Revolution (1905)

Revolution von 1905

Inhaltsverzeichnis

1 Ursachen

Zum Ausbruch der R. von 1905 in Russland trugen verschiedene Strukturmerkmale und Ursachen bei. Das Zarenreich besaß eine politische Verfassung, die die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht widerspiegelte und die Bevölkerung von einer verrechtlichten Teilhabe an der politischen Macht ausschloss. Der Zar war als Selbstherrscher (samoderžec) Inhaber der alleinigen politischen Gewalt. In der Exekution seiner politischen Entscheidungen wurde er von der Bürokratie unterstützt, deren Vertreter jedoch nur vereinzelt Einfluss gewinnen konnten. Dieses politische System kontrastierte stark mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen im Zarenreich.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. hatte eine vom Staat stark geförderte Industrialisierung eingesetzt, die zum Anwachsen der Städte, insbesondere der Metropolen St. Petersburg und Moskau geführt und ein Proletariat hervorgebracht hatte, welches unter extrem harten Bedingungen seiner Arbeit nachgehen musste. Diese Arbeiterschaft, in sich stark differenziert, wies ein hohes Protestpotential auf, das in der Durchsetzung ökonomischer Forderungen immer wieder zu Streiks führte, an denen sich mitunter Tausende beteiligten. Zugleich waren diese Arbeiter zu einem großen Teil rechtlich noch immer mit ihrer Dorfgemeinde (obščina, mir) verbunden, so dass es auch um die Wende zum 20. Jh. noch keine abgeschiedenen Lebenswelten von Arbeitern und Bauern gab. Noch zu Beginn des 20. Jh. war das Russländische Imperium ein Agrarstaat, der sich auf den in seiner Bedeutung allerdings schwindenden gutsbesitzenden Adel stützte. Etwa 90 % der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. Doch trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft in den „Großen Reformen“ in den 60er Jahren des 19. Jh. litten die Bauern unter Landarmut und Pachtabhängigkeit, die ihren tradierten Rechtsvorstellungen widersprachen. So führten – wie etwa in den Jahren 1902/03 – Missernten zu Hungerunruhen und Agrarprotest, ohne dass die Autokratie sich anders zu helfen gewusst hätte, als diese militärisch niederzuschlagen.

Innerhalb der gebildeten Schichten des Zarenreiches, die allein sich als „Gesellschaft“ (obščestvo) begriffen, hatten die Reformen Zar Aleksandrs II. (1855–81) Hoffnungen geweckt, die Regierung wolle nicht nur das System effektivieren, sondern tatsächlich eine politische Teilhabe zulassen. Als sich diese Erwartungen nicht erfüllten, kam es zu einer starken oppositionellen Haltung innerhalb der akademisch gebildeten Intelligenz (intelligencija) und in Teilen der Bürokratie sowie zu einem Aufschwung der revolutionären Parteien, die sich nicht mit Veränderungen des Systems zufrieden geben wollten, sondern auf dessen Sturz abzielten.

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Professoren und Studenten, Anwälte und Ärzte, Angestellte der Selbstverwaltungsorgane auf dem Lande beanspruchten für sich, gesellschaftliches und politisches Sprachrohr zu sein. Dabei gab es insbesondere unter den Führern der russischen Sozialdemokratie und der Sozialrevolutionäre im Exil teilweise erhebliche ideologische Differenzen über Ziele und Methoden des Kampfes gegen die Autokratie. Seit 1899 hatte es wiederholt umfangreiche Studentenproteste gegeben, die v. a. von liberalen Kreisen gestützt wurden. Insbesondere die Sozialrevolutionäre verlegten sich in ihrem Kampf jedoch auf den individuellen Terror und verübten 1902 und 1904 erfolgreiche Mordanschläge auf zwei Innenminister und mehrere Gouverneure. Der soziale und gesellschaftliche Sprengstoff, der in dem Auseinanderklaffen zwischen diesen Entwicklungen und dem erstarrten politischen System lag, schien nur eines Anlasses zu bedürfen, um sich zu entzünden.

