Renaissance (Europäischer Osten)

Renaissance (Europäischer Osten).

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

Wie in Nordeuropa ist die R. in Osteuropa durch die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, also durch ein Nebeneinander der spätmittelalterlichen und der neuen, aus Italien importierten Kultur gekennzeichnet. In allen Bereichen der Kunst bleiben die lokalen Werkstätten lange dem gotischen Stil verpflichtet. Oft spricht man sogar vom verlängerten Mittelalter, da sich die neuen Merkmale der R. nur langsam und selten in ihrer reinen Form durchsetzten. In der Architektur werden noch lange die spätgotischen Formen unfunktional, bloß als dekorativ-ornamentaler Schmuck, verwendet, wie Benedikt Rieds vegetabile Rippen auf dem Tonnengewölbe im Vladislav-Saal auf dem Hradschin in Prag (1493). Der neue Renaissancestil, der sich in stereometrischen Raumformen und in der Symmetrie im Aufbau architektonischer Elemente äußert, erfasst lange nicht die Struktur der Architektur. Renaissanceelemente wie Arkaden, kassetierte Decken und im Diamantenmuster geschliffene Fassadenquader werden einfach als Dekoration auf die alte Struktur appliziert. Auch in der Skulptur und der Malerei setzt sich die monumentale, plastische Figurengestaltung nicht durch. Der Hauptaltar in der Marienkirche und die Königsgrabmäler in der Wawel-Kathedrale in Krakau, Werke des deutschen Bildhauers Veit Stoß (poln. Wit Stwosz), der sich in Krakau niederließ, sind noch Anfang des 16. Jh. dem gotischen Ornamentalismus verpflichtet. In der skulpturalen Ausstattung der Prager Residenz setzt sich trotz des der Antike verpflichteten mythologischen Programms (Helden wie Herakles, Perseus und Kadmos, Szenen aus Ovids Metamorphosen) das neue Schönheitsideal mit anatomisch korrekter Körperproportion, klassischen Maßverhältnissen und der mathematisch berechneten Perspektive nicht durch. Wie in den Niederlanden, in England, Spanien und Frankreich geht die Spätgotik oft unmittelbar in den Manierismus mit expressiv bewegten Formen über.

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2 Architektur

In der Architektur und der bildenden Kunst nimmt das venezianisch dominierte Dalmatien eine Vorrangsstellung in der Rezeption der R. in Osteuropa ein. Entlang der dalmatinischen Küste, in den Städten Split, Zadar, Trogir, Šibenik und Dubrovnik arbeiten nicht nur norditalienische Meister aus der Lombardei und Venedig, sondern auch aus dem Zentrum der italienischen R. – aus Florenz. Der gemischte Stil, vertreten von dem leitenden Architekten und Bildhauer Juraj Dalmatinac, der 1441 den Bau der Kathedrale von Šibenik mit drei runden Chorabschlüssen und der dreiläufigen Fassade mit Segmentgiebeln über Haupt- und Seitenschiffen begonnen hat, wird bald in entschlosseneren Renaissance-Formen vollendet. Der technisch fortschrittliche Bau aus weißem Stein, bei dem keine Materialien wie Holz, Backstein oder Metallteile verwendet wurden, beeinflusst den Bau anderer Kirchen in der Region. Den Platz des ersten Architekten übernimmt um die Mitte des Jh. ein Italiener aus der Toskana, Niccolò di Giovanni Fiorentino (Nikolaj Florentinac), der Ende des Jh. den Bau mit einer stereometrischen Kuppel auf einem kubischen Unterbau in einem konsequenten Renaissancestil beendet hat. Sein zweites Hauptwerk, das reinste Renaissancewerk in Dalmatien, ist die Kapelle des Hl. Johannes Orsinus in Trogir (1468–89).

Eine Sonderstellung in Dalmatien nimmt die unabhängige Patrizierstadt Dubrovnik ein, die sich ihre Freiheit durch Zahlung von Tributen an Ungaren sowie an das Osmanische Reich erkaufte. Neben Palästen, wie der Sommerpalast der Patrizierfamilie Sokorčević in Lapad bei Dubrovnik (1521), werden zahlreiche öffentliche Bauten, wie der Rektorenpalast und die Goldschmiede bzw. das Zollamt Divona errichtet. In der Stadt werden große urbanistische Projekte durchgeführt, wie die Wasserleitung mit Brunnenanlagen und die Stadtmauer mit Fortifikationstürmen, schließlich der große Turm Minčeta, der die Stadtkulisse von Dubrovnik prägt.

