Nischni Nowgorod (Stadt)

Nischni Nowgorod (russ. Nižnij Novgorod, 1932–90 Gorki, russ. Gorʹkij)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die an der Mündung der Oka in die Wolga gelegene Hauptstadt des Gebiets N. N. wurde in zarischer Zeit auch der „Geldbeutel Russlands“ (karman Rossii) genannt. Das verweist auf ihre überragende wirtschaftliche Bedeutung für Russland. Noch 1810 war die Stadt mit ca. 10.000 Einwohnern relativ klein. Im Verlauf des 19. Jh. wuchs die Einwohnerzahl dann bis auf 95.100 (1897) an. Nach einem kontinuierlichen und starken Wachstum im 20. Jh. (195.300 [1926], 940.748 [1958], 1.344.474 [1978]) erreichte sie 1989 mit 1.442.000 Menschen ihr bisheriges Maximum. 2005 wurden auf einer Fläche von 380 km² 1.283.600 Einwohner gezählt.

N. N. liegt 75–135 m ü. d. M. Die Durchschnittstemperaturen betragen im Januar –11,5 °C und im Juli 18,5 °C. Die Niederschlagsmenge beläuft sich durchschnittlich auf 619 mm im Jahr.

N. N. ist ein Knotenpunkt des Straßen- und Schienenverkehrs. An der Wolga befindet sich ein Binnenhafen und der Flugverkehr wird über den internationalen Flughafen Strigino abgewickelt. Das Straßenbahnnetz umfasst 198 km. Seit 1985 gibt es eine U-Bahn, die heute aus zwei Linien mit einer Gesamtlänge von 17 km besteht und täglich ca. 150.000 Passagiere befördert. Die Stadt ist Russlands wichtigstes Maschinenbauzentrum (v. a. Auto- und Schiffsbauindustrie, u. a. mit der grossen Werft und Maschinenbaufabrik „Rotes Sormovo“ (Krasnoe Sormovo) und ein Zentrum der Rüstungs- und Autoindustrie. In N. N. wurde und wird durch den Automobilhersteller GAZ (Gorʹkovskij avtomobilʹnyj zavod) neben LKWs das PKW-Modell ›Volga‹ produziert. Im Vergleich dazu ist ihre Bedeutung als Kultur- und Wissenschaftszentrum zweitrangig. Sie ist u. a. auch Sitz des Metropoliten von N. N.

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2 Kulturgeschichte

Der Großfürst von Vladimir Jurij II. Vsevolodovič hatte 1221 auf dem Gebiet des heutigen N. N. eine Festung gegründet, für die seit dem 13. Jh. der Name „Untere“ oder „Neue Stadt des unteren Landes“ (›Novgorod Nizovskija zemli‹ oder auch ›Niznij novyj gorod‹), überliefert ist, da der Ort Zentrum der Gebiete war, die unterhalb des Zusammenflusses von Oka und Wolga lagen. In der Gegend lebten zu der Zeit Mordwinen und Mongolen. Das „Untere Nowgorod“ war seit 1350 Residenz des 1341 gegründeten Fürstentums Nižegorodsk-Suzdalʹ. Bereits im frühen 14. Jh. (1328–30) entstand auch das auf den im Kiewer Höhlenkloster geweihten Mönch Dionisij zurückgehende und etwas ausserhalb der Stadt am Wolgahochufer gelegene Höhlenkloster (Pečërskij-Voznesenskij-Monastyrʹ), das mit seiner Bibliothek bis ins 18. Jh. von großer Bedeutung war.

Das Fürstentum kam 1392 unter Moskauer Oberherrschaft und wurde dessen Außenposten gegen das Kasaner Khanat. Der Bau eines steinernen Kreml hatte bereits in den 1370er Jahren begonnen, im frühen 16. Jh. erfolgte eine Erneuerung und ein Ausbau mit Hilfe italienischer Baumeister. Dieser ovalformige, mit zahlreichen Türmen versehene Kreml gehörte und gehört zu den größten Russlands und wurde kein einziges Mal von Angreifern erobert. Nach der Eroberung von Kasan 1552 wuchs die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt, da Moskau nun den gesamten Wolgaweg kontrollierte. In dieser Zeit bildeten sich zwei wichtige Zentren der Stadt heraus: in der oberen oder Bergstadt (nagornyj gorod) lag das Herrschaftszentrum, in der direkt am Wolgaufer gelegenen unteren Stadt (zarečnyj gorod) konzentrierten sich Handel und Gewerbe.