Dies wurde auch von Ratgebern des Zaren so gesehen, die durch Gründung von staatlich kontrollierten Arbeitervereinen, Fabrikinspektoren und Kontrolle der Landschaftsversammlungen (Semstwo, russ. zemstvo, Pl. Semstwa, russ. zemstva) der Vielzahl ungelöster Probleme beizukommen versuchten, ohne tiefgreifende Reformen des Systems durchführen zu müssen. Als im Februar 1904 der fahrlässig riskierte Krieg gegen Japan über Interessensphären in der Mandschurei und Korea ausbrach und sich mit schweren Niederlagen zu Lande und zu Wasser zu einer Katastrophe auswuchs, wurde das Versagen der Autokratie auf innen- und außenpolitischem Feld einmal mehr deutlich.

Semstwo-Liberale und ›intelligencija‹, organisiert im sog. Befreiungsbund (Sojuz osvoboždenija), forderten gemeinsam auf einem (illegalen) Kongress im November 1904 in Moskau eine Volksvertretung, die auf der Basis freier gleicher und geheimer Wahlen zusammengesetzt sein sollte. Die Regierung, deren Generäle und Admirale den Krieg im Fernen Osten nicht zu führen in der Lage waren und die soziale und gesellschaftliche Veränderung abblockte, sollte mit einer Abfolge von Banketten (sog. Bankettkampagne, russ. Kampanija banketov), die nicht zuletzt durch die Beteiligung von Arbeitern und Studenten zu politischen Kundgebungen umfunktioniert wurden, zur Veränderung gezwungen werden. Die sich artikulierende „Zivilgesellschaft“ übte somit in den Metropolen und Provinzstädten an der Wende zum Jahr 1905 erheblichen Druck auf die Regierung aus.

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2 Verlauf

Zu Beginn des Jahres 1905 entwickelte sich von den Werften der Putilov-Werke ausgehend ein Streik in der Hauptstadt St. Petersburg, in dem es vordergründig nur um ökonomische Anliegen zu gehen schien. Koordiniert zunächst von einer legalen Arbeiterorganisation unter der Führung des Popen Georgij A. Gapon (1870–1906), wurden aber auch bald politische Forderungen erhoben. Die Arbeiter beschlossen, eine Petition zu formulieren und vor den „Winterpalast“ (zimnij dvorec) zu ziehen, um sie dem Zaren zu übergeben. Die frühneuzeitliche Tradition, sich unter Umgehung von Adel und Bürokratie in Situationen der Not unmittelbar an den Herrscher zu wenden, sollte hier wiederbelebt werden. Die Punkte dieser Petition, an denen auch Mitglieder der liberalen Bewegung mitarbeiteten, enthielten nicht nur Forderungen nach Verbesserung der Lage der Arbeiter und nach Land für die Bauern, sondern auch den Ruf nach Bürgerrechten und einer Verfassung auf der Basis einer parlamentarischen, konstitutionellen Monarchie. Obwohl in respektvollem Ton gehalten, war dies ein ebenso deutlicher wie umfassender Forderungskatalog, der die Wünsche verschiedener Oppositionsgruppen über die Arbeiterschaft hinaus bündelte.

Am 9.(22).1.1905 zogen über 100.000 Menschen unter der Führung Gapons vor den „Winterpalast“. Obwohl die Demonstration angekündigt war, wussten die Behörden nicht, wie sie reagierten sollten. Zar Nikolaj II. (1894–1917) befand sich nicht in der Stadt. Überforderte Offiziere ließen auf die Menge schießen. Straßenkämpfe setzten in verschiedenen Stadtvierteln Petersburgs ein; einige hundert Tote und Verletzte waren am Ende des Tages zu beklagen. Daraufhin kam es zu einer massenhaften Streikbewegung, die über die Hauptstadt hinaus auch Moskau und andere urbane Zentren erfasste. Die liberale Opposition und die revolutionären Parteien schrieben der Autokratie als System die Schuld an der Eskalation der Gewalt zu. Der Tag ging als Petersburger „Blutsonntag“ in die Geschichte ein und wird seither in der Geschichtsschreibung nicht selten als das Datum genommen, an dem der Mythos vom „guten Zaren“ nachhaltigen Schaden erlitten hat.

