Bulgarien (Land)

Bulgarien (bulg. Bălgarija). Kurzform für Republik Bulgarien (bulg. Republika Bălgarija).

Inhaltsverzeichnis

1 Statistische Angaben


Lage:
Staat am Ostrand Südosteuropas, grenzt im Osten an das Schwarze Meer (Grenzlänge 378 km), im Süden an die Türkei (Grenzlänge 240 km) und Griechenland (494 km), im Osten an Makedonien (148 km) und Serbien und Montenegro (318 km) und im Norden an Rumänien (608 km, davon entfallen 470 km auf die Donau). Die Fläche beträgt 111.001,9 km².
Einwohner (2005):
77.718.850, davon 48,5 % männlich, 51,5 % weiblich; Altersstruktur 0–14 Jahre: 13,8 %, 15–64 Jahre: 69,1 %, 65 Jahre und älter: 17,1 %; Bevölkerungsdichte: 76,8 Menschen/km²; 66,0 % im arbeitsfähigen Alter (Männer 15–64, Frauen 15–59); 65,0 % Beschäftigte (von den Personen im erwerbsfähigen Alter); 9,9 % Arbeitslose; Bevölkerungsentwicklung 1950–2005: 0,11 % jährlich, 1990–2005: –0,73 % jährlich; Nationalitäten (nach der Volkszählung 2001): 6.650.210 Bulgaren (83,9 %), 746.664 Türken (9,4 %), 370.908 Roma (4,7 %), 15.595 Russen (0,2 %), 10.832 Armenier (0,1 %), 5071 Makedonier (0,1 %), 114.055 ohne Angabe u. a (1,4 %). Religionszugehörigkeit (nach der Volkszählung 2001): 82,6 % orthodoxe Christen, 12,2 % Muslime, 0,6 % Katholiken, 0,5 % Protestanten, 0,2 % andere, 3,9 % Agnostiker oder Nichtbekennende.
Hauptstadt und größere Städte (2005):
Sofia (1.148.429), Plovdiv (341.873), Warna (Varna, 311.796), Burgas (189.245), Ruse (157.540), Stara Zagora (141.480), Pleven (113.700), Sliven (95.518), Dobrič (93.802), Šumen (86.381), Pernik (80.900).
Währung: 1 Lew (Lw) = 100 Stotinki (St.)
Wappen:
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Das Staatswappen zeigt einen aufrecht stehenden goldenen Löwen auf dunkelrotem Wappenschild.
Flagge:
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Die Staatsflagge besteht aus drei waagerechten Streifen in den Farben weiß, grün und rot.
Hymne: Mila Rodino („Liebe Heimat“), Text und Melodie von Cvetan Radoslavov (1863-1931).
Feiertage:
Staatliche Feiertage: 1. Januar (Neujahr), 3. März „Tag der Befreiung vom osmanischen Joch“ (Den na osvoboždenieto), 6. Mai „Tag der Streitkräfte“ (Gerg′ovden), 6. September „Tag der bulgarischen Einheit“ (Den na saedinenieto), 22. September Unabhängigkeitstag (Den na nezavisimostta), 1. November „Gedenktag der Führer des nationalen Wiedererwachens“ (Den na narodnite buditeli); sonstige Feiertage: Karfreitag (beweglich), Ostersonntag und –Montag (orthodoxe Ostern;beweglich), 1. Mai (Tag der Arbeit), 24. Mai „Tag der Hl. Kyrill und Method“ (Den na slavjanskata pismenost i kulturata), 24. Dezember (Heiligabend), 25. Dezember (1. Weihnachtstag), 26. Dezember (2. Weihnachtstag).
Zeit: Osteuropäische Zeit
Staatssprache: Bulgarisch
Staatsform: parlamentarische Republik
Staatsoberhaupt: Präsident (derzeit Georgi Părvanov)
Regierungschef: Ministerpräsident (derzeit Sergej Stanišev)
Politische Parteien:
Bălgarski naroden săjuz (BNS, „Bulgarischer Volksbund“): Demokratska partija (DP, „Demokratische Partei“), Vătrešna Makedonska revoljucionna organizacija (VMRO, „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“), Săjuz na svobodni demokrati (SSD, „Bund der Freien Demokraten“);
Demokrati za silna Bălgarija (DSB, „Bewegung für ein starkes Bulgarien“); Dviženie za prava i svobodi (DPS, „Bewegung für Rechte und Freiheiten“); Koalicija za Bălgarija („Koalition für Bulgarien“) bestehend u. a. aus: Bălgarska socialističeska Partija (BSP, „Bulgarische Sozialistische Partei“), Komunističeska partija na Balgarija (KPB, „Kommunistische Partei Bulgariens“), Zelena partija na Bălgarija („Grüne Partei Bulgariens“);
Nacionalen săjuz Ataka (Ataka, „Nationalallianz Attacke); Narodno dviženie Simeon II. (NDSV, „Volksbewegung Simeon II.“); Obedineni demokratični sili (ODS, „Vereinigte Demokratische Kräfte“) bestehend u. a. aus: Bălgarski zemedelski naroden săjuz-Obedinen (BZNS-Obedinen, „Vereinigter Bulgarischer Volksbund“) und Săjuz na demokratičeski sili (SDS, „Bund der Demokratischen Kräfte“).
Bruttoinlandsprodukt (2005): 23,514 Mrd. US-Dollar, pro Kopf der Bevölkerung: 3046 US-Dollar
Bruttosozialprodukt (2005): 26,646 Mrd. US-Dollar, pro Kopf der Bevölkerung: 3443 US-Dollar
Auslandsverschuldung (2005): 18,061 Mrd. US-Dollar
Haushaltsdefizit (2005): 284,8 Mio. US-Dollar (1,2 % des BIP)
Außenhandel (2005):
Import: 18,241 Mrd. USD: 30,7 % Maschinen und Transportmittel, 20,1 % Mineralstoffe und Öle, 20,1 % Metallerzeugnisse und Fertigwaren; Hauptlieferländer: 15,6 % Russland, 13,6 % Deutschland, 9,0 % Italien, 6,0 % Türkei, 5,0 % Griechenland; Export 11,745 Mrd. USD: 26,5 % Metallerzeugnisse und Fertigwaren, 22,3 % Güter und verschiedene Fertigungserzeugnisse, 14,2 % Maschinen und Transportmittel; Hauptabnehmerstaaten: 12,0 % Italien, 10,5 % Türkei, 9,8 % Deutschland, 9,4 % Griechenland, 6,0 % Belgien.
Mitgliedschaften:
Central European Initiative (CEI), Europarat, European Bank for Reconstruction and Development (EBRD), International Monetary Fund (IMF), Interpol, NATO, OECD, OSZE, Schwarzmeerkooperation, UNO, Weltbank, WTO; seit 1.12.2000 mit der EU assoziiert.


Anmerkung der Redaktion: Stand der statistischen Angaben ist, wenn nicht anders vermerkt, das Publikationsdatum des Artikels.

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2 Geographie

2.1 Naturraum

Die landschaftliche Gliederung B.s zeichnet sich durch große Vielfalt aus. Fruchtbare Ebenen wie die sich – im Norden an der Grenze zur Rumänien – bis zur Süd-Dobrudscha und an das Schwarze Meer erstreckende Donauebene (Dunavska ravnina) sowie südlich des Balkangebirges die Ebene um den Fluss Marica und die Ebenen in Thrakien, am Fluss Tundža und um die Stadt Burgas wechseln mit durchschnittlich 2000 m hohen Gebirgen wie dem 600 km langen Balkangebirge (bestehend von N nach S aus: Stara Planina-Vorgebirge, Stara Planina und Sredna gora), das sich als eine Fortsetzung der Karpaten durch die Mitte des Landes zieht. Der höchste Berg des Balkans ist der Botev mit 2376 m. Durchbrochen wird der Balkan v. a. durch die Iskăr-Enge nördlich von Sofia und dem Šipka-Pass in der Mitte (Šipčenski prohod, 1200 m).

Südlich des „Sofioter Beckens“ (Sofijsko pole) liegt der Berg Vitoša (höchster Gipfel: Černi Vrăch, 2290 m), das Rila-Gebirge (mit dem höchsten Berg B.s, dem Musala mit 2925 m) und das Pirin-Gebirge. Weiter südöstlich folgen an der Grenze zu Griechenland die West- und die Ost-Rhodopen, und an der Grenze zur Türkei die Gebirge Sakar und Strandža. Die größte Länge B.s beträgt 520 km, die größte Breite 330 km.

