Sankt Petersburg (Stadt)

Sankt Petersburg (St. Petersburg, russ. [1703–1914, ab 1991] Sankt-Peterburg, 1914–24 Petrograd, 1924–91 Leningrad)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

St. P. liegt verteilt über zahlreiche Inseln an der Mündung der Newa in den Finnischen Meerbusen.

St. P. bildet eine eigenständige Verwaltungseinheit der Russischen Föderation und ist gleichzeitig die Hauptstadt des Leningrader Gebiets (Lenigradskaja oblastʹ). Die mittlere Temperatur in J. beträgt im Januar –7,9 °C, im Juli 17,8 °C. Die jährliche Niederschlagsmenge beläuft sich auf 621 mm.

Das Stadtgebiet hat nach Eingemeindung aller Vororte 1998 heute 1491 km² sowie 4.580.620 Einwohner (2005). 84,7 % der Bevölkerung sind Russen (2002). Die zahlenmäßig größten Minderheiten bilden Ukrainer (1,9 %), Weißrussen (1,2 %) sowie Juden und Tataren (je 0,8 %).

St. P. ist nach Moskau der zweigrößte Industriestandort und eines der bedeutendsten Finanz-, Handels- und Tourismuszentren Russlands.

Anfang

2 Kulturgeschichte

Anfänge

1703 wurde im sumpfigen Newadelta die Stadt St. P. gegründet. Warum sie gerade dort entstand, ist von der Forschung eifrig diskutiert worden. Am wahrscheinlichsten ist die These, dass St. P. als Ersatz für die von Zar Peter I. zunächst nicht zu erobernde schwedische Stadt Narva gedacht war. Die Schaffung eines Stützpunktes und damit eines Zugangs zur Ostsee stand für das Moskauer Großfürstentum spätestens seit dem 16. Jh. auf der Tagesordnung.

Während des Großen Nordischen Krieges eroberten die Truppen Peters I. im Frühjahr 1703 die strategisch wichtige schwedische Stadt Nyen und die Festung Nyenskans am Unterlauf der Newa. Die Frage, ob man die schwedischen Festungsbauten übernehmen oder eigene militärische Anlagen errichten sollte, wurde am 16.(27.)5.1703 mit dem Baubeginn der „Peter-und-Paul-Festung“ (russ. Petropavlovskaja krepostʹ) auf der Haseninsel (russ. Zajačij ostrov, schwed. Lystholm, finn. Jänissaari), einem marinestrategisch günstigen Ort im Newadelta, entschieden und damit zugleich die Grundlage für die Entstehung der Stadt St. P. geschaffen. Der Tag gilt als deren offizielles Gründungsdatum. Der Name „St. P.“ bezog sich nicht primär auf den Zaren, sondern auf dessen Namenspatron, den Hl. Petrus. Weitere territoriale Eroberungen um 1710 (Karelische Landenge, Ladogakarelien, Südostfinnland, schwedische Ostseeprovinzen) sollten den Seeweg in die neue Stadt sichern.

Hunderttausende schwedischer und finnischer Kriegsgefangener sowie russischer Leibeigener erbauten unter katastrophalen Arbeits- und Klimabedingungen in wenigen Jahrzehnten die ersten Viertel der auf dem Reißbrett entworfenen Stadt. 1712 erhob Peter I. St. P. zur Hauptstadt des Reiches; sie sollte es, mit einer kurzen Unterbrechung (1727–32), bis 1917 bleiben. Neben dieser Funktion war St. P. als Residenz, Handelsknotenpunkt und geistiges Zentrum des neuen europäischen westlich-aufgeklärten Russland konzipiert. Unter Peter I. wurde, um den Hauptstadtanspruch zu unterstreichen, aber auch, um die Feuergefahr zu bannen, jeder Adlige, der mehr als 30 Bauernhöfe besaß, verpflichtet, in St. P. ein Steinhaus zu errichten (im Gegensatz dazu bestand Moskau zu jenem Zeitpunkt noch fast vollständig aus Holzhäusern). Nicht das Zarenschloss (der sog. [alte] Winterpalast), sondern die Schiffswerft und die Admiralität, wurden zum zentralen Fluchtpunkt der städtischen Achsen. Damit untermauerte Peter I. Russlands Anspruch auf Seeherrschaft und dessen Anschluss an die Großmächte des Westens.

