Wolynien (Region)

Wolynien (auch: Wolhynien, poln. hist. Wołyń, russ. hist./ukrain. Volynʹ)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die historische Landschaft W. ist weder mit dem im äußersten Nordwesten der heutigen Ukraine gelegenen Gebiet W. (Volynʹska oblastʹ), noch mit der gleichnamigen Woiwodschaft der Zweiten Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit identisch.

Da W. im Laufe der Jahrhunderte Teil verschiedener Fürstentümer war und in administrativer Hinsicht immer wieder Gebietsveränderungen vorgenommen wurden, können genaue Angaben bezüglich seiner geographischen Ausdehnung nur zeitabhängig gemacht werden. Dabei entspricht das ukrainische Gebiet W. mit der Hauptstadt Lucʹk am ehesten dem historischen Gebiet W., zu dem auch der südliche Teil des Gebiets Rivne zählt, also Territorien zwischen den Flüssen Bug im Westen und Harynʹ im Osten bzw. den historischen Landschaften Podolien im Norden und Polessje im Süden.

Heute bezieht sich der Begriff W. zumeist auf die nordwestlichen Regionen der Ukraine (die Polessje), also die Gebiete W. (20.143 km²/1.038.000 Einwohner 2005), Rivne (20.047 km²/1.154.400 Einwohner) und Žytomyr (29.832 km²/1.317.100 Einwohner), was einer Gesamtfläche von 70.022 km² und einer Gesamtbevölkerung von etwa 3,51 Mio. Einwohnern entspricht.

In W. herrscht Kontinentalklima, das durch heiße Sommer und kalte Winter und relativ geringe Jahresniederschlage geprägt ist. Frühling und Herbst sind eher kurz. Die durchschnittlichen Temperaturen betragen ca. –3 bis –4 °C im Januar und 17–19 °C im Juli. Die durchschnittliche Jahresniederschlagsmanege beläuft sich auf ca. 550–600 mm. Der nördliche Teil W.s ist überwiegend flach und teilweise sumpfig, während im Süden die Wolynischen Höhen (Volynʹska Vysočyna) bis zu 342 m ü. d. M. erreichen. W. gehört hauptsächlich zum Einzugsgebiet des Flusses Pripjet. Zu den größten Städten im eigentlichen W. gehören Rivne, Lucʹk und Kovelʹ.

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2 Kulturgeschichte

Ausgrabungen lassen Rückschlüsse darauf zu, dass in der Region bereits um 4000 v. Chr. erste Ansiedlungen bestanden haben. Die nördlichen bzw. nordöstlichen Teile W.s gelten heute als Wiege der Slawen. Der Name W. geht dabei auf den ostslawischen Stamm der Wolynier ([slaw.] Volynjane) zurück.

Laut der Hypatios-Chronik (russ. Ipatʹevskaja letopisʹ) kam es im Jahr 981 zum Anschluss des Gebietes an die Kiewer Rus. Dieses Ereignis legte auch den Grundstein für die Christianisierung W.s durch den Kiewer Fürsten Vladimir I. ab 988. Im Zuge des bereits auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht einsetzenden Zerfalls der politischen Einheit des Kiewer Reiches in eine Vielzahl zunächst noch an Kiew gebundene Teilfürstentümer, bildete sich im 12. Jh. das Fürstentum Volodymyr-Volynsʹkyj heraus, das 1199 durch Roman Mstislavič mit dem Halyč (ukrain.) zum Fürstentum Galizien-W. vereinigt wurde. Zu Beginn des 13. Jh. war dieses eines der bedeutendsten neuen Machtzentren der Region. Im Moment seiner größten Ausdehnung erstreckte es sich im Norden, Brėst einschließend, bis zum Fluß Naraŭ (Weißrussland) und im Süden bis weit in das heutige Podolien. Zentrum des Fürstentums war seine galizische Mitte, also die Städte Przemyśl, Halyč, und etwas später Lemberg.