Der Künstler-Austausch verläuft nicht nur in einer Richtung von Italien nach Dalmatien. Zahlreiche dalmatinische Künstler sind im Ausland, v. a. in Italien tätig. Oft werden sie einfach ›Schiavoni‹ (Slawen) genannt, wie der Maler Juraj Ćulinović, unter dem Namen Giorgio Schiavone tätig. Der vorher erwähnte Juraj Dalmatinac arbeitete als Bildhauer in Ancona (Loggia dei Mercanti, San Agostino), der Bildhauer Ivan Duknović in Rom (Grabmal der Päpste und Kardinäle) und am ungarischen Hof in Buda/Ofen (Porträt des Königs Matthias Corvinus und seiner Gemahlin Beatrice d’Este, Ausschmückung der Sommerresidenz des König in Visegrád). Der Architekt Lucijan Laurana, der aus Zadar stammte, arbeitet am Triumphbogen für Alfons von Aragon in Neapel, für die Päpste in Avignon und für das französische Königshaus in der Provence, der Bildhauer und Architekt Franjo Laurana am Schloss des Federico da Montefeltre in Urbino und an den Höfen der Gonzaga in Mantua sowie der Sforza in Pesaro.

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In anderen osteuropäischen Ländern ist die Bautätigkeit zuerst vorwiegend auf den Umkreis der Höfe beschränkt und durch Traktate über die Architektur, wie von Alberti, Filarete, Palladio und Serlio inspiriert. In Ungarn wird schon in der zweiten Hälfte des 15. Jh. unter Matthias I. Corvinus der Burgpalast in Buda/Ofen im Renaissancestil umgebaut. In Polen veranlassen die Jagiellonen in den 1530er Jahren den Umbau des gotischen Wawel-Schlosses in Krakau und den Bau des Königsmausoleums neben der Wawel-Kathedrale. Mit der Aufgabe werden zuerst die italienischen Meister Francesco Fiorentino und Bartolomeo Berecci, später der in Italien geschulte Pole Benedykt z Sandomierza beauftragt. In Prag beginnt am Schloss (Ballhaus) und im Teil ›Malá Strana‹ eine intensive Bautätigkeit nach dem Brand 1541, als zahlreiche Paläste sowie das Lustschloss mit der Gartenanlage für Anna, Tochter Königs Vladislavs II. von Böhmen und Ungarn und Gemahlin Kaiser Ferdinands I. von Habsburg, errichtet werden. Mit Kaiser Rudolf II. setzt sich im letzten Drittel des 16. Jh. bereits der neue Stil des Manierismus durch, vertreten durch den italienischen Künstler Giuseppe Arcimboldo und holländischer Künstler wie Bartholomäus Spranger und Adrien de Vries. Wie in Böhmen unter Rudolf II. sind auch in Polen-Litauen unter König Sigismund II. August Künstler manieristischer Prägung aus den Niederlanden angereist. Nur in einigen polnischen Handelstädten wurden Renaissancebauten errichtet, wie in Danzig, Posen und Warschau. Außerhalb dieser Zentren verbreitet sich die R. auch unter den Magnaten in Polen, Böhmen und Ungarn.

Nach Moskau wird Aristotele Fioravanti aus Bologna berufen, der sich beim Bau der Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale (Uspenskij sobor) entsprechend dem Wunsch des Großfürsten Ivan III. an die russische Lokaltradition anpassen muss. Pier Antonio Solari aus Mailand errichtet im russischen Stil die Kreml-Türme, Marco Bono Moskauer Paläste. Anders als in Italien, wo sich die Kunst aus dem kultischen Bereich emanzipiert hat und der Künstler als kreatives Schöpfer-Genie bewundert wird, bleibt der russische Maler der mittelalterlichen orthodoxen Tradition verpflichtet. Als asketischer Maler-Mönch darf er nicht als autonomer Schöpfer auftreten, sondern nur als Kopist göttlicher Urbilder.