Zarin Anna (1730–41) ließ die wichtigsten stadtplanerischen Arbeiten aus der Zeit Peters I. zu Ende führen. Das unter ihrer Herrschaft angelegte dreistrahlige Straßensystem (Nevskij Prospekt, Gorochovaja Ulica, Voznesenskij Prospekt) prägt das Zentrum der Stadt bis heute. Außerdem wurde die Stadtfläche in fünf Stadtviertel unterteilt, das Stadtzentrum von der „Petrograder Seite“ (Petrogradskaja storona) zur „Großen Seite“ (Bolʹšaja ochta, Admiralität) verlagert und der Bau der „Peter-und-Paul-Kathedrale“ (Petropavlovskij sobor) vollendet (1733). Allerdings vernichtete der große Brand von 1737 einen Teil dieser Bauwerke. Auch Peters Tochter Elisabeth I. (1741–62) setzte das Werk ihres Vaters fort. In ihrer Regierungszeit entstanden berühmte Bauten im Stil des italienischen Barock von Francesco Bartolomeo Rastrelli (1700–71), Domenico Trezzini (1670–1734), Antonio Rinaldi (1709–94), Savva Čevakinskij u. a. St. P. entwickelte sich zu einer Großstadt europäischen Zuschnitts. Die Vorliebe der Zarin für alles Französische führte dazu, dass sich französische Sitten und Umgangsformen wachsender Beliebtheit beim St. P.er Adel erfreuten.

Um St. P. in eine „Drehscheibe des Welthandels“ zu verwandeln, ergriffen die russländischen Herrscher zahlreiche merkantilistische Maßnahmen. So wurden z. B. die Zolltarife in der bis zur Gründung St. P.s wichtigsten Außenhandelsstadt, Archangelsk, aber auch in anderen Städten, angehoben, für St. P. jedoch um 5 % gesenkt. Damit verwirklichten Russlands Herrscher jene Lenkung des Handels vom Eismeer (Nordpolarmeer) in den östlichen Ostseeraum, um den sich die schwedische Regierung während des ganzen 17. Jh. lang nahezu vergeblich bemüht hatte. Auch hinsichtlich der Stadtrechte genoss St. P. eine Ausnahmestellung im Reich. Es sollte alle Vorzüge der deutschrechtlichen Städte an der Ostsee mit den stadtherrlichen Ambitionen des absolutistischen Staates vereinen und innerhalb des Russischen Reiches die Position einnehmen, die Stockholm innerhalb des schwedischen ›Dominium maris Baltici‹ während des 17. Jh. behauptet hatte.

Tatsächlich wurde über St. P. bereits gegen Ende der Regierungszeit Peters I. (1725) rd. 60 % des russischen Außenhandels abgewickelt. Dabei waren, wie schon im Eismeerhandel des 17. Jh., die Engländer die wichtigsten Partner.

Die Entstehung St. P.s war, bei allen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Vorteilen für die Eliten, eine Tortur für die einfache Bevölkerung. In der ersten Bauphase starben Tausende zwangsverpflichteter russischer und finnischer Bauern und Arbeiter durch Unfälle, Hunger, Malaria oder Skorbut. Ausländische Fachkräfte und Kaufleute dagegen ließen sich von der Aussicht auf beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg in die Stadt locken, erlangten zahlreiche Privilegien und profitierten schon bald von der hohen Dynamik der Stadtentwicklung. U. a. wurden sie von Steuern und Militärdienst befreit und erhielten die Erlaubnis, eigene Kirchgemeinden, Schulen und Zeitungen zu unterhalten. Als Peter I. 1725 starb, lebten bereits 40.000 Einwohner in der Hauptstadt; dazu kamen Tausende von Bauarbeitern in Arbeitslagern in der unmittelbaren Nähe der Stadt. 1750 hatte St. P. mit 138.000 Einwohnern bereits Rang 10 auf der Größenskala europäischer Großstädte erreicht.