Am 4.(17.)2.1905 gelang einem sozialrevolutionären Attentäter ein Mordanschlag auf den Onkel des Zaren, Großfürst Sergej Aleksandrovič (*1857). Vor dem Hintergrund von Terror und Streikbewegung ließ sich Nikolaj widerwillig dazu bewegen, auf die Bevölkerung zuzugehen. Er empfing handverlesene Arbeiter und versprach die Einrichtung einer Kommission, die die Ereignisse des „Blutsonntags“ und die ökonomischen, nicht aber die politischen Forderungen der Arbeiter untersuchen sollte. Die Kommission beendete ihre Arbeit ohne greifbare Ergebnisse. Nach langem Zögern versprach Nikolaj am 18.2.(3.3.)1905 in einem Reskript an den Innenminister Aleksandr G. Bulygin (1851–1919) die Einrichtung eines beratenden Parlaments, einer Duma. Diese Ankündigung genügte weder den Arbeitern noch den Vertretern der Intelligenz.

Während sich der Protest von den urbanen russischen Zentren auch auf die nichtrussischen Gebiete ausbreitete, etwa nach Polen, Südkaukasien oder ins Baltikum, erwiesen sich die Liberalen und Angehörige der städtischen Intelligenz als organisatorischer Motor der Opposition. Im März und April 1905 gründeten sie gewerkschaftsähnliche, berufständische Verbände (sojuzy), die sich im Mai 1905 in einer Dachorganisation, dem „Bund der Bünde“ (Sojuz sojuzov) zusammenschlossen. Er koordinierte die Vorbereitung weiterer Aktivitäten. Die Semstwo-Angestellten förderten auf dem Land die Gründung eines Bauernbundes, der zwar Forderungen nach gerechter Landverteilung artikulierte, aber den aufflammenden Bauernprotest nicht kontrollieren konnte. Auch die Frauen gründeten im Mai 1905 einen Bund (Sojuz ravnopravnosti ženščin, „Bund für die Gleichberechtigung der Frauen“), der seine Interessen jedoch nicht dauerhaft zu Gehör bringen konnte. Die revolutionären Parteien spielten keine entscheidende Rolle.

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Menschewisten und Bolschewisten wie auch die Sozialrevolutionäre waren sich über die von der Opposition zu erreichenden Ziele uneinig. Insbesondere die Führung der Bolschewisten um Vladimir I. Lenin beargwöhnte vom Schweizer Exil aus die gewerkschaftliche Zielsetzung der Streiks. Die Frage, ob die Arbeiterklasse für eine R. in Russland schon bereit war, wurde nicht nur von den Bolschewisten im Frühsommer 1905 verneint. Dennoch versuchten sie, die berufständischen Organisationen unter ihre Kontrolle zu bringen oder, weil dies in den meisten Fällen nicht gelang, diese zu spalten. Im Sommer und Herbst 1905 erreichten die Liberalen und die städtische Intelligenz ihren vielleicht größten Einfluss innerhalb der Oppositionsfront gegen die Autokratie.

Unter dem Eindruck der Unbeweglichkeit des Zaren und der Katastrophe im Krieg gegen Japan – im Mai 1905 wurde die um die halbe Welt geführt Ostseeflotte in der Straße von Tsushima durch die japanische Marine vernichtend geschlagen – führte der Rektor der Moskauer Universität, Sergej N. Trubeckoj (1862–1905), am 6.(19.)6.1905 eine Deputation der gesellschaftlichen Oppositionsbewegung zum Zaren an, und legte ihm eindrücklich nahe, den Weg substantieller Reformen zu beschreiten und den Krieg zu beenden.

