Karelien

Karelien (finn./karel. Karjala, russ. Karelija), Kurzform für Republik K., Karelische Arbeitskommune, Karelische ASSR, Karelisch-Finnische SSR.

Inhaltsverzeichnis

1 Naturraum

Die Republik K. liegt im Nordwesten der Russischen Föderation (RF) und gehört zu deren nördlicher Wirtschaftsregion. Sie grenzt im Westen an Finnland, im Süden an das „Leningrader Gebiet“, im Osten an das „Murmansker Gebiet“ und das „Archangelsker Gebiet“ der Russischen Föderation. Im Nordwesten wird sie durch das Weiße Meer begrenzt. Ihr Territorium umfasst 180.500 km², d. i. 1,06 % des Territoriums der RF. Ihre maximale Ausdehnung von Norden nach Süden beträgt 660 km, von Westen nach Osten 424 km.

Die Republik wird von bewaldeten Hügeln (ca. 49 %) und zahlreichen Seen (über 60.000) und Flüssen (rd. 27.000) dominiert. Die größten Seen sind Ladoga (17.700 km²) und Onega (9900 km²), die größten Flüsse Vodla, Vyg, Kovda, Kemʹ, Suna und Šuja.

Die Bevölkerung umfasste im Jahr 2000 766.400 Menschen. Davon lebten in den Städten 567.000 (= 74,1 %) und auf dem Land 198.500 (= 25,9 %). Auf die Hauptstadt Petrozavodsk entfallen 40 % der Gesamtbevölkerung. 73,6 % der Bevölkerung bezeichnen sich als Russen, 10 % als Karelier, 7 % als Weißrussen, 3,6 % als Ukrainer, 2,3 % als Finnen und 0,8 % als Wepsen. Die größten Städte sind Petrozavodsk (2002: 266.160 Einwohner), Kostomukša (2005: 29.761) und Sortavala (2004: 20.700).

Die Grundlage der karelischen Wirtschaft bilden Bodenschätze (Holz, Metalle, Steine). Aus ihnen versorgen sich die Holz- und Papier-, die Metall- und die Bauindustrie. Die Landwirtschaft spielt eine untergeordnete Rolle. Ein bescheidener Tourismus zu einigen wichtigeren Kultur- und Naturdenkmälern wird als Wirtschaftsfaktor in letzter Zeit wichtiger.

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2 Kulturgeschichte

Die frühesten menschlichen Spuren in K. weisen in das 6./7. Jt. v. Chr. zurück und zeigen eine Jäger- und Fischerbevölkerung. Im 1. vorchristlichen Jt. kamen Eisenverarbeitung, Land- und Viehwirtschaft hinzu, und es lassen sich verschiedene Stämme der finnougrischen Sprachgruppe unterscheiden. Sie bewohnten die „Karelische Landenge“ und das Land nördlich des Ladogasees sowie zwischen Ladoga- und Onegasee und den Norden. Zu Beginn des 11. Jh. gelangten Karelier bis an die Küsten des Weißen Meeres. Gleichzeitig drangen Slawen mit neuen Agrartechniken, Salzsiederei und Seehandel ein.

Seit dem 9. Jh. geriet K. unter den Einfluss der Kiewer Rus und nach deren Zerfall (12. Jh.) unter die Herrschaft der Stadtrepublik Novgorod. Bis zum Ende des 13. Jh. blieb K. jedoch politisch souverän. In dieser Zeit befand sich das Stammeszentrum in Korela. 1227 erfolgte die Taufe der Karelier und der Ves unter dem Druck des Novgoroder Fürsten Jaroslav II. Vsevolodovič. Geistliches Zentrum wurde das im 12. Jh. gegründete Kloster Valamo (Ladogasee).