Entwässert wird B. durch die schiffbare Donau und ihre Nebenflüsse Ogosta und Iskăr im NW, den Fluss Struma, der entlang der Grenze zu Makedonien nach Griechenland fließt, den ebenfalls nach Griechenland fließenden Mesta im in den Rhodopen sowie die vorwiegend west-östlich nach Griechenland und in die Türkei fließenden Arda, Marica und Tundža.

B. hat über 330 Seen, von denen der Großteil in den Gebirgen Rila und Pirin liegt, sowie über 2000 künstliche Stauseen, die in den trockenen Sommermonaten zur Wasserversorgung dienen. B. verfügt über 200 Mineralquellen und eine Vielzahl von Heilbädern.

Klimatisch wird B. durch das gemäßigte Kontinentalklima mit großen Temperaturschwankungen zwischen dem heißen Sommer und kaltem Winter beeinflusst. Das Balkangebirge bildet eine Barriere für die kontinentalen Luftmassen aus dem Norden bzw. die mediterranen Luftmassen aus dem Süden, so dass v. a. im Südwesten des Landes und an der Schwarzmeerküste mediterrane Einflüsse überwiegen.Die durchschnittliche Temperatur im Januar beträgt im Norden bis ca. –3,5 °C, im Hochgebirge bis –10 °C, an der Schwarzmeerküste etwa 2 °C. Im Juni 22/23 °C im Norden und an der Küste, um 1 bis 2 °C mehr im Südosten und 5 °C im Hochgebirge. Die jährliche Niederschlagsmenge beläuft sich im Norden und an der Küste auf 500–650 und in den Gebirgen auf über 1000 mm.

Ein Drittel des Landes ist bewaldet, im Norden (Donaubereich) gibt es noch einige Eichen und Ulmen, v. a. aber Weiden, Erle und Pappeln, im Süden Eichen, Buchen, Kastanien, Eschen, Linden, und Ahorn, in den Bergen über 1000 m Koniferen (Fichten, Kiefern, Eichen, Rot-Tannen, Birken und Buchen). Die Fauna ist ebenso reichhaltig: In der Donau-Ebene gibt es u. a. Schwalben, Wildgänse, Pelikane, Rebhühner, Lerchen und Wachteln, in den Wäldern Rehe, Hirsche, Dachse, Auerhähne, Marder und Schakale, im Süden Falken, Drosseln, Möwen, Stockenten, Fasane, im Schwarzen Meer Robben und Delphine. Zu erwähnen ist auch die Fauna in den zahlreichen Höhlen (seltene Fledermausarten). In den höheren Gebirgsregionen finden sich noch vereinzelt Wölfe und Braunbären. Kaspische Wasserschildkröte leben im Bereich der Thermalquellen. In B. gibt es zehn Nationalparks, die größtenteils frei zugänglich sind. 1934 wurde der älteste Nationalpark (Vitoša) gegründet, der flächenmäßig größte ist der Nationalpark Pirin (etwa 400 km²).

Der Umweltschutz ist in Art. 15 der Verfassung verankert. Außerdem gewährt Artikel 55 der Verfassung den Bürgern ein Recht auf eine „gesunde und angenehme Umwelt“, allerdings nur im Rahme der bestehen Vorschriften. Diese sind zwar vorhanden, stehen jedoch weitgehend auf dem Papier. Die Umweltprobleme sind enorm. Sie sind v. a. eine Erbschaft des bis zum 9.11.1989 herrschenden sozialistischen Systems, das ungeachtet der Umweltschäden nur auf Erfüllung der Produktionsvorgaben erpicht war. B. hat sich zwar in den EU-Beitrittsverträgen zur Beseitigung der Umweltlasten verpflichtet, ist aber finanziell dazu nicht in der Lage, die dafür erforderlichen Milliardenbeträge (mindestens 9 Mrd. Euro bis 2020, jährlich 11 % des BIP) aufzubringen. Die EU hat daher längere Übergangsfristen gewährt.

Über die Hälfte des Landes besteht aus landwirtschaftlich bebaubaren Böden, jedoch nur 38 % sind bebaut. Überwiegend kommt Braunerde vor, 23 % des Landes, v. a. die Donauebene, Dobrudscha und die „Thrakische Ebene“ bestehen aus fruchtbaren Schwarzerde-Böden.

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2.2 Bevölkerung

Nach Art. 3 der Verfassung vom 12.7.1991 ist die Amtssprache das Bulgarische. Nach Art. 36 ist das Erlernen und der Gebrauch der bulgarischen Sprache das Recht und die Pflicht der bulgarischen Bürger. Bulgarische Staatsangehörige, deren Muttersprache eine andere Sprache ist, haben daneben das Recht, auch ihre Sprache zu erlernen und zu benutzen; das Gesetz kann festlegen, in welchen Fällen nur die Amtssprache verwendet werden darf. Als Minderheitensprachen kommt v. a. das Türkische und Romanes in Betracht.

Die beiden zahlenmäßig wichtigsten Minderheiten sind Türken (ca. 10 %) und Roma (knapp 2 %). Daneben gibt es noch ca. 20 winzige Minderheiten wie Armenier, Juden (überwiegend Sepharden), Gagausen usw. Während die Türken im Süd- und Nordosten (Ruse, Silistra, Varna, Šumen) konzentriert sind, finden sich die Pomaken (zum Islam konvertierte ethnische Bulgaren) v. a. im Südwesten und -osten.

Die Zwangsbulgarisierung der Türken unter Todor Živkov in den Jahren 1984–89 (der sog. Wiedergeburtsprozess) wurde nach dessen Entmachtung am 9.11.89 beendet und Wiedergutmachung geleistet. Etwa die Hälfe der emigrierten über 300.000 Türken sind zurückgekehrt. Neuerdings machen sich, vermutlich wegen des wachsenden politischen und wirtschaftlichen Einflusses der Partei der ethnischen Türken in Bulgarien (DPS, Regierungsbeteiligung seit 2001), der in den Augen der Bulgaren häufig als Missbrauch empfunden wird, stärke antitürkische Strömungen bemerkbar wie z. B. der Erfolg der nationalistischen und minderheitenfeindlichen Partei ›Ataka‹ bei den letzten Wahlen am 25.6.05 oder die Proteste gegen die aus den Reihen der DPS neu ernannten Gebietsverwalter in Varna, Sofia, Smoljan und anderswo. Studien zeigen, dass die Ablehnung der Minderheiten (an erster Stelle der Roma, danach der Türken) in der Bevölkerung wächst.

Die ca. 370.908 (2001) noch häufig halbnomadischen, meist arbeitslosen, analphabetischen Roma finden sich im ganzen Land, meist in den Elendsvierteln (machala) am Rande der Städte. Ihre Integration ist angesichts der mangelnden Schulbildung und unterschiedlichen Kultur – trotz Intervention der EU – ein noch ungelöstes Problem. Es kommt häufig zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit der bulgarischen Bevölkerung. Die bulgarische Verfassung kennt keine ethnischen Minderheiten, da der Staat als Einheitsstaat konzipiert ist. Der Minderheitenbegriff ist allerdings nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 18.2.1998 über Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention inkorporiert. Dieses zwiespältige Herangehen an die Minderheitenfrage hat das Verfassungsgericht zu der politisch klugen, aber rechtlich kaum haltbaren Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der Türkenpartei DPS geführt (Entscheidung vom 21. April 1992), zumal es in der Frage der Verfassungsmäßigkeit der makedonischen Partei andere Kriterien angelegt hat. Die Makedonier im Raum um Blagoevgrad waren und sind bis heute ein ständiger Streitapfel zwischen Sofia und Skopje. Sie werden von den Behörden seit Ende der 50iger Jahre nicht mehr als makedonische Minderheit, sondern als Bulgaren angesehen. Erst kürzlich kam es zu einer merklichen Verstimmung, als der bulgarische Außenminister am 24.7.06 sich eine makedonische Einmischung in dieser Frage verbat. Die makedonische Partei Obedineta makedonska organizacija “Ilinden” – PIRIN (OMO „Ilinden“ – PIRIN) hat das Verfassungsgericht als ethnische Partei in seiner Entscheidung vom 29.02.2000 verboten, indem es – anders als in der Entscheidung über die DPS – auf die Realität und nicht nur auf die Satzung abgestellt hat.