Dass auch das Militär, bislang loyale Stütze der Autokratie, zu einem Krisenherd werden konnte, zeigte sich in der aufsehenerregenden Meuterei auf dem Panzerkreuzer ›Potëmkin‹ in Odessa (14.[27]–25.6.[8.7.]1905), die Vorbildcharakter für umfängliche Meutereien in der baltischen Marine hatte. Bald griffen diese auch auf zahlreiche Garnisonen der Land- und auf die für den Krieg mobilisierten Truppen im Fernen Osten über. Zwar konnte der 1903 in Ungnade gefallene langjährige Minister und Staatsmann Sergej Ju. Vitte (1849–1915), auf dessen Dienste Nikolaj nur widerwillig zurückgriff, im amerikanischen Portsmouth einen glimpflichen Frieden mit Japan aushandeln (23.8.[5.9.]1905), doch vermochte dies zu keiner Beruhigung der politischen Landschaft in Russland zu führen.

Das im August 1905 verkündete Wahlgesetz zur sog. Bulygin-Duma stellte für nahezu alle gesellschaftlichen Gruppierungen eine Enttäuschung dar: Ein Kurienwahlsystem, dem ein starker Zensus zugrunde lag, schloss weite Teile der Bevölkerung, insbesondere aber Teile der Arbeiterschaft und der Städter aus. Adel und Bauern, in denen die Regierung noch immer ihre Machbasis sah, wurden bevorzugt.

In dieser Situation erhöhte sich der Reformdruck auf die Autokratie. In den Universitäten wurden Versammlungen unter Beteiligung der Arbeiter abgehalten. Die ersten Bünde begannen im September 1905 einen Generalstreik vorzubereiten. Federführend waren die Bünde der Eisenbahner, der Drucker und der Metallarbeiter. Ein Streik, den der Eisenbahnerbund am 7.(20.)10.1905 in Moskau initiierte, entwickelte sich zu einem Generalstreik, der von weiten Teilen der Gesellschaft mitgetragen wurde und selbst bis in die Bürokratie des Zaren hinein Sympathisanten fand. In Moskau und St. Petersburg brach die Stromversorgung zusammen, Geschäfte schlossen. Internationale Bankiers, mit denen Sergej Vitte über eine Rettung der zerrütteten russischen Staatsfinanzen verhandeln wollte, saßen im Petersburger Grandhotel „Europa“ im Dunkeln. Angesichts des Drucks stellte Vitte den Zaren auf dessen Sommersitz „Peterhof“ (Petrodvorec) vor die Wahl, den Weg der Reformen konsequent zu gehen oder aber eine Militärdiktatur zu errichten und damit das Land faktisch in einen Bürgerkrieg zu stürzen.

Da auch seine engsten Berater nur noch den Weg der Reformen sahen, unterzeichnete der Zar schließlich das von Vitte und anderen formulierte „Oktobermanifest“ (Oktjabrʹskij manifest, 17.[30.]10.1905), das der Bevölkerung bürgerliche Freiheiten, den Wegfall der Zensur und eine Verfassung in Aussicht stellte. Die Reaktionen auf dieses Manifest waren gemischt. Obwohl es verschiedentlich bereits als Inkraftsetzung einer Verfassung verstanden wurde, zeigten sich viele Liberale und Angehörige der Intelligenz enttäuscht über die Unbestimmtheit der Ankündigungen. Während die revolutionären Parteien dazu übergingen, den bewaffneten Aufstand zu propagieren, fürchteten Monarchisten, Unternehmer und Teile der Liberalen die Unkontrollierbarkeit des Protests. Tatsächlich war in diesen „Tagen der Freiheit“ bis zum Dezember 1905 die zaristische Autorität völlig zusammengebrochen, nicht zuletzt weil durch den Streik der Post- und Telegraphenbediensteten die Kommunikation im Lande vorübergehend unterbrochen war. Zu den Streiks in den Städten, die immer wieder auch zu Straßenkämpfen führten, trat nun nach der teilweise schlechten Ernte des Jahres 1905 Bauernprotest hinzu. Insbesondere in der Ukraine, im Baltikum aber auch in zentralrussischen Gebieten führten Bauern Vieh weg, brannten Gutshäuser ab und nahmen Land in Besitz.