Gegen die Kreuzzüge deutscher und schwedischer Ritter im Ostbaltikum Ende des 12.
Wappen
und im 13. Jh. verbündeten sich Karelier und Novgoroder. 1310 baute Novgorod Korela zur Festung aus. Ende des 13. Jh. eroberten schwedische Kreuzfahrer Südwestk. und gründeten 1293 die Stadt Vyborg als Vorposten der schwedischen Herrschaft im Osten. Der Friede von Šlisselʹburg 1323 legte die Grenze zwischen Schweden und Novgorod fest. Der größte Teil K.s kam unter Novgoroder Herrschaft. Das Vordringen Moskaus seit dem 15. und Schwedens seit der Mitte des 16. Jh. brachte für K. entscheidende Veränderungen mit sich. Die Inkorporation Novgorods (1478) und Pskovs (1510) in das Moskauer Großfürstentum beendete die Selbständigkeit Novgorods. Ausgehend von den Klöstern begann im 15. Jh. die Durchdringung des äußersten Nordens mit russischer Kultur. Die karelischen Bauern wurden zu Untertanen des Großfürsten. In Schwedisch-K. etablierte sich eine schwedisch-königliche Verwaltung. Die karelische Bevölkerung unterlag einer langsamen Konversion zum westkirchlichen Christentum.
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Die „Zeit der Wirren” (1605–13) beendete die Moskauer Herrschaft über einen Teil K.s. 1611 eroberten die Schweden Korela. Im Frieden von Stolbovo 1617 trat Moskau die „Karelische Landenge“ und den westlichen Teil Ladoga-K.s an Schweden ab. Die neuen Gebiete hatten für Schweden v. a. militärisch-strategischen Wert. Außerdem dienten sie als Hinterland für den Vyborger Handel. Schwedisch-K. war ein Teil des Schwedischen Reiches, besaß jedoch einen rechtlichen Sonderstatus. Eine Konversion der Bevölkerung zur Schwedisch-Lutherischen Kirche war keine offizielle Regierungspolitik, schritt aber de facto immer weiter voran. Dies führte zu einer partiellen Abwanderung der karelischen Bevölkerung, von denen sich der größte Teil im Gebiet von Tverʹ ansiedelte und künftig die Gruppe der Tverʹ-Karelier bildete. Die schwedische Regierung betrieb mit Hilfe finnischer Siedler und Soldaten eine demographische Finnisierung bzw. Schwedisierung der karelischen Gebiete.

Im Moskauer Teil K.s wurde 1649 die Festung und Stadt Olonec gegründet und zum Verwaltungs-, Handels- und zum Zentrum der Eisengewinnung ausgebaut. Sie spielte während des Großen Nordischen Krieges (1700–21) eine entscheidende Rolle für die Rüstungsproduktion. Besondere Bedeutung erlangte das 1703 gegründete Petrovskij-Werk, das 1777 von Katherina der Großen zur Stadt Petrozavodsk und 1784 zum Zentrum der Provinz Olonec erhoben werden sollte. Der Friede zu Nystad (1721) brachte nicht nur den ehemals Moskauer, sondern auch einen großen Teil Schwedisch-K.s unter die Herrschaft Russlands zurück. Dort bildete es keine eigenständige Einheit, sondern blieb den Interessen des Zentralstaates unterworfen. Die Eisenproduktion, die durch den Aufbau der Eisenindustrie im Ural vorübergehend zum Erliegen gekommen war, erhielt durch den russisch-türkischen Krieg (1768–74) neue Impulse. 1773/74 wurde das Aleksandrovskij-Kanonenwerk gegründet. Es entwickelte sich zum führenden Rüstungswerk im Gebiet Olonec zu Ende des 18. und während des gesamten 19. Jh. Daneben entstanden im 18. Jh. staatliche und private Sägemühlen, die die Holzindustrie ankurbelten. Nach der Bauernbefreiung 1861 entwickelte sich eine florierende Holzindustrie. Auch die Verkehrswege (Schiffe, Eisenbahn), deren bedeutendstes Zeugnis die 1914–17 entstandene Murmanbahn ist, wurden ausgebaut.

