Kriviči

Kriviči (russ., ukrain. Kryvyči, weißruss. Kryvičy, „Kriwitschen“).

Die K. waren ein ostslawischer Stamm, der in seiner Blütezeit im 9./10. Jh. ein umfangreiches Territorium an den Oberläufen der Flüsse Wolga, Dnjepr und Düna besiedelte. Die Etymologie der Eigenbezeichnung gilt als unsicher; manche Forscher leiten sie von einem Urahnen namens ›Kriv‹ bzw. ›Kryv‹ ab.

Die K. drangen in dieses Gebiet scheinbar bereits im 5. Jh. ein. Wohl in Folge der chasarischen Vorstöße in den mittleren Wolgaraum konstituierte sich im 8. Jh. ein Großstamm der K., in dem andere Stämme eingeschlossen oder absorbiert wurden. Das Siedlungsgebiet der K. lag an der Kontaktstelle mit den verschiedensten baltischen und finnischen Stämmen, so dass in der Forschung zunächst keine Einigkeit herrschte, ob die K. überhaupt als ein ostslawisches Ethnikum aufzufassen sind. Heutzutage gilt die These, dass es sich bei den K. um einen Stamm mit einem starken nichtslawischen Anteil (v. a. baltischen, finnischen) handelte, was sich in dessen Kultur bemerkbar machte. Auch der Ritus, die Verstorbenen in Hügelgräbern von meist wallähnlicher Form (sog. Langkurgane) zu bestatten, weist auf eine nichtslawische Substanz des Großstammes hin.

Das riesige Siedlungsgebiet der K. bot zudem Anlass zu Vermutungen, das Territorium wäre nicht von einem, sondern von zwei verschiedenen ostslawischen Stämmen besiedelt. So werden gelegentlich die sog. Polacker K. (weißruss. Polačany) und die Smolensker K. unterschieden. Auch Doppelbezeichnungen, wie K.-Polačany sind anzutreffen. Die Annahme eines „zusätzlichen“ Stammes ist auf die altrussische Nestorchronik zurückzuführen, die den Stamm der Polačany im Siedlungsgebiet der K. lokalisierte. Der aktuelle Forschungsstand lehnt diese Theorie ab und geht anstelle dessen von einem multiethnischen Stammesverbund der K. aus, der wohl keine wirtschaftliche und kulturelle Einheit darstellte.

Die Nestorchronik ist eine der wenigen schriftlichen Quellen, die den Stamm der K. namentlich erwähnen und geografisch richtig einordnen. Sie vermittelt einige wenige Informationen aus dem Leben der K. So ist z. B. zu erfahren, dass die K. im 9. Jh. zu Tributzahlungen an die Waräger verpflichtet waren – ein weiterer Beleg für deren frühzeitiges Vordringen von der Ostsee her. Es waren ebenso die K., die zusammen mit drei anderen Stämmen an der legendären „Berufung“ der Waräger 862 beteiligt waren. Dabei wurde Truvor aus dem Waräger-Stamm in einem der Stammeszentren der K., Izborsk, als Herrscher eingesetzt. Im Jahr 882, im Prozess der Vereinigung der Warägerherrschaften, brachte der Rjurikiden-Fürst Oleg die K. in eine Tributabhängigkeit und setzte einen eigenen Vertrauensmann in der K.-Stadt Smolensk ein.

Damit war der erste Schritt zur Eingliederung der K. in das Kiewer Reich und zur Nivellierung von deren Stammesidentität getan. Im 12. Jh. zur Zeit der Territorialherrschaften befanden sich die K. unter der Herrschaft der Fürstentümer Polack, Smolensk und dem Novgoroder Stadtstaat; sie bildeten zu dem Zeitpunkt keine Stammeseinheit mehr. Zu den wichtigsten Zentren der K. zählten die Städte Izborsk, Smolensk und Polack. Archäologische Untersuchungen belegen deren Handelskontakte zu den nordischen Ländern und Funde von islamischen Münzen lassen die Wolga mit ihren Zuflüssen als Handelsweg zu den arabischen Ländern im Süden erkennen. Über diesen Handel berichtet auch Kōnstantinos VII. Porphyrogennētos in seiner Lehrschrift ›De administrando imperio‹. Aufgrund ihres Siedlungsgebietes dürfen die K. als Vorfahren der Weißrussen angesehen werden.

Štychaŭ G. V. 1992: Kryvičy. Pa matėryjalach raskopak kurganoŭ u Paŭnočnaj Belarusy. Minsk. Goehrke C. 1992: Frühzeit des Ostslawentums. Darmstadt. Lübke C. 2001: Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.–11. Jahrhundert). Köln.

(Miroslav Schneider)

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