In )Serbien und Bulgarien kommt es unter der Osmanenherrschaft nur selten und sporadisch zur Renaissance-Erscheinungen.

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3 Literatur

Wie in der Architektur und der bildenden Kunst ist auch in der Literatur eine verzögerte und eingeschränkte Rezeption der R. zu verzeichnen, etwa jener Florentiner neuplatonischen Schriften, die ein transzendentes Schönheitsideal und die Sublimierung der weiblichen Schönheit preisen. So wird noch die polnische Übersetzung des Traktats ›Il libro del Cortegiano‹ Baldassare Castigliones (Venedig, 1508–16) den örtlichen Verhältnissen angepasst. Im „Der polnische Hofmann“ (›Dworzanin polski‹, 1566) von Łukasz Górnicki, dem Hofbibliothekar Sigismunds II. August, werden die „amoralischen“ Stellen mit Liebesthematik ausgelassen. Das Liebesideal des polnischen Höflings ist stark durch ein stoisches Verhältnis zum Leben geprägt, in dem die Liebesthematik von moralisierender Belehrung begeleitet wird. Sensuelle weltliche Literatur, wie Boccacios Novellen des ›Decameron‹, wird nicht rezipiert. Wegen des Ausbleibens der mittelalterlichen Minnesang-Dichtung, geprägt durch die Marianische Brautmystik (Maria als ›sponsa‹ im Hohenlied) knüpfen slawische Dichter an die misogyne mitteralterliche Tradition an. Die Frauengestalt wird als Nachfolgerin der Sünderin Eva betrachtet, daher moralisierend distanziert kommentiert oder gar ins Lächerliche gezogen. Während in Italien die „Petrarkisten“, die Petrarcas Sonette an Laura zum Kanon der Liebesdichtung erheben, und die manierierten „Antipetrarkisten“, die eine frivol-fetischistische Auffassung der Liebe pflegen, einander bekämpfen, ist in den slawischen Ländern eine solche Polarisierung nicht zu beobachten. Fast überall setzte sich eine historisch nicht differenzierende, synchrone und synkretistische Rezeption verschiedener Richtungen der Liebeslyrik durch, vom Petrarkismus, Antipetrarkismus bis zur wiederentdeckten antiken Anakreontik, verbreitet durch die kritische Edition der ›Griechische Anthologie‹ (1494) mit Autoren wie Tibull, Properz, Ovid und Horaz. In Russland bleibt Liebesdichtung bis ins 18. Jh. vollkommen aus.

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Am stärksten erfasst die petrarkistische Richtung der Liebesdichtung Dalmatien, das enge Kontakte zu Universitäten in Venedig und Padua pflegt. In den kleinen Zentren der dalmatinischen Küste – auf den Inseln Hvar, Rab und Korčula, in den Städten Zadar und v. a. Dubrovnik blüht im 16. Jh. eine von Italien angeregte Renaissanceliteratur auf. Kroatischen Petrarkisten wie Hanibal Lucić, Džore Držić und Vlahović Menčetić, die ihre Gedichte auf Italienisch, Lateinisch und Kroatisch verfassen, formen nach dem Vorbild der Sonette Petrarkas eine fein differenzierte weltlich kroatische Sprache aus, die ihre größte Blüte zur Zeit des Barock erlebt. In Polen pflegt Jan Kochanowski die petrarkistische Liebesdichtung, der wichtigste polnische Dichter vor dem Romantiker Adam Mickiewicz.

Im Anschluss an die Hussitenbewegung in Böhmen, die Arianerbewegung in Polen, schließlich durch die Reformation, die um die Mitte des 16. Jh. zeitweilig alle slawischen Länder außerhalb der Ostkirche erfasste, hatte ein zugespitzt religiöser Diskurs den Vorrang. Während Jan Hus seine theologischen Schriften in lateinischer Sprache verfasst, hält er seine rhetorisch einfacheren Predigten mit knapper Metaphorik in Tschechisch. Im Traktat ›Orthographia Bohemica› (1406) erörtert er die erste Transliterationsregel des Tschechischen. Besonders die protestantische Missionstätigkeit trug durch ihre Glaubensverkündung in der Volkssprache zur Verbreitung oder gar Herausbildung der slawischen Volkssprache als Literatursprache bei, gestärkt durch die revolutionäre technische Erfindung des Buchdrucks. Für die Slowenen, die noch keine Schriftsprache, weder eine religiöse, noch eine weltliche, besitzen, sind die Errungenschaften der Reformation von besonderer Bedeutung.

