Drittes Rom
Drittes Rom (russ. tretij Rim)
Die Lehre von Moskau als D. R. wurde um 1520 vom Mönch Filofej aus dem Eleazarov-Kloster bei Pskov in mehreren Sendschreiben (poslanie) formuliert. Hinter Filofej ist der der Häresie verdächtigte ehemalige Sekretär (dʹjak) Fëdor Kuricyn vermutet worden. In einem der Sendschreiben an Großfürst Vasilij III. (1503–33) heißt es, die Kirche des alten Rom sei durch Häresie gefallen, die Kirche des zweiten Rom, Konstantinopel, hätten die Osmanen zerstört, die Kirche Moskaus sei nun das D. R. Filofej kommt zu dem Ergebnis, dass alle christlichen Reiche in das Moskauer Reich übergegangen seien, und warnt, zwei Rome seien gefallen, das dritte stehe, aber ein viertes werde es nicht geben.
Die Lehre vom D. R. ist in der platonischen Urbild-Abbild-Theorie verwurzelt, die sich in der orthodoxen Ikonographie, aber auch in der Städtearchitektur von Kiew und Vladimir widerspiegelt. Das 2. ökumenische Konzil (auch: 1. Konzil von Konstantinopel) begründete 381 den Vorrang des Patriarchen von Konstantinopel vor den traditionsreicheren Bischofssitzen von Alexandria und Antiochia mit der Feststellung, dass Konstantinopel das neue Rom sei. Bis heute lautet der Titel des ökumenischen Patriarchen „Patriarch von Konstantinopel, des neuen Rom“.
Nach dem Untergang von Byzanz (1453) lag es nahe, in der Hauptstadt des einzigen souveränen orthodoxen Reiches ein „drittes Rom“ zu sehen. Verbreitet herrscht die Ansicht, bei der Lehre vom D. R. habe es sich um eine offizielle Moskauer Staatsideologie gehandelt. Sie drücke im Sinne einer ›translatio imperii‹ Moskaus Anspruch auf das Erbe des Byzantinischen Reiches aus, untermauere die russische Imperialpolitik theoretisch und erkläre einen „russischen Messianismus“. Dem ist entgegengehalten worden, dass die Lehre vom D. R. nicht in Moskau, sondern in einem abgeschiedenen Kloster einer Provinz entstanden ist, die erst 1510 dem Moskauer Reich angegliedert worden war. Weit verbreitet war zudem das Bild von Moskau dem „Neuen Jerusalem“ oder dem „Neuen Israel“, das die Heilserwartung der russischen Orthodoxie widerspiegelt.
Filofejs Sendschreiben konzentrieren sich auf kirchlich-theologische Fragen, unmittelbare politische Forderungen enthalten sie nicht. Moskau stellt sich darin in erster Linie als neue Herberge der ›ecclesia fugans‹, der den Häresien entfliehenden Kirche dar. Die Wendung vom D. R. ist dabei als Ermahnung zu verstehen, den rechten Glauben zu bewahren, und enthält zugleich die Warnung vor dem Weltende: Denn ein viertes Rom wird es nicht geben.
In offiziellen Dokumenten des Moskauer Reiches fand die Lehre vom D. R. nur einmal Erwähnung: Die Urkunde über die Einrichtung des Moskauer Patriarchats (1589) zitiert eine angebliche Rede des ökumenischen Patriarchen Jeremias II. Tranos, allerdings mit der Variante, dass das „zweite Rom“ zwar von den Türken erobert und somit handlungsunfähig, aber nicht untergegangen sei. Nach dem Schisma der Altritualisten (Raskol, auch: Altgläubige) in der zweiten Hälfte des 17. Jh. fand die Lehre vom D. R. v. a. unter diesen Verbreitung. Sie untermauerte deren These, dass die alte russische Kirche allein den wahren Glauben bewahrt habe. Demgegenüber distanzierte sich die Synode von 1667 indirekt von der Lehre des D. R. Erst 1861 veröffentlichte Aleksej Pavlov eines der Sendschreiben Filofejs. 1869 interpretierte Vladimir Ikonnikov die Lehre vom D. R. als politisch-imperiale Doktrin, nach der Russland Retter der Welt sei. In den 70er und 80er Jahren des 19. Jh. stieß sie im Kontext der russisch-osmanischen Auseinandersetzungen auch bei Panslawisten auf Widerhall, denen zufolge sie Russlands Berufung ausdrückte, die unterdrückten orthodoxen Südslawen zu befreien. Bei Konstantin Leontʹev (1831–91) und Nikolaj Danilevskij (1822–85), die in der griechisch-russisch-slawischen Kultur einen dritten und allein zukunftsträchtigen Weg gegenüber Europa und Asien sahen, spielte der D.-R. Gedanke hingegen keine Rolle. Vladimir Solovʹev (1853–1900) verband mit dem D. wiederum die Vision, dass Russland aufgrund eigener Selbstlosigkeit Ost und West einigen und zu einer universalen Einheit zusammenführen werde. Nach der Revolution von 1905 trat der Aspekt des „russischen Messianismus“ in den D. R.-Deutungen in den Vordergrund, etwa bei Nikolaj Berdjaev (1874-1948) und Ivan Kirillov, dessen Buch darüber am Vorabend des Ersten Weltkrieges erschien. Auch die Oktoberrevolution von 1917 wurde in diesem Sinne verstanden. 1931 bemerkte Berdjaev, anstelle von Filofejs D. R. bekomme man nun Lenins ›Dritte Internationale‹. In der sowjetrussisch-nationalpatriotischen Atmosphäre der Stalinzeit wurde der Lehre vom D. R. die historische Leistung zugeschrieben, die Bildung eines „zentralisierten Moskauer Staates“ gefördert und damit die Abwehr imperialistischer Eroberer ermöglicht zu haben. In der westlichen Welt wurde seit den 20er Jahren die Vorstellung des „russischen Messianismus“ aufgegriffen und das russische und sowjetische imperiale Machtstreben als Ausdruck der Lehre vom D. R. interpretiert. Seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus erlebt die Beschäftigung mit dem D. R. unter Rückgriff auf die Denker des 19. Jh. eine beachtliche Renaissance.
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