In kultureller Hinsicht sollte St. P. – wie es Puschkin (1799–1837) in seinem bekannten Poem „Der eherne Reiter“ (Mednyj vsadnik) ausdrücken sollte – ein „Fenster nach Europa“ werden. Seinen Ruf als Kultur- und Wissenschaftszentrum des Landes unterstrich St. P. in der ersten Phase seiner Geschichte v. a. durch die Gründung der Akademie der Wissenschaften 1724/25 und einer Reihe von Spezialschulen, hauptsächlich für die Belange des Militärs. Außerdem gründete Elisabeth I. 1757 die bald bekannt gewordene Akademie der Schönen Künste zur Ausbildung von Malern, Bildhauern und Architekten.

Anfang

Die klassische Periode (1762-1855)

Weltruhm erlangte St. P. jedoch erst in der Zeit der Herrschaft Katharinas II. (1762–96) bis Nikolaus’ I. (1825–55). Die wichtigste der Reformen Katharinas II. für St. P. war die Stadtreform von 1785. Mit ihr erstrebte die Zarin eine Erhöhung des fiskalischen Wertes der Städte für die Staatskasse und die Schaffung eines stadtbürgerlichen Standes nach Vorbild anderer Fernhandelsstädte im Ostseeraum. St. P. sollte dadurch zu einem bedeutenden Aufschwung in Handel und Handwerk verholfen und so das Investitionskapital des Staates und der Kaufleute gleichermaßen erhöht werden. Bereits 1782 hatte Katharina II. die Zollgrenzen zwischen St. P. und den Stapelstädten in den russländischen Ostseeprovinzen (Reval [heute Tallinn], Dorpat [heute Tartu], Riga, Vyborg, Fredrikshamn) im Zeichen einer allgemeinen Freihandelspolitik aufgehoben und damit eine Belebung des Binnenhandels im Reich herbei geführt.

Die stände- und wirtschaftspolitischen Reformen zogen weitere Arbeitskräfte und Investoren in die Stadt und machten sich in einer regen Bautätigkeit bemerkbar. Besonders der Schiffs- und Kanalbau wurden vorangetrieben. In rascher Folge entstanden außerdem Banken, Druckereien, Buchhandlungen, Spinnereien, Webereien, kunsthandwerkliche Betriebe u. a. m. Diese bürgerliche Geschäftstüchtigkeit wiederum beflügelte den (See)Handel. Unter Katharina II. erreichte St. P. ein Handelsumsatzvolumen von rd. 50 Mio. Rubel pro Jahr, was für damalige russische Verhältnisse eine gewaltige Summe darstellte. Auch Privathäuser entstanden nun in großer Zahl. Ein Drittel der rd. 150.000 Einwohner in den 1780er Jahren waren Adlige, Offiziere, Beamte und Künstler und damit auch Auftraggeber für Prachtbauten. Jenseits des Zentrums hingegen breiteten sich v. a. die Elendsviertel aus. Das rasante Wachstum der Stadt erhielt mit den englischen und französischen Wirtschaftsblockaden in der Zeit der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege (1789–1815) einen merklichen Dämpfer und endete nach einer zwischenzeitlichen Erholung noch einmal abrupt am 7.(19.)11.1824, als die größte Überschwemmung in der Geschichte St. P.s mit einem Pegel von 4,11 m über Normal etwa 500 Menschen das Leben kostete und 460 Häuser zerstörte. Einen erneuten Aufschwung brachte u. a. der Bau von Eisenbahnstrecken (Carskoe Selo 1837, Moskau 1843–51 u. a.), für die St. P. zum Verkehrsknotenpunkt wurde.