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Was sonst mit militärischer Gewalt unterdrückt worden war, entwickelte sich nun zu einem Flächenbrand, der von Meutereien unter den bäuerlich geprägten Soldaten begleitet wurde. Mit Oktober 1905 flammten auch die Pogrome gegen die Juden wieder auf, die als Projektionsfläche sozialer Ängste der Modernisierungsverlierer und sozial deklassierten Gruppen dienten. Die ›Pogromščiki‹ rechtfertigten ihr Tun mit der Treue zum Zaren. Während sich in dieser Phase die liberalen Parteien, die „Konstitutionellen Demokraten“ (Kadety, Gründungskongress 12.–18.10.1905) und „Oktobristen“ (Oktrjabristy, benannt nach dem „Oktobermanifest“) formierten, bildeten auch die Rechten in der antikonstitutionellen, national-chauvinistischen „Union des russischen Volkes“ (Sojuz russkogo naroda, gegr. Anfang November 1905) ein Sammelbecken, das eng mit den „Schwarzen Hundertschaften“ (Čërnye sotni), die die Judenpogrome wesentlich trugen, verbunden war.

Ein Organ gewann als Forum der Opposition besonders an Bedeutung, das bereits seit Mai 1905 gelegentlich erprobt wurde: In zahlreichen Städten entstanden „Räte“ (Sowjets, russ. sovety), in denen Arbeiter und/oder Soldaten ihre Deputierten entsandten, um in einer überparteilichen, basisdemokratischen Form ihre Interessen zu formulieren und in aktives Handeln umzusetzen. Während Vertreter der liberalen Intelligenz zu Beginn der Existenz dieser Räte noch ein wichtige Rolle spielten, erkannten jetzt insbesondere die revolutionären Parteien deren Potential. Der in Petersburg unter maßgeblicher Leitung der Menschewisten, insbesondere Pëtr A. Chrustalev (eigentl. Georgij S. Nosarʹ, 1877–1918) begründete Sowjet gewann Leitfunktion für andere Räte im Reich. Der Konflikt zwischen den Arbeitern und den Berufsrevolutionären, die versuchten die Aktionsrichtungen der Räte zu bestimmen und damit deren geschlossenes Agieren verhinderten, blieb jedoch bestehen. Auch ein von dem Menschewisten Aleksandr Parvus (eigentl. Izrailʹ Helphand [russ. Gelfand], 1867–1924) entwickeltes „Finanzmanifest“ („Finanzmanifest“ (Finansovyj manifest), welches die Verweigerung jeglicher Steuerzahlung und den Abzug aller Edelmetall und Spareinlagen von Banken und Sparkassen propagierte, um den Staat in den Bankrott zu zwingen, hatte letztlich nicht den erhofften Erfolg.

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Stattdessen ging die Regierung unter dem zum Ministerpräsidenten ernannten Vitte im Rahmen ihrer zweigleisigen Taktik – einerseits Zugeständnisse, andererseits Durchsetzung der staatlichen Autorität mit Gewalt – zum Gegenangriff über. Chrustalev wurde am 26.11.(9.12.)1905 verhaftet. Wenige Tage später wurde gar der ganze Petersburger Sowjet mit Lev D. Trotzki (1879–1940) an der Spitze festgesetzt. Als dessen Verhaftung vom Moskauer Sowjet zum Anlass genommen wurde, den bewaffneten Aufstand zu wagen, setzte die Regierung loyale Garderegimenter ein, um in blutigen Straßenkämpfen diesen Aufstand (9.[22.]–18.[31.]12.1905) niederzuschlagen, der als letzter Höhepunkt im R.sjahr 1905 zu bezeichnen ist. Dabei hatten die Bolschewisten, die diesen Aufstand mitgeplant und durchgeführt hatten, selbst nicht an den Erfolg geglaubt.