In der „Zeit der Wirren“ formierte sich 1611–12 in N. N. das „Volksaufgebot“ (opolčenie) unter dem Fürsten Dmitrij M. Požarskij und dem Kaufmannsältesten Kuzʹma Minin und stieß von hier aus über die obere Wolga Richtung Moskau vor, das von Polen-Litauern besetzt gehalten wurde. In Erinnerung daran liess Patriarch Filaret 1628–31 auf dem Kremlterritorium die „Erzengel-Michael-Kremlkirche“ (Michajlo-Archangelsʹkij kremlevskij sobor) errichten. 1719 wurde die Stadt zum Zentrum eines Gouvernements erhoben und während Napoleons Vorstoß nach Russland 1812 verlegte man für kurze Zeit Staatsarchiv, Post und Universität aus Moskau nach N. N. Der Dekabrist Pavel Pestelʹ machte sogar in seiner Schrift ›Russkaja Pravda‹ (1823–25) den Vorschlag, die Hauptstadt Russlands nach N.N. zu verlegen und begründete dies mit einer besonderen nationalen Bedeutung und freiheitlichen Tradition der Stadt.

Die herausragende wirtschaftliche Bedeutung der Stadt ist auf den Jahrmarkt zurückzuführen. 1641 hatte das 1435 entstandene, etwa 80 km südlich von N. N. gelegene „Makarʹev Dreifaltigkeitskloster am gelben Wasser“ (Makarʹev Žëltovodskij Monastyrʹ Troickij) 1641 das Recht erhalten, jährlich einen Jahrmarkt abzuhalten, der im frühen 18. Jh. dem Staat unterstellt wurde, überregionale Bedeutung erhielt und dem Staat wachsende Einnahmen bescherte. Nachdem der Jahrmarkt 1817 nach einem Brand nach N. N. verlegt und dort ein neues großes Messegelände am westlichen Oka-Ufer erbaut worden war, stieg er zum größten Jahrmarkt Russlands auf. Moskauer Kaufleute, Händler aus Mittelasien (wie die ›Bucharcy‹), Sibirien, der oberen und der unteren Wolga sowie anderen Regionen Russlands (seltener auch westeuropäische Kaufleute) handelten hier mit Tee aus China, mit Salz und Fisch aus Astrachan und Saratov, mit Baumwolle aus Mittelasien, Textilien aus Moskau, Eisenerzeugnissen aus dem Ural, Färberröte aus dem Kaukasus etc.

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Nach einer neuen Blüte des Messehandels von den 1860er Jahren an, der v. a. dem Baumwolle- und Textiliengeschäft zu verdanken war, ließ die Bedeutung des Jahrmarkts seit den 1880er Jahren deutlich nach, insbesondere nachdem Moskau durch die Transsibirische Eisenbahn direkt mit Mittelasien und Sibirien verbunden war. Die 1918 geschlossene und 1922 wieder eröffnete Messe schloss 1929–30 erneut und wurde erst 1991 wieder eröffnet, ihr Schicksal war also auch eng mit wirtschaftspolitischen bzw. politischen Zäsuren verbunden.

Die industrielle Entwicklung verlief dagegen nur zögerlich. Die Gründung des Schiffs- und Maschinenbauwerkes ›Sormovo‹ durch Eigentümer und Kapital aus der Hauptstadt vor den Toren N. N.s 1849 trug zum Aufschwung der Dampfschifffahrt auf der Wolga und einer modernen Mühlenindustrie bei. Staatliche Aufträge und die Ausweitung der Produktion auf den Eisenbahnwaggon- und Schienenbau retteten ›Sormovo‹ in den 1870er und 1880er Jahren wiederholt vor dem Aus. Das Unternehmen wurde 1894 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und technologisch erneuert, geriet aber nach einigen profitablen Jahren (1899 hatte es mehr als 10.000 Arbeiter) zwischen 1905 und 1911 erneut in eine Krise.