Als klassisch erwies sich die Periode zwischen Katharina II. und Nikolaus I. aber v. a. in kultureller Hinsicht. Die Errichtung von Prachtbauten und die Gründung von Wissenschafts- und Kulturinstitutionen, die in der ersten Hälfte des 18. Jh. eine zentrale Rolle gespielt hatte, setzten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zunächst fort. 1764 stiftete Katharina II. das „Smolnyj-Institut“ (S. institut) mit angegliederter „Smolnyj-Kathedrale“ (Smolnyj sobor) für adlige Mädchen und damit die erste staatliche Mädchenschule in Russland. Mit dem Bau der „Kleinen Eremitage“ (Malyj Ėrmitaž, 1764–67) wurde der Ausbau St. P.s im klassizistischen Stil zum „Venedig des Nordens“ eingeleitet. Große Architekten der Zeit waren Jean Baptiste Michel Vallin de la Mothe (1729–1800), Giacomo Quarenghi (1744–1817), Andrej N. Voronichin (1759–1814), Jurij M. Felten (1730–1811) und Ivan E. Starov (1745–1808).

St. P. wuchs in der zweiten Hälfte des 18. Jh. zu einer prunkvollen höfischen Metropole heran. Unter Alexander I. (1801–25) begann die architektonische Epoche des „Alexandrinischen Klassizismus“ bzw. Spätklassizismus. Das eindrücklichste Beispiel dieser Zeit ist die nach Plänen von Auguste de Montferrand (1786–1858) gebaute „Isaaks-Kathedrale“ (Isaakievskij sobor, 1818–58), die die neue Stellung Russlands als Großmacht nach dem Ende des Napoleonischen Kriege und der europäischen Friedensordnung von 1815 dokumentieren sollte und bis heute die wohl größte Kirche Russlands ist.

Unter Alexander I. wurde in St. P. im Rahmen reichsweiter Bildungsreformen eine Reihe von Gymnasien, Fachhochschulen und eine Universität (1819) gegründet. Damit eng verbunden entwickelte sich die Stadt zu einem Zentrum des künstlerischen und intellektuellen Lebens Russlands. Puschkin, Michail J. Lermontov (1814–41), Gogol (1809–52) und Dostojewski (1821–81) begründeten in St. P. den Weltruf der russischen Literatur. Michail I. Glinka (1804–57) komponierte hier 1836 die erste russische Nationaloper (›Ivan Susanin‹, dt. Das Leben für den Zaren).

Es entstanden zahlreiche neue Museen. Akademiker und andere Vertreter der Intelligenzija gründeten künstlerische und literarische Zirkel, die eine der Grundlagen für die Entstehung einer regierungskritischen bis -feindlichen politischen Bewegung in Russland waren. Gleichzeitig bildete der niedergeschlagene Dekabristenaufstand 1825 die Legitimation für ein zunehmend härter agierendes Polizeiregime.

Anfang

Industrialisierung und Revolution (1855–1917)

Nach dem verlorenen Krimkrieg (1853–56) leitete die Regierung eine Reformpolitik ein, die unter dem Begriff der „Großen Reformen“ bekannt geworden ist. Die St. P. als Stadt direkt betreffenden Maßnahmen waren die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) und die Einführung städtischer Selbstverwaltungsorgane (Stadtduma, 1870). Durch die Aufhebung der Leibeigenschaft erlangten die Bauern die Freizügigkeit und wanderten saisonweise oder dauerhaft nach St. P., wo sie in den entstehenden Industriebetrieben teils Arbeit fanden, teils verelendeten. Nach 1861 wuchs die St. P.er Bevölkerung in wenigen Jahrzehnten um mehr als eine Million Menschen an (1864: 539.122, 1897: 1.264.920, 1910: 1.905.859).

Der Eisenbahnbau, der 1878 erfolgte Ausbau der Schifffahrtsstrecke zwischen dem Flottenstützpunkt Kronštadt und St. P., der die Stadt für Hochseeschiffe erreichbar machte, gab dem Handel sowie der Ansiedlung von Industrie und Handwerk bedeutende Impulse, sodass die Stadt in den 1890er Jahren mit Hilfe ausländischen Investitionskapitals ihren industriellen ›take-off‹ erlebte.