Durch die Aufspaltung der in ihren Interessen und Zielen weitgefächerten Opposition nach dem „Oktobermanifest“, die Stabilisierung der Staatsfinanzen durch eine internationale Anleihe, die im April 1906 realisiert wurde, und durch den Einsatz militärischer Gewalt von ausgewählten kleinen Einheiten, die z. B. in Sibirien entlang der Transsibirischen Eisenbahn oder im Baltikum Unruhen unterdrückten, gewann die Regierung das Heft des Handelns zurück. Der revolutionäre Schwung der Arbeiter hingegen erlahmte ebenso wie die Bauernproteste und die Unruhen im Militär. Die Liberalen, insbesondere die „Konstitutionellen Demokraten“, erklärten, erschrocken über die revolutionäre Gewalt, weitergehende Veränderungen auf friedlichem Wege erreichen zu wollen. Das am 11.(24.)12.1905 verkündete Wahlrecht zur Duma billigte nun auch Arbeitern und Kleinhandwerkern in den Städten die Stimmberechtigung zu. Schließlich wurden in einem „Versammlungs- und Vereinsgesetz“ immerhin einige Errungenschaften des R.sjahres 1905 – die illegal gegründeten Gewerkschaften, Bünde und Parteien – auch offiziell anerkannt. So versagten verschiedene Gruppierungen der liberalen und großbürgerlichen Opposition einem weiteren revolutionären Kampf ihre Unterstützung, was in den Augen der Bolschewisten deren „bourgeoisen Charakter“ offenbarte.

Kurz vor dem Zusammentritt der neuen Duma am 27.4.(10.5.)1906 hatte der Zar auf administrativen Wege ein neues „Staatsgrundgesetz“ (osnovnoj gosudarstvennyj zakon) erlassen, das neben der Duma auch einen reformierten Staatsrat als zweite Kammer vorsah, dessen Mitglieder zur Hälfte ernannt wurde. Der Autokrat hielt damit wesentliche Entscheidungsbefugnisse weiterhin in Händen. Die disparaten Zielsetzungen, die die verschiedenen Segmente und Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft hatten durchsetzen wollen, waren nur z. T. Wirklichkeit geworden. Während der Bauernprotest und die Meutereien in Marine und Heer mit massivem Militäreinsatz niedergeschlagen worden waren und es auch den Nationalitäten nicht gelungen war, dauerhafte Autonomie und Eigenrechte einzufordern, waren mit der Einrichtung der Duma und dem Erlass des „Staatsgrundgesetzes“ Schritte vollzogen, die Max Weber (1864–1920) zwar als „Scheinkonstitutionalismus geißelte, die aber doch die Möglichkeit der weiteren Eroberung politischen Raums boten. Die Lösung der sozialen Probleme blieb vertagt. Die wohl größte Hypothek des Jahres 1905 war die Lernunwilligkeit des Autokraten selbst. Nikolaj II. meinte, dass das „Oktobermanifest“ und die daraus resultierenden Zusagen ihm unter Zwang abgerungen worden seien, weswegen er sich in seinem politischen Handeln zu keinem Zeitpunkt an sie gebunden sah.

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3 Bedeutung und Kontroversen

Schon Lenin sprach ex post von der R. von 1905 als einer „Generalprobe“ für den Sturz des Zarismus und eine dem folgende sozialistische R. In der Tat ist die R. von 1905 nicht selten als Vorgeschichte des R.sjahres 1917 und der Machtergreifung der Bolschewisten interpretiert worden. Insbesondere die sowjetische Geschichtsschreibung hat die Zwangsläufigkeit der Ereignisse des Jahres 1905 hin zu der R. von 1917 immer wieder betont. Der Hervorhebung einer Zwangsläufigkeit der Ereignisse liegt jedoch ein zu sehr auf das Ziel des Umsturzes gerichtetes Geschichtsbild zugrunde, das bei einer Analyse der Handlungen beteiligter Personen aber auch kollektiver Gruppen nur begrenzte Erklärungskraft besitzt.