Nach Art. 13 der Verfassung ist das Religionsbekenntnis frei und es herrscht Trennung von Kirche und Staat. Jedoch ist die griechisch-orthodoxe Religion die „traditionelle“ Religion der ethnischen Bulgaren. Die orthodoxe Kirche ist allerdings seit 1992 gespalten: unter Hinweis auf die angeblich kommunistisch gefärbte Vergangenheit des am. 4.7.1971 eingesetzten Patriarchen Maksim (*1914) haben mehrere Metropoliten unter Pimen (1906–99) eine eigene Kirche gegründet und teilweise gewaltsam Kirchenbesitz besetzt. Die neue Kirche wurde zunächst vom Staat anerkannt; diese Anerkennung haben jedoch dann die Gerichte unter Hinweis auf die Trennung von Kirche und Staat für unwirksam erklärt, so dass beide Kirchen nebeneinander bestehen. Die übrigen orthodoxen Kirchen des Auslands haben nur Maksim anerkannt.

Art. 37 und 38 der Verfassung schützen u. a. die Glaubensfreiheit. Nach Angaben von 1986 bekannten sich 23,6 der Bevölkerung als gläubig, 1992 48,5 %. In den letzten Jahren ist jedoch eine spürbare Entkirchlichung bemerkbar. 2001 waren 82,6 % orthodoxe Christen, 12,2 % Moslems (Türken, Pomaken und zahlreiche Roma), 0,6 % Katholiken und 0,5 % Protestanten. Daneben gibt es noch einige Juden, mit Rom unierte Katholiken, Armenier u. a.

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2.3 Staat und Gesellschaft

Die Verfassung vom 12.7.1991 war die erste Verfassung eines exkommunistischen Landes. Sie wurde bisher dreimal geändert: am 24.9.2003 auf dem Gebiet der Justiz und am 18.2.2005, um die verfassungsrechtlichen Anpassungen für den EU-Beitritt zu schaffen. Am 3.4.2006 hat das Parlament die dritte Verfassungsänderung beschlossen (DV 2/2006). Eine vierte ist gerade in Bearbeitung. Es handelt sich um eine Verfassung nach westlichem Vorbild (Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Gleichheitssatz, Grundrechte wie Eigentumsgarantie usw., liberale Wirtschaftsverfassung mit einigen Besonderheiten. So sind z. B. keine Parteien auf ethnischer Grundlage zugelassen (Art. 11); Ausländer durften bisher keine Grundstücke erwerben. Der am 18.2.2005 geänderte Art. 22 sieht dieses Verbot nur noch bis 2014 vor. Besonderheiten sind die aus der Verfassung von Tărnovo von 1881/1878 übernommene „Große Nationalversammlung“ (GNV, Veliko Narodno Săbranie), die allein über schwerwiegende Verfassungsänderungen zu entscheiden hat (Art. 157 ff. Verfassung) und der „Oberste Justizrat“ (OJR), das Selbstverwaltungsorgan der Justiz (Art. 129).

Die Verfassung kennt folgende Organe: Das für vier Jahre gewählte Einkammer-Parlament mit 240 Abgeordneten; bei besonders schwer wiegenden Verfassungsänderungen muss unter besonderen Kautelen eine GNV mit 400 Abgeordneten gewählt werden, wie dies auch am 10./17.6.1990 für die Verabschiedung der Verfassung von 1991 geschehen war. Auch für die von der GNV zu verabschiedenden Verfassungsänderungen sind besondere Mehrheiten erforderlich. Dieses schwerfällige Verfahren macht derartige Verfassungsänderungen praktisch unmöglich.

An die Stelle des bisherigen kollektiven Staatsrats trat 1990 mit der Wahl von Želju Želev ein auf fünf Jahre direkt vom Volk gewählter Staatspräsident. Dies wurde durch die Verfassung von 1991 bestätigt. Im Wesentlichen hat er protokollarische Befugnisse. Immerhin kann er ein aufschiebendes Veto gegen Gesetze einlegen (Art. 101). Er kann das Parlament nur dann auflösen, wenn drei Versuche einer Regierungsbildung gescheitert sind (Art. 99). Seit der Wende gab es vier Präsidenten: Petăr Mladenov (BSP, 1989–90), Želju Želev (SDS, 1.8.90–96), Petăr Stojanov (SDS, 1996–2001) und Georgi Părvanov (BSP, 2001–2006).

Die Regierung wird vom Parlament gewählt und ist ihm verantwortlich. Minister verlieren mit ihrem Amtsantritt ihr Abgeordnetenmandat. Bisher gab es – abgesehen von den beiden geschäftsführenden Regierungen Indžova (1994) und Sofianski (1997) – bis zum 16.8.2005 acht Regierungen, von denen nur die Regierung von Ivan Kostov (1997–2001, SDS) und die von Simeon Sakskoburggotski (2001–05, NDSV) während der vollen vier Jahre im Amte waren.

Das Verfassungsgericht übt auf Antrag eines begrenzten Kreises von staatlichen Organen (Art. 150) u. a. die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und der sonstigen Akte des Parlaments und des Staatspräsidenten aus (Art. 149). Es kann auch die Verfassung verbindlich auslegen (Art. 149). Es gibt keine Verfassungsbeschwerde; Verfassungsverletzungen werden inzident v. a. im Verwaltungsgerichtsverfahren gerügt. Die zwölf Verfassungsrichter werden zu je einem Drittel vom Parlament, vom Staatspräsidenten, von der Vollversammlung der Richter des Obersten Kassationsgerichts und Verwaltungsgerichts gewählt sowie vom Präsidenten ernannt (Art. 147). Die Gerichtsbarkeit wird durch vom Obersten Justizrat (Art. 129) gewählte und mit Immunität ausgestatte Richter und durch formell unabhängige einheitliche Gerichte ausgeübt: die Rayongerichte, die Bezirks- und die Appellationsgerichte, die für alle rechtlichen Bereiche zuständig sind. Eine Trennung zwischen Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit gab es bisher erst in der obersten Instanz: beim Obersten Kassationsgericht und beim Obersten Verwaltungsgericht. Dies wird sich mit dem neuen Verwaltungsverfahrensgesetz von 2006 ändern. Auch die Staatsanwaltschaft und die sog. Ermittlungsbehörden (sledstvie) gehören zur Justiz. Der OJR ist das Personalverwaltungsorgan der Justiz: Er besteht aus 25 Mitgliedern, von denen 11 von Richtern, Staatsanwälten und Untersuchungsführern unter ihresgleichen und 11 vom Parlament gewählt werden; ex officio Mitglieder sind die Vorsitzenden der beiden Obersten Gerichte und der Generalstaatsanwalt. Man kann angesichts dieses Wahlmodus zweifeln, ob der OJR ein von der Legislative wirklich unabhängiges Organ ist. Generell hat die Justiz ihre Rolle noch nicht gefunden: sie zeigte in den letzten Jahren einerseits gegenüber der Regierung ein exzessives Selbstbewusstsein, v. a. auch bei der Verteidigung ihrer Privilegien, ist aber andererseits politisch und angesichts der schlechten Bezahlung durchaus von äußeren Einflüssen abhängig. Besonders die völlig ineffiziente Strafjustiz wird jetzt auf Grund der Drohung Brüssels, den Beitritt um eine Jahr zu verschieben, reformiert werden.

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Das bulgarische Recht hat römisch-rechtliche (Byzanz) Wurzeln. Es wurde über das italienische und ungarische Recht, aber auch direkt durch zahlreiche in Deutschland und Frankreich Studierende Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. vom deutschen und französischen Recht beeinflusst. Nach der Machtergreifung der Kommunisten am 9.9.1944 wurden sämtliche aus der Vorkriegszeit stammende Rechtsnormen durch das Gesetz vom 9.11.1951 aufgehoben. Seit 1944 wurde ein neues, durch das sowjetische Recht beeinflusstes Recht geschaffen.

Seit der Wende 1989 ist eine fieberhafte Gesetzgebungstätigkeit im Gange, ein neues, durch westliche Vorbilder inspiriertes EU-kompatibles Recht zu schaffen, um den Anschluss an die westeuropäische Gesetzgebung zu erlangen und europareif zu werden. Viele Gesetze werden – auch um Interessengruppen zu befriedigen – dauernd geändert. Das Recht ist technisch noch etwas unhandlich, umständlich, v. a. wenig abstrakt, häufig nicht kohärent. Das Zivilrecht ist in zahlreiche Einzelgesetze aufgesplittert: Es gibt also kein BGB sondern nur Einzelgesetze über Schuldverhältnisse und Verträge, über das Erbrecht, über das Familienrecht, zahlreiche Gesetze über das Sachenrecht (Eigentum, Pfandrechte, Hypotheken usw.). Immerhin gibt es eine ZPO, ein STGB, eine STPO, ein Arbeitsgesetzbuch, sogar ein Gesetz über den Umweltschutz usw. Sammlungen der Entscheidungen der Obersten Gerichte gibt es nur vom Verfassungsgericht. Die Entscheidungen der übrigen beiden Obersten Gerichte finden sich in Fachzeitschriften, die der Untergerichte sind nur schwer auffindbar. Das Internet wird allmählich nutzbar gemacht.

