Ingrier

Ingrier (auch: Ižoren, estn. Ingeri, finn. inkerikot, inkeroiset, ingr. isurit, russ. ingry, ižora, ižorcy)

Inhaltsverzeichnis

1 Definition

Die I. sind ein ostsee-finnisches, heute auf dem Territorium der Kreise Kingissepp und Lomonosov des Leningrader Gebiets (Russland) – historisch Ingrien bzw. Ingermanland (finn. Inkerinmaa, russ. Ižorskaja zemlja bzw. auch: Ižora) – ansässiges Volk mit nur noch wenigen Hundert Angehörigen. Eine zahlenmäßig nicht erfasste Gruppe I. lebt in Estland. Finnisches und russisches Ethnonym sind vom Namen des Flusses Ižora (russ., finn. Inkere) abgeleitet. Es ist üblich, die gesamte autochthone Bevölkerung Ingermanlands als I. zu bezeichnen. Von den eigentlichen I.n (im Deutschen auch als ›Ižoren‹ bezeichnet) sind jedoch die erst ab dem 17. Jh. angesiedelte finnische Bevölkerung (= ›Ingermanländer‹ im engeren Sinne bzw. finnische I.), die Wepsen und die Woten zu unterscheiden. Das von den I. gesprochene Ingrisch ist eine zur uralischen Sprachfamilie gehörende ostsee-finnische Sprache, die vier Dialekte aufweist.

2 Geschichte

Die I. bevölkerten ursprünglich einen breiten Raum zwischen mittlerem Volchov und den Flüssen Oredež, Ižora und Newa bis zur Ostküste des Finnischen Meerbusens. Im 12. Jh. spalteten sie sich von den Kareliern ab und siedelten sich in den Tälern der Flüsse Ižora und Oredež an. Die erste schriftliche Erwähnung des Gebiets und seiner Bewohner findet man in einer päpstlichen Bulle Alexander III. aus dem 12. Jh. Die ›Chronicon Livoniae‹ des Heinrich von Lettland erwähnt für 1220 ein von ›Ingaros‹ bewohntes Land ›Ingaria‹. In den altrussischen Chroniken erscheint der Name ›Ižora‹ erstmals für das Jahr 1228. Wirtschaftliche Haupttätigkeiten der I. war traditionell Ackerbau, Viehzucht und Fischfang. Laut Tributliste von 1500 machte die Bevölkerung dieser Gegend etwa 70.000 Einwohner aus. Im 16. Jh. fand die Orthodoxie in der Region weite Verbreitung, zahlreiche Kirchen und Klöster wurden gebaut. Mit dem Anschluss Ingermanlands an Schweden kam es im 17. Jh. zur Abwanderung von Teilen der ingrisch-orthodoxen Bevölkerung und zur Ansiedlung größerer Gruppen evangelisch-lutherischer Finnen. Nach dem Ende des Nordischen Krieges 1721 fiel das Gebiet erneut an Russland. Es begann eine intensive Kolonisation durch deutsche, estnische und russische Bauern. Im Laufe des 19. Jh. verschoben sich die ethnischen Mehrheitsverhältnisse zu Gunsten der russischstämmigen Bevölkerung. Die Zahl der Eheschließungen v. a. zwischen I. und Russen nahm deutlich zu. Russisch wurde zur Alltagssprache der I., deren Assimilation sich statistisch wie folgt niederschlug: 1848 wurden in Ingermanland 17.800 I. gezählt. Die erste allgemeine Volkszählung im Russischen Reich 1897 konstatierte 21.700, um 1926 26.137 Einwohner. Danach wird der Rückgang der Personen, die sich selbst als I. bezeichnen, immer deutlicher. Die Alphabetisierungs- und Bildungskampagnen der frühen Sowjetzeit schlug mit der Kollektivierung in Deportationen großer Teile der bäuerlichen ingrischen Bevölkerung nach Sibirien und Mittelasien um. Die Volkszählung 1959 registrierte nur noch 1026 I., von denen ca. 34,7 % ihre Muttersprache beherrschten. 1979 wurden 748 I. vermerkt. Das Jahr 1989 verzeichnete einen Anstieg auf 820, wobei gegenüber den vorherigen Zählungen auch der Anteil der Muttersprachler stieg (36,8 %). 2002 jedoch werden nur mehr 327 I. gezählt. Das bedeutet, dass die I. als Ethnos im Verschwinden begriffen sind.

3 Ethnologie

Die traditionelle Kultur der I. ist der russischen sehr nah, etwa in der Bauweise, den verwendeten landwirtschaftlichen Geräten und in der Handhabung des Fischfangs, was als Folge der jahrhundertlangen Kontakte der beiden Völker zu betrachten ist. Bis Mitte des 19. Jh. blieb eine ethnische Spezifik in der Kleidung – so das reich bestickte Schultertuch der Frauen – erhalten, aber Ende des Jahrhunderts waren die traditionellen Trachten weitestgehend durch den russischen Bauernkittel (russ. sarafan) verdrängt. Eigenarten im Familien-und Kalenderbrauchtum (Hochzeits- und Bestattungsriten sowie in der Form des sog. Weiberfestes) konnten bis ins 20. Jh. bewahrt werden. Lebendig blieb lange Zeit u. a. auch der Glaube an Erd-, Haus- und Wassergeister. Reichhaltig ist die Überlieferung an Hochzeits- und Totenklagen. Das finnisch-karelische Epos ›Kalewala‹ ist ebenfalls Bestandteil der ingrischen Folklore.

Ageeva R. A. 2000: Kakogo my rodu-plemeni? Narody Rossii: imena i sudʹby. Slovarʹ-spravočnik. Moskva. Kёppen P. 1861: Chronologičeskij ukazatelʹ materialov dlja istorii inorodcev Evropejskoj Rossii. Sankt-Peterburg. Pribaltijsko-finskie narody: istorija i sudʹby rodstvennych narodov. Juvjaskjulja 1995. Šlygina N. V, Konkka U. S. 1964: Vodʹ, ižora i finny Leningradskoj oblasti. Narody Evropejskoj časti SSSR. Bd. 2. Moskva. Tiškov V. A. (Hg.) 1994. Narody Rossii. Enciklopedija. Moskva. http://www.finugor.ru/info/narod/izora.html [Stand 12.11.2004]; http://www.eki.ee/books/redbook/izhorians.shtml [Stand 12.11.2004].

(Aleksandr Sadochin)


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