Im Laufe des 19. Jh. entstand eine einflussreiches Unternehmertum. Die Kaufmannsdynastien Pereplečikov, Rukavišnikov, Bugrov (v. a. der Getreidehändler und Mühlenfabrikant Nikolaj A. Bugrov [1837–1911]), Blinov, Sucharev, Bočkarev, Vjachirev u. a. kamen zu Wohlstand und stiegen zu Honoratioren der Stadt auf. Ihre Frömmigkeit und ihr Repräsentationswille sind in der Restaurierung der „Erlöser-Verwandlungskathedrale“ (Spaso-Preobraženskij sobor) auf dem Territorium des Kreml (1221 erbaut, war sie die Grabstätte vieler Fürsten) in den 1830er Jahren sowie im Bau der großen, 1881 eingesegneten Aleksandr-Nevskij-Kathedrale erkennbar. Der Wohlstand der Stadt zeigt sich auch an zahlreichen, bis heute erhaltenen Jugenstilbauten, von denen das herausragendste das 1911–13 erbaute Gebäude des N. N.er Kontors der Staatsbank ist. Auffallend ist der hohe Anteil Altgläubiger unter den Unternehmern der Stadt. Vertreter anderer konfessioneller oder auch ethnischer Gruppen waren dagegen in der lokalen Handels- und Geschäftswelt kaum vertreten. N. N. hatte einen deutlich russischen Charakter, der sich nur zu Zeiten der Messe veränderte.

In N. N. bestand seit 1798 ein eigenes Theater und ein 1903 eröffnetes Volkshaus präsentierte Boulevardstücke. Seit dem frühen 19. Jh. gab es ein Knabengymnasien, seit 1838 ein „Institut für wohlgeborene Töchter“, zwischen 1898 und 1905 öffneten vier Mädchengymnasien.

Die Schriftsteller Maksim Gorki (der in N. N. geboren wurde) und Vladimir G. Korolenko (der von 1884–96 in N. N. lebte) sowie der Fotograf Maksim P. Dmitriev thematisierten in ihren Werken die großen sozialen Gegensätze und Konflikte der Stadt und der Region am Ende des 19. Jh. Das Armenviertel ›Millionka‹ lag dicht neben der Kremlmauer und dem Wolgaufer. Die wohltätigen Aktivitäten der Unternehmer (um 1900 gab es 35 wohltätige Einrichtungen in der Stadt) vermochten nicht die Existenzprobleme der unteren Schichten zu lösen. Missernten und besonders die Hungersnot von 1891 wirkten sich verheerend auf die unteren Schichten der Stadt und der Region aus. Bis Mitte des 19. Jh. strömten im Frühjahr bei Eisbruch der Wolga Tausende von Bauern in die Stadt zum Hafen, um sich allein oder in Gruppen (artely) als Treidler auf den Lastkähnen zu verdingen und die Wolga aufwärts nach Rybinsk zu ziehen. N. N. und die Wolga waren für sie Segen und Fluch zugleich.

Die große „Allrussische Kunst- und Industrieausstellung“ (Vserossijskaja Promyšlennaja i Chudožestvennaja Vystavka) führte 1896 schließlich zu einem grundlegenden Ausbau bzw. zu einer Erneuerung der sozialen und technischen Infrastruktur auf dem Gebiet der Messe und in der Stadt, die sich modern und europäisch präsentieren wollte. Die Wasserversorgung wurde entscheidend verbessert, die Pflasterung der Hauptstraßen erneuert und elektrisches Licht angebracht sowie eine elektrische Straßenbahn eingeführt. Eine kostspielige, moderne Kanalisation erhielten jedoch selbst die zentralen Stadtteile bis 1917 nicht.

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In der Stadt hatte es bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. kleinere politisch oppositionell gesinnte Intelligenzija-Kreise gegeben, 1891 bildete sich ein erster marxistischer Zirkel in einer Fabrik und 1901 eine lokale Organisation der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Rossijskaja social-demokratičeskaja rabočaja partija). Seit den 1880er Jahren kam es zu vereinzelten Arbeiterprotesten, die mit Ende der 1890er Jahre an Häufigkeit zunahmen und während der Revolution von 1905 unter dem Einfluss sozialistischer Ideen zu großen Streiks, politischen Forderungen und einem gescheiterten Aufstandsversuch führten. 1917 bildeten sich in allen Industriebetrieben der Stadt Arbeiterräte (Sowjets) und im Herbst 1917 schließlich ein Rat der Arbeiterdeputierten, dessen Exekutivkomitee mit Hilfe der Roten Garden Anfang November 1917 die Macht in der Stadt übernahm. Die Industriebetriebe wurden verstaatlicht (aus ›Sormovo‹ wurde 1921 das „Rote Sormovo“), Arbeiterproteste für bessere ökonomische Bedingungen und gegen die Alleinherrschaft der Bolschewisten gewaltsam niedergeschlagen. Die Wirtschaft belebte sich in den 1920er Jahren wieder, u. a. die bereits während des Ersten Weltkrieges forcierte Produktion militärischer Güter.