Die Parteien sind in B. – wie fast überall auf dem Balkan – Parteien mehr oder weniger charismatischer Patrone, die diesen und ihrer Gefolgschaft Pfründe sichern müssen. Es sind keine Parteien, die sich ideologisch und durch ihre Programme unterscheiden, auch wenn sie dies behaupten. Es geht ihnen um die Macht, um neben staatlichem Geld auch öffentliche Posten verteilen zu können. Deshalb werden bei jedem Machtwechsel auch die Beamtenschaft bis zu den Pförtnern und Fahrern ausgetauscht; möglicherweise erschwert das neue Beamtengesetz – bzw. unter der gegenwärtigen Konstellation die Rücksicht auf die Koalitionspartner NDSV und DPS – diese Praxis. Außerdem waren alle Parteigründungen nach 1989 Gründungen nicht von Dissidenten oder Oppositionellen, wie z. B. in Polen oder der Tschechoslowakei, sondern Gründungen von ehemaligen Mitgliedern der kommunistischen Partei oder angeblich sogar von vom Staatssicherheitsdienst lancierten Agenten.

Die Geschichte der Parteien seit 1989 war eine des pilzartigen Wachstums von Parteien. 1994 waren über 140 Parteien registriert und an den ersten Wahlen am 10./17.6.1990 nahmen 40 Parteien und Listenverbindungen teil. Sie war dann eine Geschichte ihrer ständigen Mutationen und schließlich ihres allmählichen Verschwindens. Dazu hat die 4 %-Klausel des Wahlgesetzes beigetragen, aber auch die unendlichen persönlichen Fehden zwischen den Politikern, welche die Macht nicht teilen konnten und sie deshalb verloren. Nicht umsonst steht am bulgarischen Parlament die meist nicht befolgte Devise: Obedinenieto pravi sila („Die Einheit macht Stärke“).

Nach den Wahlen vom 25.6.2005 sind im Parlament noch sieben Parteien vertreten, von denen drei Parteien seit der Wende 1989 bestehen (BSP, DPS, SDS/ODS). Alte Parteien sind auch die in der „Volksunion“ (BNS) zusammengeschlossene „Bauernunion“ (BZNS) von Anastasija Mozer (Tochter des legendären Bauernführers Georgi M. Dimitrov) und Partei VMRO von Karakačanov; neu dagegen ist aber der auch zu dieser Koalition gehörende Bund SSD des ehemaligen Sofioter Oberbürgermeisters Stefan Sofijanski. Neu sind auch folgende Parteien: NDSV von Simeon Sakskoburggotski seit 2001, die nationalistische Protestpartei ›Ataka‹ unter Volen Siderov seit April 2005 und DSB unter dem ehemaligen SDS-Regierungschef Ivan Kostov seit 2004; sie ist eine Abspaltung von der SDS. Inzwischen ist der Verein ›GERB‹ (Graždani za evropejskoto razvitie na Bălgari, „Bürger für die europäische Entwicklung Bulgariens“) des Sofioter Bürgermeisters Bojko Borisov als Partei registriert. Borisov steht jetzt schon bei Umfragen mit 22 % an der Spitze (BSP 19 %, Borisov 7 %), fraglich ist immer noch, ob er bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst 2006 kandidieren wird.

Die Gewerkschaften spielen eine geringe Rolle. Sie sind wie die Parteien eher Institutionen zur Bereicherung ihrer Führer und der Postenvergabe. Politisch bedeutsam war in den ersten Jahren nach 1989 die der SDS nahe stehende „Konföderation der Arbeit ‚Podkrepa’“ (Konfederacijata na truda „Podkrepa“) unter Konstantin Trenčev.

Die Verwaltung ist bisher streng zentralistisch. Sie gliedert sich in die staatliche Verwaltung und die Kommunalverwaltung. Das Land gliedert sich in 28 von Sofia aus verwaltete Gebiete (oblasti), die von zentral ernannten Gebietsverwaltern verwaltet werden (Art. 143). Die 264 Gemeinden haben eine Selbstverwaltung mit beschränkten Befugnissen nach Art. 135 ff. der Verfassung; ihre Befugnisse und ihre Finanzierung werden nicht durch die Verfassung, sondern durch die entsprechenden Gesetze garantiert. Daher ist die Stellung der Gemeinden bisher auch sehr schwach. Man plant, ihnen größere finanzielle Selbständigkeit zu geben.

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2.4 Wirtschaft

B. hat sich seit der Wende 1989 von einem planwirtschaftlich determinierten Agrarland zu einem Staat gewandelt, dessen BIP überwiegend nicht nur von den Dienstleistungen, sondern auch vom Privatsektor geschaffen wird: In den ersten neun Monaten 2004 betrug das BIP 14,157 Mrd. Euro (pro Kopf 1809 Euro). Es ist im Vergleich zum Vorjahr um 5,7 % gewachsen. Davon entfielen auf die Dienstleistungen 57,6 % (davon 7,7 % auf den Tourismus), auf die Industrie 30 %, auf die Landwirtschaft 11,4 %. Der Anteil des Privatsektors betrug im gleichen Zeitraum 77,1 % und ist im Vergleich zum Vorjahr um 10 % gewachsen.

Die Privatisierung ist weitgehend abgeschlossen (87,5 % der zu privatisierenden Objekte), die der Banken zu 100 %. Es gibt seit Jahren einen Budgetüberschuss (von 659 Mio Lev am 31.12.2004). Die Inflationsrate betrug 2004 4 %, die konsolidierte Auslandsschuld des Staates 18,061 Mrd. US-Dollar. Die Arbeitslosigkeit betrug 2005 9.9 %. Die Produktivität beträgt rd. 30 % der des Wertes der EU-25. Die größten ausländischen Investoren sind Österreich (927,3 Mio USD = 37, 3 %), Tschechien (15,1 %), Niederlande (13,7 %), Deutschland (251,6 Mio USD = 10,1 %) und Griechenland (6,3 %). Die wirtschaftlichen Aussichten sind unter der neuen, am 16.8.2005 gebildeten Koalitionsregierung von Sergej Stanišev (BSP) nach Ansicht westlicher Beobachter grundsätzlich positiv, wenn auch das wachsende Leistungsbilanzdefizit auch dem IMF Sorgen bereitet. Abzuwarten bleibt, ob die gebildete Dreiparteien-Koalition, bestehend aus BSP, der bisherigen Regierungspartei NDSV und DPS den bisherigen Konsolidierungskurs fortsetzt und ob es ihr gelingt, die für den EU-Beitritt am 1.1.2007 erforderlichen Reformen noch rechtzeitig durchzusetzen. Daran bestehen erheblich Zweifel im Bereich der Justiz (Strafverfolgung) und der inneren Ordnung (Korruption, Mafia, organisierte Kriminalität, Gangstermorde auf offener Straße usw.).

So positiv die aktuelle Bilanz auch aussieht, so darf nicht vergessen werden, dass B. in den letzten 16 Jahren keinen geradlinigen Weg gegangen ist und dass die verschiedenen, von BSP beherrschten Regierungen (Ljuben Berov 1992–95, Žan Videnov (1995–97) zu katastrophalen wirtschaftlichen Ergebnissen geführt hatten. Erst die Regierung Ivan Kostov (1997–2001), unter der das Currency Board mit seiner Bindung des Lew an die DM bzw. Euro am 1. 7. 1997 errichtet wurde, und die von Simeon Borisov Sakskoburggotski (2001–05) führten zu einer Konsolidierung, ja zu einem Aufschwung. Daher überrascht es nicht, dass B. erst jetzt sein BIP von Ende 1989 wieder erreichen konnte.

