Tartu (Stadt)

Tartu (estn., dt. hist. Dorpat, russ. 1893–1918 Jurʹev); zweitgrößte Stadt Estlands, 185 km südöstlich von Tallinn gelegen, 101.965 Einwohner (2006) auf einer Fläche von 38,8 km², 31–79 m ü. d. M., von Nordwesten nach Südosten durchflossen vom Fluss Emajõgi (dt. hist. Embach), der 30 km östlich in den Peipus-See mündet; Verwaltungssitz des Landkreises Tartumaa.

T.s erste Erwähnung verbindet sich mit der Eroberung der altestnischen Burganlage auf dem späteren Domberg durch Jaroslav Mudryj 1030. Auf die Zeit dieses frühesten Herrschaftsanspruchs durch Fürsten der Rus, gegen den die Esten sich 1061 erfolgreich erhoben, geht der slawische Name ›Jurʹev‹ zurück. Nach anfangs vergeblichen, auch von Russen mit abgewehrten Unterwerfungsversuchen des Schwertbrüderordens geriet die Gegend 1224 endgültig unter deutsche Herrschaft. Der Domberg wurde Sitz des zuvor nominell in Leal (estn. Lihula) eingesetzten Bischofs von Estland. Die anderen, nur wenig später gegründeten Bistümer der ›Livländischen Konföderation‹ überstrahlte Dorpat in der Folgezeit stets durch die Pracht seiner Kathedrale (St. Peter und Paul). Deren Ausbau, an dem vermutlich auch Angehörige der Bauhütte Peter Parlers mitwirkten, erreichte im 14. Jh. seinen Höhepunkt; äußerlich glich das seit dem 17. Jh. nur mehr als Ruine erhaltene Bauwerk sich dabei der Lübecker Marienkirche an.

Zur Stadtgründung zwischen Domberg und rechtem Flussufer (wohl durch Bischof Hermann I. von Buxhoeveden) kam es vor 1250 – wann genau, steht nicht fest. Auf Hansetagen spätestens seit 1363 vertreten, stieg Dorpat neben Riga und Reval (estn. Tallinn) zum dritten bedeutenden Mitglied der Hanse im Baltikum auf und dürfte zumindest Reval zeitweise an Größe übertroffen haben; vermutet werden für das mittelalterliche Dorpat bis zu 6000 Einwohner. Die Handelsinteressen der in Gilden und Zünften organisierten deutschen und estnischen Stadtbevölkerung, aber auch viele politische Entscheidungen der Bischöfe als Stadt- und Landesherren waren durch die Nähe zu Novgorod und Pskov bestimmt, die Abweichungen vom Verhalten der übrigen livländischen Territorien gebot. Für russische Kaufleute besaß Dorpat – auch nach den Zugriffen Moskaus auf die beiden Stadtrepubliken 1478 bzw. 1510 – ein gesondertes Viertel mit jeweils einer eigenen Kirche für die Novgoroder und Pskover. Unerfüllte Tributforderungen an Stadt und Bistum lieferten Ivan IV. Groznyj den Vorwand zum Überfall auf Livland (Livländischer Krieg, 1558–83), in dem die Stadt zerstört und ihre Bevölkerung deportiert wurde. Nach Kriegsende kaum bedeutender als andere Städte im damals an Polen gefallenen Teil Livlands, profitierte Dorpat knapp 50 Jahre später umso nachhaltiger von der Eroberung durch Schwedens König Gustav Adolf: 1632 erhob dieser das 1630 gegründete Gymnasium in den Rang einer Universität und vollzog damit die zweite schwedische Universitätsgründung (nach Uppsala) überhaupt, wobei während der vorerst kurzen Existenz der ›Academia Gustaviana‹ (bis 1656) vorwiegend (Reichs-)Deutsche zu Lehrenden berufen wurden. Auf die Wiedereröffnung als ›Academia Gustavo-Carolina‹ 1690 folgte 1699 die Verlegung nach Pernau (estn. Pärnu); 1710 kam es dort zur erneuten Schließung.

Ähnlich verheerend wie die Zerstörungen des Großen Nordischen Krieges (1700–21), an dessen Ende das gesamte spätere Staatsgebiet Estlands Teil des Zarenreichs wurde, wirkte sich für Dorpat der Brand von 1775 aus. Der anschließende Wiederaufbau gab der Stadtmitte ihr heutiges Erscheinungsbild, das noch immer als recht einheitlich auffällt, obwohl bzw. weil nach 1945 eine Wiedererrichtung der im Zweiten Weltkrieg zerbombten Viertel ausblieb. Aus dem ausgehenden 18. Jh. stammt auch das im frühklassizistischen Stil erbaute Rathaus am oberen Ende des in nahezu der vollen Breite des historischen Stadtgrundrisses angelegten Marktplatzes (Rathausplatz). Als dessen Fortsetzung überspannte bis 1941 die von Katharina II. gestiftete erste Steinbrücke Livlands den Fluss Emajõgi.