Nach 1918 wurden viele Kirchen und Klöster geschlossen worden, 1924 das Höhlenkloster der staatlichen Museumsverwaltung unterstellt, es verfiel in der Folge. In den 1930er Jahren ließ man schließlich einige große Kirchen auf dem Kremlterritorium und in der Stadt sprengen. In die 1920er Jahre fallen die Gründung der staatlichen Lobačevskij-Universität und eines Pädagogischen Institutes.

Die auf einer Anhöhe gelegene Altstadt behielt nach 1917 im wesentlichen ihr früheres Gesicht, während westlich der Oka hinter dem ehemaligen Messegelände und der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale im Verlauf des ersten Fünfjahresplans neue Industrieviertel wie die riesige Autofabrik GAZ einschließlich eines dazu gehörenden neuen Stadtteiles entstanden. Die Generalpläne der Stadt aus den 1930er Jahren und 1966 schufen den Rahmen für den weiteren Ausbau der städtischen Infrastruktur (so für die Errichtung eines Schiffs-, Eisenbahn- und Flughafenbahnhofes). Seit 1932 hieß die Stadt – nach dem Schriftsteller – Gorki. Die bedeutende Rüstungsindustrie führte zu ihrer Schliessung für Ausländer vom Ende der 1950er Jahre bis 1991. Gorki war in dieser Zeit auch der Verbannungsort für Dissidenten wie Andrej D. Sacharov, dem heute in der Stadt ein kleines Museum gewidmet ist.

Der zentrale öffentliche Platz befand und befindet sich in N. N. direkt vor dem Kreml; er hieß vor 1917 „Verkündigungsplatz“ (Blagoveščenskaja Ploščadʹ) und wurde in der sowjetischen Zeit in Minin- und Požarskij-Platz umbenannt. Das dort seit dem späten 19. Jh. stehende Denkmal von Zar Aleksandr II. wurde in der frühen Sowjetzeit abgerissen und in den 1930er Jahren durch ein Denkmal für Minin ersetzt. Auch ein Obelisk auf dem Kremlgelände erinnert seit 1828 an die beiden nationalen Helden. Die große Grabstätte von Kuzʹma Minin, die sich vor 1917 auf dem Kremlgelände neben der großen „Erlöser-Verwandlungskathedrale“ befand, wurde allerdings zusammen mit der Kirche 1929 zerstört. So ist das historische Erbe der Stadt in der Sowjetzeit einerseits zerstört, andererseits aber auch erhalten worden.

Falke D., Heyse V., Rjabow G. P. (Hg.) 1995: Deutsche und Russen im Gouvernement Nishnij Nowgorod. Geschichte und Gegenwart. Münster. Fitzpatrick A. L. 1990: The Great Russian Fair. Nizhnij Novgorod, 1840–90. London. Küntzel K. 2001: Von Nižnij Novgorod zu Gorʹkij. Metamorphosen einer russischen Provinzstadt. Die Entwicklung der Stadt von den 1890er bis zu den 1930er Jahren. Stuttgart (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 60). Marčenko G. 1994: Zur Problematik der Wiederbelebung des historischen Kerns Russlands: Das Beispiel Nižnij Novgorod. Segbers K. (Hg.): Russlands Zukunft. Räume und Regionen. Baden-Baden, 175–188. Ulianova G. 2001: Entrepreneurs and Philanthropy in Nizhnii Novgorod, from the Nineteenth Century to the Beginning of the Twentieth Century. Brumfield W. C., Ananʹich B. V., Petrov Y. A. (Hg.): Commerce in Russian Urban Culture, 1861–1914. Washington C. C., 90–107.

(Guido Hausmann)

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