Während also die meisten makroökonomischen Daten aufwärts weisen, wächst die Kluft zwischen sehr arm und sehr reich. Die Lage der einfachen Leute, der Zahl von Arbeitslosen (Ende 2005 10 %), der Rentner (2,327 Mio. mit einer Durchschnittsrente von 124 Lew) bleibt miserabel. Der vom Staat garantierte Minimalarbeitslohn beträgt 2005 150 Lew, das durchschnittliche Monatseinkommen pro Haushalt betrug im November 2004 452 Lew, die Armutsgrenze 128 Lew. Hier lauern große soziale und politische Gefahren, die durch eine florierende Schattenwirtschaft (amtlich 16 %, geschätzt auf 40 % und mehr) nur gemildert werden. Negative Faktoren sind auch die sich verschlechternde Außenbilanzen: das Außenhandelsdefizit (2005) beträgt 5,215 Mrd. Euro (um 44 % verschlechtert), das Zahlungsbilanzdefizit verschlechterte sich 2004 um 7,5 % (gegenüber 2003) und das Leistungsbilanzdefizit machte 2531 Mio. Euro (= 12 % des BIP 2005); es wird für 2007 auf 11,5 % geschätzt. Nachteilig wirkt sich die hohe Zahl der meist jungen und gut ausgebildeten Emigranten aus. In den Jahren 1992–2001 waren es 196.000, von 2002–04 22.000. Immerhin gibt es einen gewissen „Rückfluss“ von häufig kapitalkräftigen Emigranten. Hinzu kommen die Überalterung und die fallende Geburtenrate.

Die Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft machte 2003 11,4 % des BIP aus; dies wird v. a. im Acker- und Gemüsebau und in der Mühlenindustrie geschaffen. Hauptanbau ist Getreide, Obst und Gemüse, Tabak und Wein. 19 % aller Arbeitskräfte sind in der Landwirtschaft vollbeschäftigt. Die von der Regierung Filip Dimitrov 1990/91 durchgesetzte Reprivatisierung des landwirtschaftlichen Bodens zersplitterte mit Ausnahme einzelner Gebiete wie der Dobrudscha (wo der großflächige Erwerb oder eine Pacht durch einflussreiche Ex-Nomenklaturisten zu einer rentablen Landwirtschaft führte) die Flächen, die keine rentable Landwirtschaft zulassen. 2003 wurden von den etwa 680.000 landwirtschaftlichen Betrieben 97 % von natürlichen Personen geführt. Die Durchschnittsgröße der Betriebe betrug 1,3 ha. Eine freiwillige oder gesetzlich erzwungene Flurbereinigung ist unerlässlich. 1 % der Betriebe (= 6600) bewirtschaften beinahe 70 % der Fläche; die meisten sind Agrargenossenschaften.

B. verfügt über eine großen, gut gepflegten Waldbestand (ein Drittel des Territoriums) und eine hoch stehende fortwirtschaftliche Tradition. Nach der Reprivatisierung der Wälder kämpfen die Behörden mit illegalem Abholzen und Raubbau.

B. ist ein rohstoffarmes Land. Es gibt v. a. Blei-, Zink-, Eisen-, Mangan-, Stein- und Braunkohle, Lignit- sowie Kupfervorkommen. Die gesamte im Rahmen des RGW überdimensioniert ausgebaute Primärindustrie siecht dahin (Hüttenwerke Kremikovci und Pernik).

Wasserkraftwerke und Gasturbinen haben einen geringen Anteil. Über 80 % der Energie wird aus den kalorischen Kraftwerken und davon fast die Hälfte aus dem KKW Kozloduj (sechs Blöcke) gewonnen. Die ersten beiden Blöcke sind bereits aus Sicherheitsgründen Ende 2004 stillgelegt. Zur Stilllegung der Blöcke 3 und 4 Ende 2006 hat sich Sofia gegenüber Brüssel verpflichtet, obwohl diese Blöcke durch Nachrüstung auch nach Meinung westlicher Experten als sicher gelten. Um die durch die Stilllegungen hervorgerufenen Stromausfälle auszugleichen, soll jetzt das bereits vor der Wende begonnene KKW auf der Donauinsel Belene weitergebaut werden. B. ist Stromexporteur (6,1 Mrd. kWh nach Rumänien, Griechenland, Makedonien und Montenegro), muss jedoch Erdöl, Erdgas und Steinkohle importieren. Die große Stromverschwendung, die bisher durch niedrige Preise begünstigt war, muss durch Einsparungen und Preiserhöhungen gebremst werden.

Die Industrie (Elektrotechnik, Elektronik, Lebensmittelindustrie, Maschinenbau und Metall verarbeitende Industrie) macht 2003 30,9 % des BIP aus. Die Banken sind inzwischen fast völlig privatisiert; 80 % davon sind im Besitz westlicher Banken. Handel und die Dienstleistungen sind ebenfalls in privaten Händen. Die Dienstleistungen machen 2005 58 % des BIP aus und sind in diesem Jahr um 3,7 % gewachsen.

Die Länge des Straßennetzes beträgt 37.295, 7 km, jedoch gibt es wenige Autobahnen. Bis 2015 sind sechs weitere geplant. Die Straßen, auch die Fernverkehrsstraßen befinden sich aus Geldmangel in einem schlechten Zustand. Durch B. laufen die europäischen Korridore Nr. IV (Dresden – Istanbul bzw. Abzweigung – Thessaloniki), VII (Donau), VIII (Durrës – Varna/Burgas), IX (Helsinki –Alexandroupolis). Neben der bisher einzigen Donaubrücke bei Ruse soll eine zweite Donaubrücke bei Vidin mit Mitteln des Stabilitätspakts gebaut werden (bis 2008). Nachdem die genaue Lage lange Jahre zwischen Sofia und Bukarest umstritten war, wird jetzt aus westlicher Sicht die Zweckmäßigkeit überhaupt bezweifelt, nachdem sich der Transit durch Serbien und Montenegro normalisiert hat. Das über 4300 km lange Eisenbahnnetz befindet sich ebenfalls aus finanziellen Gründen in einem lamentablen Zustand. Zu erwähnen ist noch die bulgarische Handelsflotte auf dem Schwarzen Meer mit den Häfen Varna und Burgas und die Donauschifffahrt. Es gibt 10 Zivilflughäfen, davon fünf internationale (Sofia, Plovdiv, Burgas Varna und Gorna Orjachovica). Die ehemals staatliche Firma Balkan-Air ist inzwischen privatisiert worden. Zu den bestehenden Erdgasleitungen sind weitere Erdgasleitungen von Burgas nach Alexandroupolis (Griechenland) und von Burgas über Skopje nach Durrës geplant.

Der Anteil des Tourismus war 2004 7,7% vom BIP und wachsend (14,4 %). Der Billig-Tourismus v. a. an der Schwarzmeerküste hat in den letzten Jahren großen Aufschwung genommen. Erwähnenswert ist der Jagdtourismus.

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2.5 Bildung und Kultur

Es besteht Schulpflicht bis zur achten Klasse; seit 2003/04 ist eine Fremdsprache ab der 2. Klasse obligatorisch. Das Schulwesen gliedert sich in Kindergärten (ab sechs Jahre), achtjähriger Grundschule und drei Mittelschultypen bis zur 12. Klasse (Gymnasium, Technikum und Berufsschule). Daneben bestehen Spezialschulen für Kinder mit besonderer, v. a. musischer oder sportlicher Begabung. Der Abschluss ist grundsätzlich das Abitur. Es gibt eine fast 100-jährige Tradition der deutschsprachigen Gymnasien; dadurch ist B. das Balkanland mit den meisten deutschsprachigen Akademiker geworden. Groß sind – trotz strenger Aufnahmeprüfungen – die Klagen über die schlechte Qualität der Schulen, die Überregulierung (Normatives Chaos) und die Notwendigkeit einer Finanzreform.

Im Bereich der Hochschulausbildung gibt es 41 staatliche Hochschulen sowie mehrere private (Svoboden Universitet Sofija, Varneskij Svoboden Universitet u. a.). Auch hier müssen Aufnahmeprüfungen abgelegt werden. Die drei wichtigsten staatlichen Universitäten sind: Sofijski universitet Sv. Kliment Ochridski, Velikotărnovskij universitet „Sv. Sv. Kiril i Metodij“ und Plovdivski universitet. Daneben gibt es spezialisierte (technische, wirtschaftliche, medizinische, landwirtschaftliche und künstlerische) Hochschulen, mehrere Offiziershochschulen sowie eine medizinische, eine landwirtschaftliche, eine theologische, eine sozialwissenschaftliche und eine Militär-Akademie. Es gibt ca. 100 Kooperationsvereinbarungen mit deutschen Hochschulen sowie sieben deutschsprachige Studiengänge. Auch hier wird seit Jahren bessere Qualität (v. a. in der Fremdsprachen- und PC-Ausbildung), größere Autonomie bei gleichzeitig wirksamerer staatlicher Qualitätskontrolle, eine bessere Finanzierung und vieles mehr gefordert.