Im seit 1809 zum Russländischen Kaiserreich gehörenden Großfürstentum Finnland entwickelte sich seit den 1830er Jahren eine finnische Nationalbewegung, die in den Kareliern und ihrer Kultur das „eigentliche“ Finnentum erblickten. Insbesondere die Anwälte des Panfennismus, der Sprach- und Literaturforscher Elias Lönnrot (1802–84) und der Schriftsteller Zacharias Topelius (1818–98), strebten eine Vereinigung aller finnischsprachigen Völker (Finnen, Karelier, Wepsen, Samen, Ingrier u. a.) an und verhalfen der karelischen Bevölkerung zu einer unerwarteten Aufmerksamkeit von Seiten der gebildeten Weltöffentlichkeit.

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Nach Revolution, Bürgerkrieg und erheblichem Widerstand der lokalen Bevölkerung (1917–23) schufen die Bolschewisten am 25.07.1923 die Karelische Autonome Sowjetische Sozialistische Republik (ASSR). Wirtschaftlich knüpfte diese zunächst an die traditionellen Zweige an und erreichte ca. 1925 Vorkriegsniveau. Als neue Wirtschaftszweige kamen Möbel- und Papierindustrie sowie Kraftwerke hinzu. Außerdem spielte Zwangsarbeit (Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals) eine zentrale Rolle. Infolge der zwischen 1929 und 1933 durchgeführten Kollektivierung sank die Produktivität der Landwirtschaft in den 1930er Jahren beträchtlich. Arbeitslager und Kollektivierung forderten zahlreiche Opfer unter der Bevölkerung.

Nach dem sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939–40 wurde die Karelische ASSR am 31.03.1940 in eine Karelisch-Finnische SSR verwandelt. Diesen Status behielt sie bis 1956, als sie zu einer ASSR innerhalb der Russländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) wurde. Während des Zweiten Weltkriegs 1941–45 wurde der größte Teil der Karelisch-Finnischen SSR von finnischen und deutschen Truppen besetzt. Über 100.000 ihrer Bürger kämpften in der Roten Armee und in Guerilla-Truppen. Zwischen Ende Juni und Ende Juli 1944 fielen die besetzten Gebiete wieder in sowjetische Hand.

Der Krieg hatte zu massiven Zerstörungen geführt. Erst 1950 konnte das Vorkriegsniveau in der Wirtschaft auf der Grundlage der bis dahin entwickelten Wirtschaftssektoren wieder erreicht werden. Neue Wirtschaftszweige, v. a. der Maschinenbau, kamen in den 1960er Jahren hinzu. In den 1970er und 1980er Jahren erlebte die karelische – wie die gesamtsowjetische – extensive Plan- und Kommandowirtschaft einen rapiden Niedergang. Die Sowjetperiode führte zur Entstehung einer karelischen Intelligenzija unter der traditionell agrarisch- und forstwirtschaftlich geprägten Bevölkerung K.s. Am 09.08.1990 nahm der Oberste Sowjet K.s eine Erklärung über eine souveräne Karelische SSR an. Am 13.11.1991 erhielt diese die Bezeichnung Republik K.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR unterzeichnete K. am 31.03.1992 einen Föderationsvertrag, der die Republik de iure zu einem vollen und gleichberechtigten Subjekt der Russischen Föderation machte. Außerdem sollten Marktwirtschaft und Demokratie eingeführt werden. Im November 1992 fand der erste Nationalkongress der Finnen, Karelier und Wepsen statt. Er diskutierte Angelegenheiten der nationalkulturellen Entwicklung der finnougrischen Bevölkerung. 1991 und 1994 wurde die 1978 angenommene Verfassung mit Blick auf die veränderten politischen Bedingungen modifiziert.

Kirkinen H., Nevalainen P., Sihvo H. 1994: Karjalan kansan historia. Porvoo. Nevalainen P., Sihvo H. (Hg.) 1998: Karjala. Historia, kansa, kulttuuri. Helsinki.

(Ralph Tuchtenhagen)

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