Kriegskommunismus

Kriegskommunismus

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

Als K. bezeichnete Lenin die Wirtschaftspolitik der Jahre 1918–21 im Nachhinein. Er eröffnete damit die Debatte darum, ob diese eher als Reaktion auf die militärischen Bedürfnisse des Bürgerkriegs zu verstehen sei oder als Versuch, unmittelbar zum Kommunismus überzugehen. Die letztere Position wird v. a. von Theoretikern vertreten, sowohl linken Kommunisten wie Lev N. Kricman oder Nikolaj Osinskij als auch Liberalen wie Peter J. Boettke; die erste, Lenin folgend, v. a. von der offiziellen Sowjethistoriographie. Da alle darin einig sind, dass der K. ein Misserfolg war, geht es bei dieser Debatte implizit um die Frage, ob die Möglichkeiten sozialistischer Wirtschaft mit dem Scheitern des K. im Grunde schon erschöpft waren oder ob andere Möglichkeiten blieben. Die Historiker – insbesondere auf das Buch von Silvana Malle ist zu verweisen – arbeiten unabhängig von dieser Debatte durchweg heraus, wie viel die Pläne dieser Jahre von der Realität trennte.

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2 Kriegskommunismus seit 1916

Wie in den übrigen am Weltkrieg beteiligten Ländern hatte es auch in Russland – besonders seit 1916 – Ansätze zu einer zentralen Leitung der Wirtschaft gegeben und schon nach der Februarrevolution war die Energiewirtschaft monopolisiert worden. Lenin, der besonders vom deutschen Beispiel der Kriegswirtschaft beeindruckt war, formulierte nach dem Oktober als sein Übergangskonzept die Nationalisierung der Banken, Zwangssyndizierung der Industrie und staatliche Kontrolle der Firmen, die durch Arbeiterkontrolle ergänzt werden sollte. Staatliche Organe sollten in diesem Staatskapitalismus die führende Position einnehmen und für die Einhaltung der staatlichen Anordnungen sorgen. Die Bolschewiki hatten sich, anders als Lenin, jedoch mehrheitlich mit jenen spontanen Betriebskomitees solidarisiert, welche Arbeiter im Verlauf des Jahres 1917 gegründet hatten. Statt der Staatskontrolle wurde hier unmittelbare Arbeiterkontrolle eingeführt, die häufig zu Arbeiterselbstverwaltung überging, also die Betriebe enteignete.

Für die ökonomische Zusammenarbeit der steigenden Zahl der durch Betriebskomitees oder auch Gewerkschaften enteigneten Betriebe gab es anfangs keine Organisationsform. Auch Lenin ließ sich im Dezember 1917 (wie so oft in diesen Jahren) von der revolutionären Energie der Arbeiter hinreißen und erklärte: „Einen konkreten Plan zur Organisation des wirtschaftlichen Lebens gibt es nicht und kann es nicht geben. Niemand kann ihn geben. Nur die Masse kann das tun, von unten, auf Grund der Erfahrung“. Das Modell der Räte ging für die Wirtschaft davon aus, dass die Entscheidungsträger von unten nach oben gewählt werden würden (abwählbar und zu Arbeiterlohn honoriert): die Arbeiter wählen die Betriebskomitees, die Betriebskomitees die lokalen Wirtschaftsräte, die lokalen die regionalen, die regionalen den Gesamtwirtschaftsrat. Der Rat der Volkskommissare hatte indessen schon am 5.12.1917 einen „Obersten Volkswirtschaftsrat“ (russ. Vysšij Sovet Narodnogo Chozjajstva, VSNCH) aus Vertretern der Volkskommissariate, Vertretern des Rates der Arbeiterkontrolle und Fachleuten eingesetzt, der für die Regierung als Verwaltungs- und Beratungsapparat funktionierte. Seine Aufgabe war die Organisation der Volkswirtschaft und der Staatsfinanzen. Schnell wurden Hauptkomitees (›Glavki‹) und Zentralverwaltungen (›Centry‹) für die Industriezweige gebildet. Zu den Kompetenzen des VSNCH gehörte die Kontrolle der in privater Hand bleibenden Unternehmen, wobei er sich auf die Institutionen der Arbeiterkontrolle in den Betrieben stützen sollte.