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Ihr Begründer ist der zum Protestantismus konvertierte katholische Priester Primož Trubar, der die slowenische Sprache auf der Grundlage zweier größerer Dialekte definiert und sie nach dem Vorbild des Lutherischen Deutschen ausbaut – ähnlich wie Kyrillos und Methodios das Altkirchenslawische nach dem griechischen Vorbild für den religiösen Gebrauch geschaffen hatten. Die Slowenen erhalten in der zweiten Hälfte des 16. Jh. eine Literatursprache in etwa fünfzig Büchern, deren Stoffe programmatisch ausgewählt sind: die ABC-Bücher von Trubar und Sebastijan Krelj, die erste slowenische Grammatik ›Arcticae horule‹ („Winterstündchen“) von Adam Bohorič, das erste viersprachige deutsch-lateinisch-italienisch-slowenische Wörterbuch ›Dictionarium quatuor linguarum‹ (1592) des aus Stuttgart stammenden und in Klagenfurt lehrenden Hieronymus Megiser und die erste vollständige Bibelübersetzung von Jurij Dalmatin (1584). In Kroatien bringt Dalmatin mit seinem Bruder Antun auch die erste kroatische Bibelübersetzung heraus. Das protestantische Schrifttum beschränkt sich ausschließlich auf religiöse, vorwiegend in Tübingen, Urach, Wittemberg und Reutlingen gedruckte Bücher.

Während sich die neuen italienischen Schönheitsideale in Osteuropa nur langsam einbürgen, beginnen die Humanisten – oft aus Italien angereist oder an den dortigen berühmten Universitäten in Bologna und Padua ausgebildet – in der Obhut der Höfe und der Universitäten schon früh mit ihren Bemühungen um Sicherung, Sammlung, philologische Erschließung und kommentierte Editionen antiker Quellen. Höchst gebildete, angesehene ausländische und heimische Gelehrte unterrichten an der 1394 gegründeten Krakauer Universität, wie der Mathematiker Jan Brożek, der Astronom Nikolaus Kopernikus (›De revolutionibus orbium coelestium‹, 1453), der Geograph und Karthograph Barnard Wąpowski, der deutsche Humanist Konrad Celtis-ickel, Begründer der ersten literarischen Gesellschaft ›Sodalita litterarum Vistulanta‹ zur Pflege alter Sprachen in der antiken Philosophie in Polen, der Italiener Filippo Buonacorsi - Callimachus, der Erzieher des Prinzen, der neben lateinischer Dichtung geschichtliche und staatspolitische Werke verfasst. An der Universität von Pressburg, gegründet 1465, lehren der deutsche Astronom Johannes Regiomontanus und Marcin Bylica z Olkusza aus Krakau. Das Trivium – Grammatik, Rhetorik und Dialektik – tritt gleichberechtigt neben das Quadrivium – Geometrie, Astronomie, Arithmetik und Musiktheorie. Durch die Wiederentdeckung der Ciceronischen Rhetorik und der Aristotelischen Poetik, die zum Kanon erhoben werden, wird die lateinische Sprache erneuert und eine humanistischen Bildungsreform durchgeführt. Man bemüht sich um die Systematisierung des Wissens, unterstützt durch Vorschriften in kanonischen Regelwerken, wie Rhetoriken und Grammatiken (Werke des Philologen Andrzej Patrycy|Andrzej Patrycy Nidecki in Polen, Grammatiken von Johannes Honterus und János Sylvester in Ungarn). Kritischen Historiographien, die kausale Erklärungen bieten und die Vergangenheit in ihren Anachronismen wahrnehmen, ersetzen die mittelalterlichen Weltchroniken, die mit der göttlichen Erschaffung der Erde beginnen. Antonio Bonfini verfasst die erste Geschichte Ungarns, der Kanoniker Jan Długosz ›Historiae Polonicae libri XII‹ und ›Annales seu cronica incliti Regni Poloniae‹. Es entstehen zahlreiche Reiseberichte über fremde Länder.