Von den Sakralbauten des mittelalterlichen Dorpat blieb allein die Johanneskirche (estn. Jaani kirik) bis in die Gegenwart erhalten. Innen wie außen verlaufende Friese mit Terrakottafiguren verleihen dem im Zweiten Weltkrieg stark beschädigten und erst in jüngerer Zeit weitgehend wiederhergestellten Backsteinbau höchsten kunstgeschichtlichen Wert. Weitere Wahrzeichen bekam die Stadt im Gefolge der Neugründung ihrer Universität 1802, so durch das klassizistische Hauptgebäude, errichtet an der Stelle der mittelalterlichen Marienkirche, durch das auf dem Domberg platzierte Anatomikum, die benachbarte Sternwarte (Wirkungsstätte des Astronomen Friedrich Georg Wilhelm Struve) und durch die in den Chor der Domruine eingebaute Universitätsbibliothek – fast ausnahmslos Werke des Architekten Johann Wilhelm Krause. Ebenfalls aus dieser Zeit stammt der Botanische Garten in der Unterstadt.

Im Zuge der Bildungsreformen Zar Alexanders I. wurde Dorpat mit seiner als ritterschaftliche Einrichtung gegründeten, bald jedoch direkt dem „Ministerium für Volksaufklärung“ unterstellten „Kaiserlichen Universität“ (russ. Imperatorskij Derptskij Universitet) zu einem von sechs „Lehrbezirken“ (russ. učebnye okrugi) des Russischen Reiches. Die deutschsprachige Universität verstand sich zugleich als Vermittlerin deutscher Wissenschaft für ganz Russland; Ausdruck dessen war u. a. ein ihr angegliedertes Institut, an dem 1828–38 Russen gezielt zu Professoren für andere Universitäten des Reichs ausgebildet wurden, darunter der namhafte Petersburger Chirurg Nikolaj I. Pirogov. Ein bedeutender Student jener Jahre war Chačatur Abovjan, der Begründer der modernen armenischen Schriftsprache, dessen Beispiel folgend später viele weitere Armenier in Dorpat studierten.

Die zunehmende Russifizierung der Ostseeprovinzen Ende des 19. Jh. wirkte sich auf Dorpat massiv aus; nicht nur die Universität, an der Russisch an die Stelle des Deutschen als Unterrichtssprache trat, sondern auch die Stadt wurde 1893 in ›Jur'ev‹ umbenannt, nachdem sie im Russischen bis dahin (in Anlehnung an den deutschen Namen) ›Derpt‹ geschrieben wurde. Die Wiedereröffnung der „Deutschen Universität Dorpat“ am 15.9.1918 blieb Episode; es folgten zwei wissenschaftlich fruchtbare Jahrzehnte als „Estländische Universität T.“ (estn. Eesti Vabariigi T. ülikool), an der auch der im 19. Jh. oft beschworene liberale „Dorpater Geist“ (estn. T. vaim) noch einmal auflebte. Während der Sowjetzeit litt die Pflege von Wissenschaftskontakten wie auch das sonstige öffentliche Leben darunter, dass der östliche Stadtrand militärisches Sperrgebiet war. Seit Wiederherstellung der Eigenstaatlichkeit Estlands nimmt die Zahl ausländischer Studierender, v. a. Finnen, zu; inzwischen ist rund jeder fünfte Bürger Student.

T.s Ruf und Selbstverständnis, die zweite, „geistige“ Hauptstadt Estlands zu sein, beruht nicht nur auf der Bedeutung als Standort der lange Zeit einzigen Universität im Gebiet der heutigen Staaten Estland und Lettland, die ihm den Beinamen „Embach-Athen“ (estn. Emajõe Ateen) einbrachte, sondern auch auf seiner Rolle als Schauplatz wichtiger Ereignisse des nationalen Erwachens der Esten. Wesentlich in diesem Zusammenhang waren neben den Aktivitäten studentischer Korporationen das erste gesamtestnische Sängerfest vor den Toren der Stadt 1869 sowie die von Lydia Koidula initiierten ersten estnischsprachigen Theateraufführungen ab 1870. Für die Zwischenkriegszeit ist v. a. auf das (als Institution bereits 1909 gegründete) Estnische Volksmuseum auf Schloss Raadi (dt. hist. Ratshof, 1944 zerstört) zu verweisen. Sein Herzstück bildete die Gemäldegalerie der im Zuge der Agrarreformen enteigneten Gutsbesitzerfamilie von Liphart, die ihr Herrenhaus schon im 19. Jh. zu einem baltischen „Musenhof“ gemacht hatte.

Scheint T.s kultureller Zentralort-Charakter unbestreitbar, so kamen nach 1991 auch kurzzeitig Vorschläge auf, politische Hauptstadt-Funktionen zwischen Tallinn und T. aufzuteilen oder wenigstens juristische Einrichtungen eher in T. anzusiedeln. 1920 war T. Ort der Friedensschlüsse Sowjetrusslands mit Estland und Finnland, die diesen Staaten die Unabhängigkeit garantierten.

Maiste J., Polli K., Raisma M. 2003: Alma Mater Tartuensis. Tartu ülikool ja tema arhitekt Johann Wilhelm Krause. Tallinn. Piirimäe H., Sommerhage C. (Hg.) 1998: Zur Geschichte der Deutschen in Dorpat. Tartu. Rauch G. v. 1975: Stadt und Bistum Dorpat zum Ende der Ordenszeit. Zeitschrift für Ostforschung 24, 577–626. Pistohlkors G. v., Raun T. U., Kaegbein P. (Hg.) 1987: Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilnius 1579–1979. Beiträge zu ihrer Geschichte und ihrer Wirkung im Grenzbereich zwischen West und Ost. Köln (=Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 9).

(Andreas Fülberth)


Views
bmu:kk