnis erhalten geblieben als die sowjetische, die von Repressionen und massenhaften Deportationen, die am 14.6.1941 gleichzeitig in allen besetzten baltischen Staaten begannen, gekennzeichnet war. Von den 32.100 estnischen Männern, die nach Sowjetrussland zur Zwangsarbeit verschleppt wurden, starb ca. ein Drittel. Ungeachtet dessen, dass auch unter der deutschen Besatzung ca. 7000 estnische Bürger umkamen, darunter ca. 1000 estnische Juden sowie die estnischen Roma, gab es in E. sogar Verbände der Waffen-SS, deren Rolle bis heute umstritten ist. Übliche Definitionen von Kollaboration und Widerstand, wie für Frankreich während des Zweiten Weltkriegs, greifen in E. jedoch nicht, denn Kollaboration mit dem einen Besatzer wurde oft als Widerstand gegen den anderen Besatzer verstanden.

Die Sowjets eroberten E. 1944 zurück und einverleibten Russland insgesamt 2334 km² um Ivangorod (estn. Jaanilinn) und Pečory (estn. Petseri). Eine bis 1956 agierende, als sog. Waldbrüder bekannte Partisanenbewegung sorgte 1949 für eine erneute Deportationswelle, von der 20.722 Personen betroffen waren, unter diesen nicht zuletzt Widerstandleistende gegen die Kollektivierung. Aber in den 50er Jahren nahm das wirtschaftliche Interesse an E. zu, das für osteuropäische Verhältnisse gut entwickelt und mit Ostseehäfen verkehrsgünstig lag. Bevorzugt wurde hier Industrie angesiedelt und damit kamen Arbeitskräfte aus anderen Sowjetrepubliken, die starke Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur E.s zur Folge hatten.

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Ab den 1970er Jahren wuchs die Dissidentenbewegung, es kam v. a. an den Universitäten immer wieder zu Protesten gegen die Russifizierung. Prägende Integrationsfiguren dieser Zeit waren die beiden Schriftsteller Jaan Kross (*1920) und der spätere Präsident Lennart Meri (*1929).

Im Rahmen der von Gorbatschow ab 1985 eingeleiteten Reformpolitik entwickelten sich die baltischen Republiken bald zu deren Vorreitern. Die Anfänge der nationalen Bewegung lassen sich auf das Jahr 1987 datieren, als erste ökologisch motivierte Proteste gegen eine Erweiterung des Phosphatabbaus im Nordosten E.s einsetzten, welche neben der Umweltbelastung auch eine weitere Welle der Russifizierung bedeutet hätte. 1987 fanden an den Jahrestagen des Hitler-Stalin-Paktes vom 23.8.1939 und der Massenverhaftungen vom 14.6.1941 die ersten großen Demonstrationen statt. Beide Ereignisse hatte die sowjetische Geschichtsschreibung bis dahin geleugnet. Den Höhepunkt der Protestaktionen bildete am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, dem 23.8.1989, der sog. Baltische Weg, eine Menschenkette von Tallinn über Riga nach Wilna.

Die geplanten Wirtschaftsreformen im Namen einer stärkeren Dezentralisierung der sowjetischen Wirtschaft veranlassten 1987 vier estnische Funktionäre – darunter die noch heute aktiven Politiker Edgar Savisaar und Siim Kallas – zu dem unter dem Namen „Selbstwirtschaftendes E.“ (Isemajandav Eesti, IME) bekannt gewordenen Konzept, das die wirtschaftliche Selbstverwaltung des Landes zum Ziel hatte. (Die Abkürzung IME als Wort gelesen bedeutet „Wunder”.)

Daraus erwuchs eine neue Bewegung des nationalen Erwachens (Ärkamine). 1988 konnte sowohl die „Volksfront“ (RR) als reformkommunistische Kraft als auch die „Estnische Nationale Unabhängigkeitspartei“ (ERSP) gegründet werden. Mit ihrer Forderung nach mehr Autonomie mobilisierte die RR als eine Art überparteiliche Organisation Menschen aus den Reihen der Kommunisten wie der Opposition. Kurz darauf organisierte sie auf dem „Sängerplatz“ (Lauluväljak) in Tallinn ein Sängerfest mit 300.000 Teilnehmern, was später den Begriff der „singenden Revolution” prägte.