Nach der Einnahme der alten Residenzstadt Kiew durch die Mongolen unter Batu Khan 1240, gelang es dem Fürsten und späterem König von Galizien-W., Daniil Romanovič, zunächst, sich den Eroberern zu widersetzen. Nach den beiden Vorstößen des mongolischen Feldherrn Burunday (1258 und 1259), musste aber auch er die Macht der neuen Herren anerkennen.

Zu Beginn des 14. Jh. expandierte das Großfürstentum Litauen unter Gediminas immer weiter nach Osten und Süden. Während die erfolgreiche Verteidigung Moskaus dem litauischen Vordringen im Osten Einhalt gebot, konnte sich das Fürstentum Galizien-W. nicht behaupten. Zwischen 1319 und 1362 brachte Litauen W. unter seine Herrschaft. Im Zuge der 1385 zwischen Litauen und Polen geschlossenen Union von Krėva, die Voraussetzung für den Aufstieg Polen-Litauens zur Großmacht war, stieg auch der polnische Einfluss in der Region. Doch die Zugehörigkeit W.s und Podoliens wurde dabei nicht endgültig geklärt. Auch nach der Union von Brėst (1446) blieb es bei dem von beiden Seiten nicht anerkannten Zustand, dass Polen das westliche Podolien und Litauen W. behielten. Diese unbefriedigende Lösung trug bereits den Keim späterer Auseinandersetzungen in sich.

Im August 1506 erlitten die Söhne des Krimkhans Mengli Giray bei ihrem Einfall nach W. und in das Gebiet von Minsk durch den litauischen Fürsten Michail L. Glinskij eine schwere Niederlage, was neben dem Tod des Moskauer Großfürsten Ivan III. Vasilʹevič (1505) für den Khan ein Grund war, ein Bündnis mit Litauen einzugehen. Trotzdem erfolgten bis 1524 mehrere tatarische Einfälle nach Podolien und W.

Nachdem aufgrund des militärischen Kräfteverhältnisses in der Region Mitte des 16. Jh. die Frage einer noch engeren Union mit Polen für Litauen immer mehr an Bedeutung gewann, konnte doch zunächst keine Einigung erzielt werden, da sich die litauische Seite bezüglich der von Polen begehrten Gebiete Podlachien, Kiew und W. unnachgiebig zeigte. Im Zuge der zwischen Litauen und Polen geschlossenen Union von Lublin (1569) kam es schließlich zur Einverleibung der drei litauischen Woiwodschaften Podlachien, Kiew und W. in den polnischen Staat, unter Bestätigung der litauischen Statuten und der altweißrussischen (ruthenischen) Kanzleisprache in der Amtspraxis. Hauptstadt der Woiwodschaft W. wurde Volodymyr-Volynsʹkyj.

Charakteristisch für die Region sind sprachliche und konfessionelle Vielfalt, ein hoher Anteil aschkenasischer Juden und polnischer Kleinadliger (Szlachta) an der Bevölkerung sowie ein begüteter Magnatenstand, die maßgeblich die wirtschaftliche Entwicklung W.s bestimmten. Diese erlitt insbesondere durch den Kosakenaufstand von 1648 und die Nordischen Kriege wiederholte Rückschläge.

Nach der zweiten und dritten Teilung der polnisch-litauischen Adelsrepublik 1793 und 1795 ging W. in den Bestand des russischen Zarenreiches über und bildete eines der acht westlichen Gouvernements, die in den Gebieten entstanden, die fortan zu Russland gehörten und war Teil des jüdischen „Ansiedlungsrayons“. Hauptstadt des neuen Gouvernements war seit 1804 Žytomyr.