Die R. von 1905 war ein bedeutendes Kapitel nicht nur der russischen, sondern der Weltgeschichte. In der internationalen Politik stellte sich die Frage nach der Stabilität des politischen Systems in Russland; revolutionäre Bewegungen in industriell entwickelten aber auch kolonialen Ländern rezipierten die Erfahrungen sowohl des russisch-japanischen Krieges als auch der R. von 1905 äußerst intensiv.

Die R. von 1905 war eine Abfolge von Ereignissträngen, die in vieler Hinsicht katalysierende Funktion besaß. In ihrer Überschneidung erlebte die Formierung der Zivilgesellschaft des Zarenreiches einen qualitativen und quantitativen Sprung. Der Organisationsgrad und damit die Foren der Öffentlichkeit innerhalb der Gesellschaft wuchsen immens an. Die Entstehung von Gewerkschaften und einer Parteienlandschaft von der revolutionären Linken bis zur reaktionären Rechten zeigen diesen ebenso an, wie das rasante Erhöhung der Zahl der Zeitungen und Zeitschriften. Die mit dem „Staatsgrundgesetz“ geschaffene Duma war trotz ihrer schwachen legislativen Kompetenz ein Forum der Öffentlichkeit, das intensiv für die Artikulation politischer gesellschaftlicher und ökonomischer Interessen genutzt wurde.

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Mit Blick auf Russland als multiethnisches Imperium bedeutete die R. einen Völkerfrühling: Gerade an den nichtrussisch dominierten Peripherien waren die Auseinandersetzungen besonders intensiv und führten zugleich zur Schärfung der eigenen Identität im Nationsbildungsprozess, so z. B. im Baltikum bei Esten und Letten in Auseinandersetzung mit der deutschbaltischen Elite oder in Südkaukasien, wo sich in Tiflis (heute Tbilissi), Baku und andernorts interethnische und –religiöse Spannungen gewaltsam Bahn brachen. Es lässt sich also festhalten, dass 1905 im Zarenreich ganz unterschiedliche R.en stattfanden: in den Städten, wo Industrialisierung und Urbanisierung zu sozialem Protest und der Forderung nach politischer Teilhabe führte, auf dem Land, wo die Bauern aus tradierten Rechtsvorstellungen heraus Land als Teilhabe an ökonomischen Ressourcen forderten, und in den ethnisch gemischt besiedelten Gebieten, in denen die verschiedenen Völker ein Recht auf nationale Selbstbestimmung forderten.

Dennoch ist das Diktum von der „Generalprobe“ nicht ganz von der Hand zu weisen. Mit der Art der Protest- und Streikorganisation, schließlich mit den Arbeiter- und Soldatenräten waren Formen der Auseinandersetzung mit dem Zarismus gefunden worden, die sich auch 1917 wiederbeleben ließen. Für das Jahr 1905 ist von Zeitgenossen der Begriff der R. benutzt worden, wiewohl am Ende der Ereignisse nicht die vollkommene Umwälzung der Staats- und Gesellschaftsverfassung stand, die üblicherweise als Kriterium für die Nutzung dieses Begriffes dient. Zeitgenossen sprachen zugleich auch, in Anknüpfung an Ereignisse an der Wende vom 16. zum 17. Jh., von einer „Zeit der Wirren“. Beide Bezeichnungen bleiben geeignet, das Jahr 1905 und seine Konsequenzen für die russische Geschichte – das nur wenige Jahre dauernde „konstitutionelle Experiment“ der Dumaperiode und die R.en von 1917 – zu charakterisieren.

Ascher A. 1988-92: The Revolution of 1905. Bd. 1: Russia in Disarray. Bd. 2: Authority Restored. Stanford. Hildermeier M. 1989: Die Russische Revolution 1905-1921. Frankfurt a. M. Kusber J. 1997: Krieg und Revolution in Russland 1904-1906. Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft. Stuttgart (=Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 47). Trotzki L. 1923: Die Russische Revolution 1905. Berlin. Mommsen W. J. (Hg.) 1996: Studienausgabe der Max Weber Gesamtausgabe. Bd 10: Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1905-1912. Tübingen.

(Jan Kusber)

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