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Ein vollkommen anderes Bild geben die enzyklopädischen Bemühungen in Russland. Erst das nach 1480 endgültig von mongolischer Fremdherrschaft befreite Russland betrachtet sich nach dem Fall Konstantinopels 1453 als Erbe des byzantinischen Kaiserreiches – als drittes Rom. Durch die Hochzeit Großfürsts Ivan III. mit der byzantinischen Prinzessin Zoë ist auch die rechtliche Voraussetzung für die ›translatio imperii‹ gegeben, die vom Mönch Filofej von Pskov verbreitet wird. Die Flucht griechischer und südslawischer Künstler nach Russland, der sog. „zweite südslawischen Einfluss“, löst durch den Import von Kunst und Literatur der Paläologen eine Wiedergeburt der Kunst aus, die sog. „Moskowitische R.“ bzw. „Vorrenaissance“. Doch nach wie vor werden mittelalterliche Genres gepflegt, wie Hagiographien (Grigorij Camblak aus Tărnovo, Kiprian), geschrieben in einem schwülstigen, persönlich gefärbten, expressiv-emotionalem Stil mit kompliziertem Satzbau nach dem Vorbild der spätbyzantinischen Rhetorik der Symeon Metaphrastes, Nikephoros Gregoras, Philotheos von Konstantinopel, Gregorios Palamas, Epiphanios des Weisen und des Serben Paxomij Logofet. An die Stelle der alten Heiligen treten nun lokale, in Moskau und Nowgorod verehrte Gestalten. Auch in der Geschichtsschreibung entstehen neben den traditionellen Chroniken (Filofej von Pskov) und Weltchroniken lebendige Berichte über Kriegseroberungen (z. B. die Eroberung Konstantinopels durch die Türken von Nestor Iskander, die Eroberung Kasans) – eine neue weltliche Gattung nach dem Vorbild Caesars ›De bello Gallico‹ und Flavius Josephus ›De Bello Judaico‹. Fürst Andrej Kurbskij, Ratgeber des Zaren, verfasst die erste Geschichte des moskowitischen Großfürstentums, die russische Herrscher glorifiziert.

Die enzyklopädischen Bemühungen in Russland haben dennoch einen anderen Charakter als die der westeuropäischen Humanisten: Dem militärischen Agrarstaat unter Großfürst Ivan IV., der 1552 Kasan, 1556 Astrachan und 1581 Sibirien (Khanat)Sibirien erobert, geht es weniger um das Sammeln des Wissens als um die Herausbildung einer großstaatlichen Ideologie. Durch einen autokratisch geführten Revisionsprozess bildet sich ein neuer Kanon des öffentlichen und privaten Lebens heraus. Unter Metropolit Makarij entsteht um die Mitte des 16. Jh. ein monumentales Kompilationswerk der gesamten altrussischen und byzantinischen theologischen Literatur mit Texten des Pseudo-Dionysus, Maximus Confessors, des Johannes Klimakos, der russischen Fürstengenealogien und Heiligenlegenden – darunter die ›„Großen Lesemenäen“ (›Velikie Minei Cets’i Mitropolita Makarija), eine Art russischer ›Acta sanctorum‹. Auf dem Kirchenkonzil 1555 werden Beschlüsse gefasst, die sowohl die Organisation der Kirche (›Stoglav‹) als auch das Verhältnis von Familie, Staat und Kirche regeln (›Domostroj‹). Jegliche Kunstproduktion wird streng überwacht und von modernen westlichen Einflüssen, wie dem Porträt und allegorisch erzählenden Historiengemälden, gereinigt. Der in Italien ausgebildete Grieche Maksimos, Übersetzer und Hofbibliothekar des Zaren, steht nicht unter dem Einfluss der Humanisten, sondern des asketischen Florentiner Dominikanerpredigers Fra’ Girolamo da Sovanarola. Ebenso verfasst Ivan S. Peresvetov eine politische Programmschrift für Ivan IV. nach dem Vorbild Machiavellis, ohne dabei die Freiheit des handelnden Menschen zu preisen, sondern ausschließlich der Vergöttlichung des Zaren zu dienen.