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Im Ersten Weltkrieg wurde W. zunächst von deutschen und später von polnischen Truppen besetzt. Im Frieden von Riga (1921) vereinbarten Polen und Russland die Teilung W.s. Für die Zwischenkriegszeit werden in diesem Zusammenhang auch die Begriffe „Polnisch-W.“ und „Russisch-W.“ bzw. „Ukrainisch-W.“ verwendet. Während der Osten W.s. als Gebiet Žytomyr Bestandteil der Ukrainischen SSR zur Sowjetunion kam, bildete der westliche Teil die polnische Woiwodschaft W., die zusammen mit den Woiwodschaften Wilna, Nowogrudok und Polessje die sog. Ostgebiete (poln. Kresy Wschodnie) bildete.

Die Woiwodschaft zählte 1921 1.437.907 Einwohner. Nach offiziellen polnischen Darstellungen betrug der Anteil der Ukrainer 68,4 % (zweithöchster Anteil aller damaligen polnischen Woiwodschaften), danach folgten Polen mit 16,8 % (niedrigster Anteil aller Woiwodschaften) und Juden mit 10,6 %. 1931 wurde der Anteil der Ukrainer mit 68,0 %, Polen mit 16,7 % und Juden mit 9,9 % bei einer Gesamtbevölkerung von 2.085.600 Einwohnern angegeben.

Im Einklang mit den Bestimmungen des Hitler-Stalin-Paktes marschierte die Rote Armee am 17.9.1939 in die polnischen Ostgebiete ein, was den Anschluss der Woiwodschaft W. an die Ukrainische SSR zur Folge hatte. In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde der Einmarsch mit der Notwendigkeit begründet, die dort lebende ukrainische Bevölkerung vor den deutschen Truppen zu schützen und von ihren polnischen Herren zu befreien. Bis 1941 kam es zu einer forcierten Sowjetisierung der westlichen Teile W.s. In dieser Zeit wurden v. a. viele Polen ins Landesinnere der Sowjetunion deportiert und ein großer Teil der seit Beginn des 19. Jh. in der Region siedelnden deutschen Kolonisten (die sog. W.-Deutschen) nach Deutschland bzw. in den Warthegau umgesiedelt.

Während des Zweiten Weltkriegs verübten die deutschen Besatzer unvorstellbare Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung, sowjetischen Kriegsgefangenen und v. a. der jüdischen Bevölkerung. Neben sowjetischen Partisaneneinheiten und der polnischen „Heimatarmee“ (Armia Krajowa) war W. auch Zentrum des Kampfes der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (Orhanizacija Ukrajinsʹkich Nacionalictiv, OUN) und der „Ukrainischen Aufständischen Armee“ (Ukrajinsʹka Povstansʹka Armija, UPA), deren Ziel ein unabhängiger ukrainischer Staat war. In den Jahren 1943 und 1945 kam es v. a. in W. zu blutigen Übergriffen von UPA-Einheiten gegenüber den in der Region lebenden Polen, die Schutz sowohl bei den deutschen Besatzern, als auch bei sowjetischen Partisaneneinheiten und der „Heimatarmee“ suchten. Deren Vergeltungsaktionen fielen zahlreiche ukrainische Zivilisten zum Opfer. Schätzungen gehen davon aus, dass bei diesem polnisch-ukrainischen Konflikt insgesamt bis zu 100.000 Polen und 20.000 Ukrainer getötet wurden, die meisten davon in W. Bis heute ist dieser Konflikt in Polen und der Ukraine Gegenstand kontroverser Diskussionen und spielt eine wichtige Rolle in den Beziehungen zwischen beiden Ländern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in W. zu einem „Bevölkerungsaustausch“. Die polnische Bevölkerung wurde weitestgehend in die Westgebiete Nachkriegspolens umgesiedelt, die bis 1945 zu Deutschland gehört hatten (u. a. Schlesien). Im Gegenzug kamen Ukrainer aus den östlichen polnischen Woiwodschaften der Volksrepublik Polen nach W. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 befindet sich die Region innerhalb der Grenzen der neu entstandenen unabhängigen Ukraine.

(Kai Witzlack-Makarevich)

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