Das Modell der Räte ging für die Wirtschaft davon aus, dass die Entscheidungsträger von unten nach oben gewählt werden würden (abwählbar und zu Arbeiterlohn honoriert): die Arbeiter wählen die Betriebskomitees, die Betriebskomitees die lokalen Wirtschaftsräte, die lokalen die regionalen, die regionalen den Gesamtwirtschaftsrat. Der Rat der Volkskommissare hatte indessen schon am 5.12.1917 einen „Obersten Volkswirtschaftsrat“ (russ. Vysšij Sovet Narodnogo Chozjajstva, VSNCH) aus Vertretern der Volkskommissariate, Vertretern des Rates der Arbeiterkontrolle und Fachleuten eingesetzt, der für die Regierung als Verwaltungs- und Beratungsapparat funktionierte. Seine Aufgabe war die Organisation der Volkswirtschaft und der Staatsfinanzen. Schnell wurden Hauptkomitees (›Glavki‹) und Zentralverwaltungen (›Centry‹) für die Industriezweige gebildet. Zu den Kompetenzen des VSNCH gehörte die Kontrolle der in privater Hand bleibenden Unternehmen, wobei er sich auf die Institutionen der Arbeiterkontrolle in den Betrieben stützen sollte.

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Während so die Position der Regierung klar wurde, kam es zwischen Betriebskomitees und Gewerkschaften zu einer Auseinandersetzung darum, welche Funktion die Arbeiterkontrolle haben solle. Die Gewerkschaften warfen den Komitees vor, die Probleme der Wirtschaft nur aus der Perspektive ihres Betriebs zu sehen und forderten ihre Unterordnung unter die – bolschewistisch geführten – Gewerkschaften, um den Gesamtzusammenhang zu wahren. Syndikalistische Sprecher wie Grigorij P. Maksimov warnten dagegen vor der Gefahr einer Arbeiteraristokratie, wenn das Modell der Organisation von unten aufgegeben würde. Die Betriebskomitees wurden vom VSNCH durch eine Verordnung vom 23.12.1917 zurückgedrängt, nach der die Bezirksvolkswirtschaftsräte nicht von allen Arbeitern, sondern nur von Mitgliedern von Arbeiterorganisationen zu wählen waren und auch Kooperativen, örtliche Sowjets und technisches Personal an der Wahl beteiligt wurden.

Der Versuch des VSNCH, die nationalisierten Betriebe von einer Troika aus administrativem Direktor, technischem Direktor und Regierungskommissar verwalten zu lassen (also von der Regierung, 1.3.1918) verschärfte die Auseinandersetzung, die auf dem 1. Kongress der Volkswirtschaftsräte in Moskau (26.5.–4.6.1918) ausgetragen wurde. Man einigte sich schließlich auf einen Kompromiss, nach dem zwei Drittel der Betriebsleitungen von den Volkswirtschaftsräten bestimmt und der Rest von den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern gewählt wurde. Die Argumentationen beider Seiten waren grundsätzlicher Natur. Die „Rechten“ in der KPR (B) argumentierten gegen die Selbstverwaltung der Betriebe, weil die Industrie umfassende Aufgaben habe, welche die gesamte Volkswirtschaft betreffen. Der linke Flügel wandte dagegen ein, dass auch die Emanzipation der Nation nur als Emanzipation der Arbeiterklasse denkbar sei und diese nur über Selbstverwaltung erfolgen könne. Das Eingreifen Lenins gab den Ausschlag.