Russland geht in der R. einen von den westlichen literarischen Strömungen getrennten Weg. Gerade in der langjährigen Streitkorrespondenz (1564–79) zwischen dem westlich-humanistisch gesonnenen Fürsten Kurbskij, der vom Ratgeber zum politischen Gegner des Zaren wird, zeigen sich in der unterschiedlichen Rhetorik – der Ciceronianischen und der byzantinisch-spätmittelalterlichen – unterschiedliche Weltansichten. Nach dem Brand Moskaus 1547 entstehen Paläste (z. B. Godunovs, Ivans IV.) im ornamentalen russischen Stil ohne jegliche Elemente der italienischen R. Erst im 17. Jh. dringen mit dem Spätbarock allmählich westliche Vorbilder nach Russland vor.

Während in Italien der Humanismus an die städtische Kultur gebunden ist, sind in Osteuropa wichtige Gönner der Humanisten neben den Königen auch Geistliche wie der Erzbischof Johannes Vitez von Esztergom, der Erzieher des Königs Matthias Corvinus. Auf Vitez folgt sein Neffe Janus Pannonius, der Begründer der lateinischen Dichtung und der Rhetorik in Ungarn. Durch sein Studium in Italien und die Bekanntschaft mit Marsilio Ficino ist er der erste Vermittler des Neuplatonismus nach Ungarn. Die humanistische Tradition des erzbischöflichen Sitzes setzen Johannes von Arragonien und Ippolito d’Este fort. In Ungarn unterstützten italienische Humanisten schon Könige vor Corvinus, wie Albrecht (1437–39), Ladislaus V. (1440–57), der Auftraggeber des späteren Papstes Enea Silvio Piccolomini (Traktat über die Kindererziehung, 1450) und János Hunyadi. Der 1458 inthronisierte Matthias Corvinus widmet sich nach den Feldzügen gegen die Türken und nach erfolgreicher innenpolischer Einschränkung der Macht der Magnaten, auch nach Durchführung einer Steuerreform, den humanistischen Tätigkeiten des Sammelns und Aufbewahrens antiker Werke. Am königlichen Hof von Buda/Ofen blüht unter seiner Gönnerschaft eine berühmte Bibliothek auf, begonnen bereits vom italienischen Bibliothekar Pier Paolo Vergerio im Dienst von Sigismund von Luxemburg. Corvinus’ Bibliothekar Taddeo Ugoleto erwirbt 2500 Bände handschriftlicher Codices, darunter griechische Werke von Kaiser Kōnstantinos VII. Porphyrogennētos über das byzantinische Hofzeremoniell und die Kirchengeschichte von Nikephoros Kallistos. Die Bibliothek hat ein eigenes Scriptorium mit florentinischen Illuminatoren, die berühmte Werke abkopieren und illustrieren.

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Nicht nur Bibliotheken, sondern auch erste „Museen“ werden gegründet. In dieser Zeit entsteht am ungarischen Hof eine große Gemäldesammlung mit Werken der italienischen Maler Andrea Mantegna, Filippo Lippi und Leonardo da Vinci. Kaiser Ferdinand I. Habsburg, seit 1526 König Böhmens, besitzt eine große Münz- und Antiquitätensammlung. Sein Enkel Kaiser Rudolf II., der den Regierungssitz von Wien nach Prag verlegt, begründet eine berühmte Kunstkammer.

Die R. erfasst über dynastische Verbindungen zu Italien auch das höfische Leben. Durch die 1476 geschlossene zweite Ehe Königs Matthias Corvinus mit Beatrix von Aragonien setzt sich am Hof auch der Lebensstil der Renaissance mit Pflege musischer Tätigkeiten durch. Ebenso wie in Ungarn wird auch in Polen durch die Heirat des Königs Sigismund I. mit der Prinzessin Bona Sforza aus Mailand 1518 die R. angeregt. Die Königin bringt Hofleute, Kleriker, Architekten und Künstler mit.

Die R. in Osteuropa bleibt mit Ausnahme Dalmatiens eine relativ kurze Erscheinung. Nach der Schlacht bei Mohács (1526) und der Einnahme von Buda/Ofen (1541) ist die R. in Ungarn abgeschlossen. In Polen, Böhmen und anderen osteuropäischen Ländern geht sie gleitend in den Manierismus und schließlich in das Barock über.

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(Tanja Zimmermann)

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