Der rasante wirtschaftliche und soziale Wandel nach den „Großen Reformen“ war mit den Mitteln des traditionellen absolutistischen Zentralstaats nicht mehr zu kontrollieren. Zahlreiche Verwaltungskompetenzen wurden deshalb an die Stadtduma abgegeben, die ein Verbindungsglied zwischen Staat und Untertanen darstellen sollte, aber bald schon eine Eigendynamik entfaltete, die sich im Zusammenspiel mit den anderen lokalen Selbstverwaltungsorganen des Reiches in der Revolution von 1905 als politische Kraft erwies, die den Staat zu weiteren Reformen zwang. Jenseits dieser geduldeten, weil legalen politischen Opposition gründete die administrativ ungebundene Intelligenzija geheime Organisationen, die unterschiedliche politische Ziele – von der konstitutionellen Monarchie bis zu Anarchismus und Kommunismus – verfolgten und dafür verschiedene gewaltlose wie gewalttätige Mittel einsetzten. Die St. P.er Organisationen erwiesen sich hierbei als treibende Kräfte für das ganze Reich. Am 9.(22.)1.1905 fiel mit dem sog. Blutsonntag der Startschuss für die (erste) Revolution Russlands. Diese bewirkte in St. P. selbst keine tief greifenden Veränderungen, führte die Stadt aber, wie den Rest des Reiches, in eine Periode des „konstitutionellen Experiments“ (1905–14), das neben der Proklamation konstitutioneller Freiheiten (sog. Oktobermanifest 1905) und verschiedenen neuen Institutionen die Einrichtung eines Parlaments (Staatsduma) mit Sitz in der Hauptstadt mit sich brachte.

Russlands Eintritt in den Ersten Weltkrieg an der Seite Frankreichs im August 1914 bewirkte eine im Zeichen der antideutschen Kriegspropaganda erfolgte Umbenennung der Stadt in Petrograd (= russ. Übersetzung von „Petersburg“). Eine allgemeine Kriegsmüdigkeit, die Versorgungsnot im Reich, Arbeiteraufstände und Fahnenflucht führten schließlich zur Februarrevolution von 1917. Am 28.2.(13.3.) bildeten die gemäßigten Parteien der Staatsduma ein Komitee, aus dem eine bis zu den kommenden Wahlen eingesetzte provisorische Regierung unter der Leitung Aleksandr F. Kerenskijs (1881–1970) hervorging. Diese setzte den Krieg zunächst fort. Am 15.(28.)3. dankte Nikolaus II. (ab 1894) zugunsten seines Bruders, des Großfürsten Michail (bis 1918), ab. Im April kehrte der Führer der russischen Sozialdemokraten/Bolschewisten, Lenin (1870-1924) aus dem Schweizer Exil zurück nach St. P., wo er zusammen mit Parteimitgliedern, Arbeiterräten und Teilen des Militärs die Oktoberrevolution anführte, die zur Beseitigung der provisorischen Regierung, zur Machtübernahme der Bolschewisten und zur Beendigung des Krieges mit Deutschland (Friede von Brėst-Litovsk, 15.1.1918) führte.

Anfang

Sowjetperiode (1917–91)

Nach der Oktoberrevolution und der Erhebung Moskaus zur Hauptstadt (1918) verlor St. P. in vielfacher Hinsicht an Bedeutung. Zwar war das „Smolnyj-Institut“ 1917/18 noch Sitz der bolschewistischen Regierung, aber St. P. wurde als Symbol des untergegangenen Regimes aufgefasst, hier hielten sich bis zum Ende des Bürgerkriegs (1918–20) unbequeme Widerstandsnester (z. B. Aufstand von Kronštadt 1921).