Besondere Leistungen sind v. a. auf dem Gebiet des Theaters (Regisseure, Schauspieler, aber auch Theater-Autoren), des Films (Filmstudios in Bojana) und der Musik (Opernsänger wie Nikolaj Gjaurov oder Gena Dimitrova, aber auch Komponisten wie Pančo Vladigerov) hervorzuheben. Die klassische bulgarische Literatur (u. a. Petko Slavejkov, Ivan Vazov, Zachari Stojanov, Aleko Konstantinov, Elin Pelin u. a.), die verdienstvollerweise zu DDR-Zeiten übersetzt worden ist, hat sich – häufig zu Unrecht – im Westen nicht durchsetzen können und wurde nicht wieder aufgelegt.

Es gibt zahlreiche private Zeitungen und Zeitschriften von meist weniger hohem Niveau, z. B. ›Trud‹ („Arbeit“, Auflage ca. 200.000), ›24 časa‹ („24 Stunden“, Auflage ca. 330.000), ›Monitor‹, ›Standart‹, ›Sega‹ („Jetzt“), ›Dnevnik‹ („Tageszeitung“) u. a. Eine Ausnahme ist die politisch-wirtschaftliche Wochenzeitung ›Kapital‹, die mit dem deutschen Handelsblatt zusammenarbeitet. Ein Großteil der Presse gehört inzwischen dem ›Westdeutsche Allgemeine Zeitungsverlag‹ (WAZ). Neben dem staatlichen Radio und Fernsehen Bălgarska Nacionalna Telvizija (BNT) und Bălgarska Nacionalna Radio (BNR) gibt es zahlreiche private Fernseh- und Radiostationen (›BTV‹, ›Nova Televizja‹, ›Info-Radio‹, ›Darik-Radio‹ u. a.). Unrühmlich hat sich in letzter Zeit der Sender ›SKAT‹ durch rassistische Hetzsendungen im Dienste der neuen ultrarechten Partei ›Ataka‹ hervorgetan.

Die beliebtesten Sportarten sind Fußball (Christo Stojčkov), Kraftsport, Volleyball und neuerdings Tennis (Schwestern Maleeva). Nach der Wende wurde die staatliche Sportförderung stark eingeschränkt und zahlreiche Spitzensportler aus dem Bereich des Kraftsports, v. a. Ringer (borci), erwarben sich eine unrühmliche Reputation als zwielichtige Geschäftsleute, ja Kriminelle (Bodygards, sog. Versicherungen in Gestalt von Schutzgelderpressungen, Kfz-Diebstähle usw.). Die von B. angestrebten Olympischen Winterspiele 1994 in Sofia kamen nicht zustande; auch 2014 ist gescheitert. Der Höhensportort Belmeken diente zum Training vieler europäischer Sportler. Der noch aus den Zeiten Živkovs stammende Präsident des NOK Ivan Slavkov, musste 2005 wegen Bestechlichkeit seinen Posten im IOK und im NOK niederlegen.

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3 Kulturgeschichte

B.s Geschichte ist seit seinem Beginn im 7. Jh. mit wenigen Unterbrechungen während des ersten und zweiten Bulgarenreichs von außen bestimmt worden: zunächst war es v. a. Byzanz, dem sich das Reich erwehren musste; dann folgten über 500 Jahre osmanischer Herrschaft; anschließend geriet der 1878 gerade selbständig gewordene Staat in das Räderwerk der Interessen der Großmächte, die diesem Großbulgarien mit Makedonien und Thrakien bis zur Ägäis versagten und es dann nach den Balkankriegen im Frieden von Bukarest 1913 seinem Schicksal überließ. Seit dem Ersten Weltkrieg bis 1944 suchte Sofia vergeblich sein Heil in einer Allianz mit Deutschland, danach bestimmte Moskau bis zur Wende 1989 über das Land. Heute ist der EU-Beitritt zum 1.1.2007 das wichtigste außenpolitische Ziel B.s. Die Grenzen von San Stefano sind weiterhin ein bulgarisches Trauma, wie der Staatsfeiertag am 3.3. und die Nichtanerkennung der makedonischen Sprache und Nation zeigen, auch wenn in dem Vertrag von 22.4.1999 in Sofia ein Kompromiss zwischen Sofia und Skopje gefunden wurde.

Bis zur Einwanderungszeit

B. wurde seit dem Ende der Bronzezeit von den Thrakern besiedelt, die um 500 eine hohe Kultur entwickelten, wie zahlreiche Grabfunde mit Goldschätzen belegen. Ab 750 gründeten die Griechen Kolonien an der bulgarischen Schwarzmeerküste: Odēssos, Apollonia Pontica (heute Sozopol) und Mesembria (heute Nessebăr). 358–341 eroberte der makedonische König Philipp II. (359–336) Thrakien. Das thrakische Siedlungsgebiet wurde 29 v. Chr. wurde trotz heftigen Widerstandes von den Römern unterworfen und wurde später in die Provinzen Moesia (Donauebene) und Tracia geteilt. Nach der Teilung des römischen Reiches im Jahre 395 gehörte Bulgarien zur oströmischen Hälfte. Die thrakische Bevölkerung wurde infolge von Angriffen, Epidemien und Kriegsdiensten unter Ks. Justinian geschwächt und konnte sich nur in Berggebieten halten. Im 7. Jh. eroberte Khan Asparuch (um 644–700/01), der Anführer der sog. Protobulgaren das von slawischen Stämmen besiedelte Land zwischen Donau, Balkan und Donaumündung und gründete die Hauptstadt Pliska (681). Die protobulgarische Oberschicht verschmolz mit den einheimischen Slawen und bildete das erste bulgarische Großreich (681–1018).

B. im Mittelalter

Khan Krum (802–14) erweiterte das Land nach Norden und nach Süden, wobei er mit Franken (Karl der Große) und Chasaren und v. a. mit Byzanz in Konflikt geriet. Boris I. (865–89) erklärte – nach anfänglichem Schwanken zwischen Rom und Byzanz – das oströmische Christentum zur Staatsreligion und ließ sich 864/865 taufen. Unter seinem Sohn Zar Simeon (917–927) gelangte das Reich, das sich bis zur Adria und Ägäis erstreckte, mit der neuen Hauptstadt Preslav zur Blüte (sog. Goldenes Zeitalter“ der bulgarischen Kultur); Simeon verlieh dem bulgarischen Erzbischof den Patriarchentitel und die Kirche wurde von Byzanz unabhängig.

Von den „Slawenaposteln“ Kyrill und Method aus Solun (heute Saloniki), welche die glagolitische Schrift aus einem südslawischen Dialekt entwickelten, und deren Schüler Kliment Ochridski und Naum, die sie zum kirchenslawischen kyrillischen Alphabet vereinfachten, trat das kyrilische Alphabet seinen Siegeszug vom Bulgarischen Reich über Kiew bis nach Moskau an. Der 24.5. jeden Jahres ist als „Tag der slawischen Literatur“ (pismenost) Staatsfeiertag, an dem man der Slawenapostel gedenkt. Bald jedoch verfiel das Reich. Ab 971 wurde Byzanz übermächtig, besiegte den Zaren Samuil (997–1014) in der Schlacht am Pass Kleidion und herrschte von 1018–1187 unangefochten. Erst die Einfälle der Petschenegen u. a. im Norden und der Normannen, Serben und Magyaren im Westen schwächte Byzanz. Die Brüder Petăr (1186–90) und Asen (1187–96) entfachten einen Aufstand und entledigten sich der byzantinischen Herrschaft und gründeten das Zweite Bulgarenreich (1185–1393). 1187 wurde Tărnovo die neue bulgarische Hauptstadt. Zar Ivan Aleksandăr (1331–71) teilte das Reich in die Zarentümer Vidin und Tărnovo. Das Zweite Bulgarenreich verfiel v. a. wegen innerer Streitigkeiten, der Einfälle der Goldenen Horde (1241/42) und durch das Eindringen der Osmanen zu Beginn des 14. Jh. in die Balkanhalbinsel.

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B. und die Osmanen

Im Jahre 1385 erobern die Osmanen Sofia. Nach der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 fielen die übrigen Teilreiche bis 1396 in die Hände der Osmanen. Die osmanische Herrschaft dauerte über 500 Jahre. Sie wird von den Bulgaren nach einem Roman von Ivan Vazov (1850–1921) ›Pod igoto‹ („Unter dem Joch“) als das „türkische Joch“ bezeichnet und für die Rückständigkeit des Landes verantwortlich gemacht. Neuere Forschungen jedoch haben den negativen Einfluss der Osmanen relativiert. Angesichts der religiösen Toleranz der Osmanen konnte die bulgarische Kultur (v. a. die Schriftsprache und die kirchliche Überlieferung) in den Klöstern bewahrt werden. Gegen Ende des 17. Jh. begann der bewaffnete Widerstand durch Heiducken, der sich in verschiedenen Aufständen (v. a. Aprilaufstand von 1876) bis 1878 fortsetzte. Noch heute gefeierte „Apostel“ des Freiheitskampfes sind Georgi Rakovski (1821–67) und Vasil Levski (1837–73) und die literarischen Vorkämpfer wie Ljuben Karavelov (1834–79), Christo Botev (1849–86).