Die von Moskau geduldete Opposition fand jedoch besonders deutliche Kritik als im November 1988 der Oberste Sowjet E.s jene Eigenständigkeit in Anspruch nahm, welche die sowjetische Verfassung offiziell garantierte, und seine Souveränität erklärte. Estnische Gesetze sollten künftig Vorrang vor den sowjetischen haben, Privateigentum wurde zugelassen und geschützt sowie die territoriale Hoheit proklamiert. Der damit ausgelöste Konflikt konnte bis zur Unabhängigkeit 1991 nicht gelöst werden, weil die sowjetische Verfassung keine Organe zur Regelung derartiger Streitfragen kannte. Estnisch wurde 1989 wieder erste offiziele Amtssprache (damals noch neben dem Russischen).

Ende März 1990 verabschiedete der neu gewählte Oberste Sowjet E.s eine Resolution, in der die durch die sowjetische Okkupation de facto nur unterbrochene Unabhängigkeit des Landes bekräftigt wurde. Das Parlament proklamierte eine Übergangsperiode, die mit der Bildung verfassungsmäßiger Organe beendet werden sollte. In diesem Zeitraum wurde außerdem mit den Wahlen zum „Estnischen Kongress“ quasi ein Gegenparlament konstituiert, dem zwar jegliche verfassungsmäßige Legitimation fehlte, das aber als Sprachrohr der estnischen Bevölkerung so weit akzeptiert wurde, dass die künftige Verfassung durch einen von beiden Kammern bestellten Ausschuss beraten wurde.

Im Vorfeld der Wahlen waren 700.000–850.000 Einwohner zur Registrierung als „Bürger der Republik E.“ gegangen. In der Folge beschlossen die drei baltischen Republiken im Sommer 1990 gemeinsam, an der Ausarbeitung des neuen Unionsvertrages der Sowjetunion nicht mitzuwirken. Moskau reagierte mit Zugeständnissen: und ließ die alten baltischen Nationalflaggen und Hymnen wieder als nationale Symbole zu.

Bis heute jedoch wurde der vom Friedensvertrag von Tartu (1920) abweichende Grenzstatus zwischen E. und der Russischen Föderation nicht vertraglich fixiert, weil Russland die Ratifizierung des 1995 paraphierten Dokuments, in dem E. auf seine Ansprüche auf die von der Sowjetunion 1944 okkupierten Gebiete verzichtet, mit Hinweis auf die bestehenden Minderheitenprobleme verweigert. In einem Referendum über die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit 1991 stimmte die Mehrheit der Bevölkerung E.s bei einer Beteiligung von 82,9 % mit 77,8 % für ein unabhängiges E., darunter etwa 30 % der russischsprachigen Bevölkerung.

Nach dem misslungenen Putschversuch vom 19.8.1991 in Moskau und dem Ende der Sowjetunion wurde E. durch Russlands Präsidenten Jelzin im August 1991 und am 6.9. auch von sowjetischer Seite durch Gorbatschow anerkannt. Am 10.9. erfolgte die Aufnahme in die KSZE und am 17. in die UNO. Der Abzug der sowjetischen Truppen erfolgte 1994.

Im Herbst 1991 begann die verfassunggebende Versammlung eine neue Verfassung auszuarbeiten, die im Sommer 1992 in einem Referendum bestätigt wurde. Wie kaum ein anderes Land Mittel- und Osteuropas verfolgte E. nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems konsequent einen marktwirtschaftlich orientierten Kurs mit radikalen Reformen unter einer Regierung mit geringem Durchschnittsalter: Schnell entstand das Image des „baltischen Tigers“. E. zählt sich darum selbst ungern weder zu Osteuropa noch zum Baltikum und ist heute gesellschaftlich geprägt von dem Wunsch, sich von der sowjetischen Vergangenheit abzusetzen, wie auch darum bemüht, sich von der postkommunistischen Welt abzuheben. So erklärt sich, dass der frühere Außenminister und jetzige Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves (*1953) von seinem Land als einem nordeuropäischen sprach. Am 4.9.2003 votierte E. mit 66,8 % (bei einer Wahlbeteiligung von 64 %) für den Beitritt zur EU und hatte damit die niedrigste Zustimmungsrate aller zentral- und osteuropäischen EU-Neumitglieder. Seit 2.4.2004 ist E. Mitglied der NATO, seit 1.5.2004 Mitglied der EU.

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(Axel Reetz)

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