In den 1920er und 1930er Jahren richtete die bolschewistische Führung die Stadtverfassung strikt auf die zentralistische Moskauer Politik aus. Die Arbeiterräte und sämtliche politische Parteien wurden entweder in die Illegalität getrieben oder den Bolschewisten gleichgeschaltet. Nachdem Lenin 1924 gestorben war, wurde Petrograd in Leningrad umbenannt. Gleichzeitig verlor die Stadt nach der Machtübernahme Stalins (1879–1953) Ende der 1920er Jahre weiter an Einfluss. Der Tod des populären St. P.er KP-Führers Sergej M. Kirov 1934 markiert den Beginn der stalinistischer Verfolgungen bzw. Säuberungen. Zählte die Stadt schon 1920 im Vergleich zu ca. 2,4 Mio. 1917 nur noch 722.000 Einwohner, so verschwanden jetzt erneut Abertausende von Menschen, wurden getötet oder in Arbeitslager verschleppt. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs war St. P. sowohl politisch als auch demographisch eine Stadt zweiten Ranges geworden, während des Zweiten Weltkriegs allerdings eines der wichtigsten Kriegsziele der deutschen Militärführung. Zwar gelang es nicht, den „Führerbefehl“ vom 4.9.1941 umzusetzen und „die Stadt Petersburg vom Erdboden zu vertilgen“, doch litt Leningrad von 1941–44 unter einer 900 Tage währenden Blockade, die aufgrund von Hunger und Erfrierungen, Granatenbeschuss und Bombenangriffen über einer Million Einwohner das Leben kostete.

Auch in der Nachstalinzeit blieb Moskau die unangefochtene Hauptstadt der Sowjetunion. 1965 erhielt St. P. zwar für die Standhaftigkeit und den Überlebenswillen während der Blockade den Ehrentitel einer Heldenstadt (gorod geroj), blieb aber politisch fast bedeutungslos.

Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung St. P.s folgte nach 1917 einerseits dem Gesetz des Mangels, andererseits den Vorgaben der Moskauer bolschewistischen Führung. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg, in denen die Bolschewisten mit dem sog. Kriegskommunismus experimentiert hatten, brachte die Phase der sog. Neuen Ökonomischen Politik ab 1921 kurzfristig eine Besserung. Diese von Lenin propagierte Linie wurde jedoch schon bald nach dessen Tod aufgegeben. Unter Stalin, der 1927 eine staatlich gelenkte und gewalttätig vorangetriebene Industrialisierung anordnete, näherte sich die St. P.er Industrie langsam wieder den Produktionsziffern der Vorkriegszeit, wobei eine deutliche Proletarisierung aller Teile der Bevölkerung in Kauf genommen wurde.

Daneben behielt St. P. in der Zwischenkriegszeit eine hohe Bedeutung als Marine- und Handelsstützpunkt der Sowjetunion. Die deutsche Blockade St. P.s führte einerseits zur Demontage der Industrie, andererseits kamen alle noch bestehenden Handels- und Industriebetriebe zum Erliegen, weil es an Arbeitskräften fehlte, die sie ausüben konnten. Stattdessen bestimmten nun Hunger, Seuchen und Krankheiten den Alltag. Die Jahre nach der Blockade waren dem Wiederaufbau gewidmet. Nun wurden auch die Zarenschlösser in der Umgebung der Stadt, die von der deutschen Armee zerstört worden waren, sorgfältig restauriert. Neue Stadtteile schossen wie die Pilze aus dem Boden. 1955 wurde die erste Metrolinie eingeweiht. Schon in der Chruschtschow-Zeit (1956–64) verlor der Aufbau jedoch an Schwung. Die Agrar- und Konsumgüterproduktion blieb bis zum Ende der Sowjetunion 1991 hinter den Plänen weit zurück. Gleichzeitig genossen die St. P.er Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre einen relativen Wohlstand, der auf einem florierenden Schwarzmarkt beruhte. Reformansätze in der Gorbatschow-Zeit (1987–91) konnten das Missverhältnis von Wirtschaftsplänen und Schattenwirtschaft nicht beheben, leiteten jedoch eine vorsichtige Privatisierung der Wirtschaft ein, die in St. P. und anderen Städten z. B. zur Einführung von privaten Kooperativen (1986) führte.