Die geistige „Wiedergeburt“ (văzraždane) Bulgariens begann mit der „Slawobulgarischen Geschichte“ (Istorija slavenobolgarska, 1762) von Paisij Chilendarski (1722–73). Ein neu entstandenes Nationalbewusstsein entfachte den Kampf gegen die osmanische Herrschaft und die griechische Kirche (Phanarioten in Istanbul), die im Auftrag der Osmanen (Milletsystem) die bulgarische Kirchenorganisation wie das Bildungswesen dominierten. 1824 eine kleine Enzyklopädie für bulgarischen Schulen, die „Fischfibel“ (riben bukvar) von Dr. Petăr Beron (1800–71).

B.s. Unabhängigkeit

Die Unabhängigkeit kam 1878, als Moskau angeblich zur Verteidigung der orthodoxen Glaubensbrüder, tatsächlich aber in Verfolgung seiner imperialen Interessen (Bosporus Marmarameer, Dardanellen) die Osmanen aus Bulgarien vertrieb und im Vorfrieden von San Stefano am 3.3.1878 ein Großbulgarien entstand. Die antirussischen Interessen v. a. Englands und Frankreichs führten auf dem Berliner Kongress (13.6. – 13.7.1878) zu einem räumlich reduzierten (ohne Makedonien, Ostthrakien und der Süddobrudscha) Großfürstentum, wobei Ostrumelien (Marica-Ebene mit Plovdiv) bis zum Anschluss 1885 unter der Herrschaft Istanbuls blieb; der noch formellen osmanischen Oberhoheit entledigte sich Sofia am 5.10.1908. Mit der Verfassung von Tărnovo schuf sich das Land eine konstitutionelle Monarchie mit einer fortschrittlichen demokratischen Verfassung. Als erster Fürst wurde Alexander von Battenberg gewählt, der 1885 durch eine Militärverschwörung auf Druck Russlands gestürzt und durch Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha ersetzt wurde. Das im Ersten Balkankrieg 1912 gegen die Osmanen siegreiche Bulgarien wurde im – wegen der Aufteilung der Beute geführten – Zweiten Balkankrieg 1913 von seinen bisherigen Bundesgenossen Serbien, Griechenland, Rumänien und Montenegro besiegt und musste auf Ostthrakien verzichten und sich mit Pirin-Makedonien (Pirinska Makedonija) begnügen. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands musste Ferdinand zugunsten seines Sohnes Boris III. (1918–43), dem Vater von Simeon Sakskoburggotski abdanken.

Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Militärs, der „Bauernpartei“ (Ermordung Aleksandăr Stoimenov Stambolijskis 1923 durch die VMRO) und den Kommunisten folgte unter der Regierung Aleksandăr Cankov (1879–1959) eine Zeit des politischen Terrors. Im Jahre 1934 unterstützte Zar Boris III. einen Staatstreich eines Militärbundes und einiger Mitglieder der Gruppe ›Zveno‹ und errichtete ein autoritäres Regime. 1941 schloss er sich auf starken Druck Berlins dem Dreimächtepakt an, ohne jedoch den Alliierten den Krieg zu erklären oder am Krieg aktiv teilzunehmen. Sofia widersetzte sich auch dem Druck der Nationalsozialisten auf Auslieferung der rd. 50.000 bulgarischen Juden; allerdings lieferte es 1943 die ca. 11.000 Juden aus dem von ihm besetzten Makedonien und aus Saloniki aus, die dann nach Treblinka geschickt wurden. 1943 starb Zar Boris III. nach seiner Rückkehr aus Berlin unter bisher ungeklärten Umständen. Sein minderjähriger Sohn Simeon II. übernahm die Herrschaft unter einem Regentschaftsrat. Ohne Grund erklärte Moskau am 5.9.1944 Sofia den Krieg, marschierte am 9.9.1944 ein. Die von den Kommunisten beherrschte „Vaterländische Front“ übernahm die Macht. Die bisherige Führungselite wurde beseitigt (ohne Verfahren ermordet, in Lager geschickt oder durch den Volksgerichtshof verurteilt); das Fehlen dieser bürgerlichen Führungsschicht hatte für den Neuanfang nach der Wende im Jahre 1989 fatale Folgen. Die Monarchie wurde durch ein illegales Referendum vom 8.9.1946 abgeschafft; der Zar und seine Familie gingen ins Exil nach Madrid. Simeon kehrte erst 2001 als Ministerpräsident zurück, ohne je auf seinen Titel verzichtet zu haben.

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Unter sowjetischer Anleitung und nach sowjetischem Vorbild entstand die Volksrepublik Bulgarien unter – dem vom Leipziger Reichstagsbrandprozess bekannten Generalsekretär der Komintern – Georgi Dimitrov (1882–1949). Nach dessen ungeklärten Tod in Moskau am 2.7.1949 verstärkte sein Nachfolger Vălko Červenko (1900–80) den Terror (Arbeits- und Umerziehungslager wie Belene, Loveč u. a.). Nach Stalins Tod übernahm Todor Hristov Živkov (1911–98) 1950 den Vorsitz der „Bulgarischen Kommunistische Partei“ (Bălgarska komunističeska partija, BKP) und 1962 das Amt des Ministerpräsidenten. Unter ihm – so behaupteten seine Kritiker – habe sich Bulgarien v. a. auch durch seine Linientreue und effiziente Unterdrückung von möglichen Dissidenten zur 16. „Sowjetrepublik“ entwickelt. Gorbatschows Perestroika, wirtschaftliche Schwierigkeiten und die Folgen der seit 1984 laufenden Verfolgung der bulgarischen Türken führten am 10.11.1989 zu einer „Palastrevolution“ im Politbüro und zum Sturz Živkovs. Die Nachwendezeit ist bis heute durch zwei Haupttendenzen gekennzeichnet: Einerseits gab es einen Kampf der „Antikommunisten“ gegen die Folgen der 45-jährigen kommunistischen Herrschaft.

Auf der anderen Seite war die alte Nomenklatura – überwiegend erfolgreich – bestrebt, ihre Herrschaft dadurch zu bewahren, dass sie ihre politische Macht mit Hilfe der rechtzeitig ins Ausland transferierten wirtschaftlichen Ressourcen und ihres Herrschaftswissens v. a. mit Hilfe illegaler Privatisierungen der staatlichen Unternehmen in wirtschaftliche Macht verwandeln.

Die Lage der „Antikommunisten’“ ist dadurch erschwert, dass es in Bulgarien keine wirklichen Dissidenten, keine oppositionellen Vorbilder, keine rechtsstaatliche Tradition und kaum noch bürgerliche Tradition gab, auf die man hätte zurückgreifen können. Sie rekrutierten sich daher v. a. aus den regimekritischen Teilen der alten BKP. Es wird sogar behauptet, der Staatssicherheitsdienst habe sie unterwandert, um sie besser kontrollieren zu können. Dies würde auch die ständigen Teilungen der oppositionellen Parteien sowie ihren ununterbrochenen Zerfall bis heute erklären. Im Januar 1990 setzten sich die Führer der neuen oppositionellen Parteien (an der Spitze mit der am 7.12.1989 neu gegründeten SDS) mit der weiterhin herrschenden Nachfolgepartei der BKP, der BSP an einem Runden Tisch nach polnischem Vorbild zusammen. Der Runde gehörte die ebenfalls neu gegründete DPS zunächst nicht an. Der runde Tisch legte zwischen dem 22.1.1990 und dem 4.1.1991 die Leitlinien der künftigen gemeinsamen Politik für das Land fest. Unter anderem vereinbarte man Parlamentswahlen für eine Verfassung gebende GNV mit 400 Abgeordneten, die am 10/17.6.1990 stattfanden und mit 211 Sitzen (47,9 %) zu der absoluten Mehrheit der BSP führten. Auf Grund von Massenprotesten der Gewerkschaften, der Studenten und der SDS musste der Ministerpräsident Andrej Lukanov (1996 ermordet) am 29.11. zurücktreten. An seine Stelle trat eine Koalitionsregierung unter dem parteilosen Ministerpräsidenten Dimităr Popov. Am 12.7. wurde die neue Verfassung verabschiedet. Bei den Neuwahlen am 13.10.1991 erzielte die SDS mit 34,36 % nur einen knappen Sieg gegen die BSP mit 33,14 %, weil oppositionelle Stimmen durch die Abspaltung einer Reihe von Parteien unter die 4 %-Klausel fielen. Die SDS unter Ministerpräsident Filip Dimitrov konnte nur mit Duldung der DPS regieren und fiel bereits nach knapp einem Jahr am 28.10.1992, als die DPS ihr ihre Unterstützung entzog. War auch die Reformpolitik dieser ersten nichtkommunistischen Regierung v. a. im Bereich der Landwirtschaft etwas chaotisch, so legte sie doch die Grundlagen für eine Reprivatisierung des von den Kommunisten enteigneten Eigentums und gab der Wirtschaft und v. a. dem Handel damit Aufschwung.