Kulturell ist für die 1920er Jahren eine tolerante und pragmatische politische Phase zu konstatieren, die St. P.s von der Jahrhundertwende ererbten Ruf als „Laboratorium der Moderne“ noch eine Weile aufrecht erhielt. 1932 jedoch wurden alle selbständigen kulturellen Gruppierungen aufgelöst. 1934 gab der St. P.er Parteisekretär Andrej A. Ždanov (1896–1948) die Parole des „Sozialistischen Realismus“ aus, die die „Kulturschaffenden“ als „Ingenieure der Seele“ (Stalin) auf die ideologisch-kulturellen Vorgaben der Partei ausrichtete. Abweichler wurden durch „Säuberungen“ beseitigt. Die sog. ›Ždanovščina‹ hielt bis zum Tod Stalins 1953 an. Die „Tauwetter“-Periode (ca. 1954–64) begünstigte schließlich die Abkehr von dieser Politik, retablierte St. P.s Stellung als Russlands kulturelles Zentrum und brachte zahlreiche Innovationen in Kunst, Musik und Literatur mit sich. Einen schweren Verlust erlitt die Stadt 1988, als bei einen Brand in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften eine Million Bücher vernichtet wurden.1989 stellte die UNESCO den historischen Kern St. P.s unter Denkmalschutz und erklärte ihn zum „Weltkulturerbe“.

Anfang

Gegenwart

Nach dem Moskauer Augustputsch 1991 wurde die Stadt auf Begehren der Stadtbevölkerung am 6.9.1991 in St. P. zurück benannt. Der Bürgermeister, Anatolij A. Sobčak (1937–2000), setzte sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre für mehr Demokratie und einen Übergang zur Marktwirtschaft ein. Vladimir A. Jakovlev (*1944) setzte diesen Kurs 1996–2003 im Wesentlichen fort. Eine Rückwendung zum vorrevolutionären St. P. symbolisierte auch die Beisetzung der Gebeine der 1918 ermordeten Zarenfamilie in der „Peter-und-Paul-Kathedrale“ am 17.7.1998. Eine besondere Förderung erfährt die Stadt seit der gebürtige St. P.er Putin, Vladimir V. Putin russischer Präsident ist (2000). Dies zeigte sich eindrucksvoll im Zusammenhang mit der 300-Jahrfeier 2003 als große Förderbeiträge aus Moskau zur Renovierung/Restaurierung v. a. des Stadtzentrums bereit gestellt wurden.

Nach dem Ende des kommunistischen Regimes ist der seit den 1960er Jahren zu beobachtende, aber verdeckte wirtschaftliche Niedergang mit entsprechenden Folgen (Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Absicherung etc.) offenbar geworden und zählt heute zu den Hauptproblemen St. P.s.

Berelowitch W. 1996: Histoire de Saint-Pétersbourg. Paris. Bucharkin P. E. 2001: Tri veka S. Peterburga. Ėnciklopedija, 3 Bde. St. Peterburg. Očerki istorii Leningrada, 6 Bde. Leningrad 1955-1970. Creutzberger S., Kaiser M., von Mannteufel I., Unser J. (Hg.) 2000: St. Petersburg – Leningrad – St. Petersburg. Stuttgart. Donnert E. 2002: St. Petersburg. Eine Kulturgeschichte. Köln. George A. L. 2003: St. Petersburg: Russia’s Window to the Future. The First Three Centuries. Lanham. Glantz D. M. 2002: The Battle for Leningrad, 1941–1944. Lawrence. Ruble B. A. 1990: Leningrad: Shaping a Soviet City, Berkeley. Sankt-Peterburg. 300 let istorii. St. Petersburg 2003. Schlögel K. 1988: Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratium der Moderne. Petersburg 1909-1921. Berlin. Schlögel K., Schenk F. B., Ackeret M. (Hg.) 2007: St. Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Frankfurt a. M. Volkov S. 1996: St. Petersburg. A Cultural History. London.

(Ralph Tuchtenhagen)

Anfang
Views
bmu:kk