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Es folgten vier für das Land verheerende Regierungsjahre der von der DPS und BSP unterstützten Regierung Ljuben Berov (bis 1994) und der BSP-Regierung Žan Videnov (1994–96), die mit einer wirtschaftlichen Katastrophe und dem Rücktritt Videnovs unter dem Druck der protestierenden Masse endeten. Die BSP unter ihrer aufgeklärteren Führung (Nikolaj Dobrev und Georgi Părvanov) verzichtet auf eine Fortsetzung des Mandats unter einem neuen BSP-Ministerpräsidenten und aus den Neuwahlen am 19.4.1997 ging die „Vereinigten Demokratischen Kräfte“ (SDS, „Demokratische Partei“ und „Bauernpartei“) unter Ivan Kostov mit 52,2 % siegreich hervor. Dieser sanierte das Land makroökonomisch, ohne jedoch den Lebensstandard der Massen wesentlich verbessern zu können. Bei den regulären Wahlen vom 17.0.6.2001 siegte der erst im April 2001 in die politische Arena getretene ehemalige Zar Simon II. mit 42,7 % der Stimmen auf Grund seiner übertriebenen Versprechen, die er nicht alle einlösen konnte. Er bildete eine Koalitionsregierung mit der DPS, die zum ersten Mal Regierungsämter übernahm. Trotz sieben Misstrauensvoten und der Abspaltung der Abgeordneten der „Neuen Zeit“ (Novo vreme, NV) gelang es ihm zwar, vier Jahre relativ erfolgreich zu regieren. Aber auch er konnte die wirtschaftliche Lage der Massen nicht entscheidend verbessern und Korruption und Kriminalität eindämmen. Außerdem wurde die Regierung mit zweifelhaften Geschäften in Verbindung gebracht. Zuletzt geschah dies durch die vermutlich illegale Vergabe der 443,3 km langen „Trakia-Autobahn“, (Abschnitt Sofia – Plovdiv – Orizovo) an ein portugiesisches Konsortium.

Daher kam es bei den Wahlen am 25.09.2005 zu einer Abwahl der Regierung des Zaren: stärkste Partei wurde mit 33,98 % (82 Sitzen) die BSP, zweitstärkste die NDS mit 21,83 (53 Sitze) drittstärkste die DPS mit 14,07% (34 Sitze). Überraschend war der Erfolg der erst kurz vor den Wahlen gebildeten nationalistischen, minderheiten- und europafeindlichen Protestpartei „Ataka“ (8, 93 %, 21 Sitze). Nur noch drei weitere Parteien konnten die 4%-Hürde überspringen: ODS mit 8,44 % (20 Sitze), die (von der SDS abgefallenen) DSB von Ivan Kostov (7,07 %, 17 Sitze) und BZNS von Anastasja Moser (5,70 %, 13 Sitze).

Die Regierungsbildung erwies sich mangels unklarer Mehrheiten und angesichts der Animositäten der Beteiligten als sehr schwierig und zog sich fast zwei Monate bis zum 16.8. hin. Erst das 3. Mandat der DPS führte unter dem Druck der Umstände (Verschiebung des EU-Beitritt um ein Jahr) zu einer großen Koalition von BSP, NDSV und DPS unter dem BSP-Parteichef Sergej Stanišev, dem allerdings ein Koalitionsrat der Chefs der drei Koalitionspartner übergeordnet ist, der im Konsens entscheiden soll. Hauptaufgabe der Regierung ist es, möglichst rasch die Forderungen der EU-Kommission zu erfüllen, v. a. eine effektivere Verbrechensbekämpfung durch eine neue Strafprozessordnung und eine Reorganisation der Strafverfolgungsbehörden zu gewährleisten. Am 1.9. hat das Verfassungsgericht den Weg dazu teilweise frei gemacht: Anders als in seiner Entscheidung Nr. 3 aus dem Jahre 2003 entschied es, dass gewisse Änderungen der Unterstellung der Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsbehörden im Rahmen der Justiz auch vom gewöhnlichen Parlament vorgenommen werden können, dass also keine GNV gewählt werden muss. Der Regierung drohen mehrere Gefahren: Die Konsensfindung im Koalitionsrat dürfte schwierig werden. Die NDSV ist von Spaltungstendenzen bedroht. Abzuwarten bleibt, ob Stanišev sich gegen die alte Garde der Partei, vertreten durch seine beiden „Aufpasser“ (die Minister Rumen Petkov und Rumen Ovčarov), durchsetzen kann. Bedrohlich erscheint auch das bereits in wissenschaftlichen Studien konstatierte Wachsen eines – bisher kaum wahrnehmbaren – Nationalismus, der sich v. a. gegen die Roma, aber auch gegen die Türken richtet, wie die Proteste gegen die Ernennung von DPS-Gebietsverwaltern in Warna und anderen Städten zeigen. Allerdings könnte die bereits unter Simeon Sakskoburggotski praktizierte Zusammenarbeit mit der BSP die Zusammenarbeit in der neuen Regierung erleichtern und es den beiden großen Parteien erleichtern, ungerechtfertigte Forderungen Ahmed Dogans abzublocken.

B. hofft, am 1.1.2007 EU-Vollmitglied zu werden. Sofia hat den Beitrittsvertrag am 25.4. 2005 unterzeichnet und am 11.5.2005 ratifiziert; im April hat das EU-Parlament seine Zustimmung zum Beitritt gegeben. Alles hängt jetzt vom nächsten Fortschrittsbericht ab, der im September/ Oktober 2006 erwartet wird. Angesichts der weiterhin großen Defizite v. a. im Bereich Justiz und Inneres ist die Entscheidung Brüssels nicht abzusehen. Auch wenn der Beitritt nicht um ein Jahr verschoben wird, könnten doch verschiedene besondere Vorbehaltsklauseln u. a. im Bereich der Justiz angewandt werden.

Christov C. A. 1980: 1300 Jahre Bulgarien. Sofia. Čilingirov. A. 1986: Bulgarien vom Altertum bis 1878. Leipzig. Crampton R. J. 1987: A short history of modern Bulgaria. Cambridge. Döpmann H.-D. Das alte Bulgarien. Ein kulturgeschichtlicher Abriss bis zum Ende der Türkenherrschaft im Jahre 1878. Leipzig. Grothusen K.-D. (Hg.) 1990: Bulgarien. Südosteuropa-Handbuch VI. Göttingen. Härtel H. -J., Schönfeld R. 1998: Bulgarien. Regensburg. Hatschikjan M., Troebst St. (Hg.) 1999: Südosteuropa. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. München. Höpken W. (Hg.) 1996: Revolution auf Raten –Bulgariens Weg zur Demokratie. München (= Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas 32). Moser Ch. A. 1994: Theory and history of the Bulgarian transition. Sofia. Ognjanoff Ch. 1967: Bulgarien. Nürnberg (=Kultur der Nationen 22). Schrameyer Kl. 1992: Die neue bulgarische Verfassung. Osteuropa-Recht 2–3, 159–180. Ders. 1993: Das bulgarische Verfassungsgericht. Osteuropa 2, 73–105. Ders. 1994: Die bulgarischen Parteien. Südost Europa 6–7, 336–360. Ders. 1995: Die Verfassung der Republik Bulgarien. Brunner G. (Hg.): Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Staaten Osteuropas. Bd. I,1 Bulgarien. Berlin, 1–27. Ders. 2003: Änderung der bulgarischen Verfassung vom 24.9.2003. Südosteuropa-Mitteilungen 6/2003, 65–69.

(Klaus Schrameyer)

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