Lenins Zentralismus ging jedoch davon aus, dass der Staat die Industrie, die weithin in privater Hand bleiben sollte, nur kontrollieren und leiten solle. In dieser Frage erlitt er jedoch gegen die Linken eine Niederlage, als am 28.6.1918 die Nationalisierung der Groß- und Teile der Mittelindustrie verfügt wurde. Die Folgen der Entscheidung gegen die Arbeiterselbstverwaltung wurden damit vervielfältig; Zentralisierung und staatliche Leitung betrafen nun viel mehr Betriebe. Der Zwischenfall in Čeljabinsk am 26.5.1918, der später als Beginn des Bürgerkriegs erkannt wurde, mochte auf die zweite Entscheidung Einfluss gehabt haben, nicht jedoch auf die erste. Die Entscheidung, einen direkten Weg zum Sozialismus zu gehen ohne den Umweg über den von Lenin vorgeschlagenen Staatskapitalismus, fiel jedoch schon im Mai/Juni. Nikolaj Osinskij hatte seinen für die Richtung kennzeichnenden Aufsatz „Über den Aufbau des Sozialismus“ in der l., der Aprilnummer der Zeitschrift ›Kommunist‹, welche das von den Linken beherrschte Moskauer Gebietskomitee als Forum gegen Lenins Position herausgab, publiziert. Auf dem V. Sowjetkongress im Juli 1918 schloss Lenin sich dieser Position an, woraufhin Osinskij die Meinungsverschiedenheiten für beendet erklärte.

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3 Programm der KPR

Das auf dem VIII. Parteitag im März 1919 angenommene neue Programm der KPR macht deutlich, dass die Parteilinke nach wie vor die Mehrheit stellte und tatsächlich einen direkten Übergang zum Kommunismus plante. Sie beschloss nicht nur die endgültige Expropriation der Bourgeoisie, sondern auch die „maximale Zusammenfassung aller wirtschaftlicher Tätigkeit im Lande durch einen gesamtstaatlichen Plan“. Als Hauptträger des organisatorischen Apparats wurden die Gewerkschaften angesprochen. Die Gewerkschaften sollten die Werktätigen an die Wirtschaftsverwaltung heranführen und zugleich den „Kampf gegen die Bürokratisierung des ökonomischen Apparats der Sowjetmacht“ anführen. Die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung Sowjetrusslands sollte erfasst werden. Auch die Gewerkschaften sollen bei der Durchsetzung der „neuen, sozialistischen Arbeitsdisziplin“ mitwirken.

Ziel der Landwirtschaftspolitik ist die Organisation einer sozialistischen Großlandwirtschaft. Als eine der Grundaufgaben der Partei wird die Aufhebung des Unterschieds zwischen Stadt und Land angesehen, deswegen sollen Industriearbeiter zum kommunistischen Aufbau auf dem Land herangezogen und die schon bestehenden „Arbeiterhilfskomitees“ gefördert werden. Bei ihrer Arbeit auf dem Land stützt die KP sich auf „dessen proletarische und halbproletarische Schichten“ und fördert Organisationen der Dorfarmut, bekämpft das „Kulakentum“ und sucht die Mittelbauern zum sozialistischen Aufbau heranzuziehen. Die Banken sollten zu Organen der Rechnungsführung der Sowjetrepublik werden. Die Abschaffung des Geldes sei zwar noch nicht möglich, aber der Bereich der geldlosen Verrechnung sollte erweitert und die Beseitigung des Geldes vorbereitet werden, u. a. durch Bezugsscheine.

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4 Landbevölkerung

Der Realität in den Städten, in denen man in der Tat für Geld nicht viel kaufen konnte, weithin von kommunaler Nahrungszuteilung und Wohnraumzuweisung abhängig war und seine Arbeit in den Fabriken für Zuweisungsbilletts tat, entsprach das Programm der KP durchaus. Von der Realität auf dem Lande ist nicht mehr erfasst, als dass der Stadt-Land-Unterschied gewaltig war. Die leninsche Einteilung der Landbevölkerung in Dorfarmut, Mittelbauern und Kulaken ging an der Wirklichkeit weithin vorbei (noch weniger gab es in einer Umteilungsgemeinde Proletarier, da alle Land zugeteilt erhielten). Die Dörfer hatten die Oktoberrevolution vielfach nicht nur dazu benutzt, die Äcker von Adel und Zar zu okkupieren, sondern auch dazu, die nach den Stolypinschen Reformen aus den Umteilungsgemeinden ausgeschiedenen Bauern wieder zurückzuholen, so dass der ›mir‹ vorherrschte. Damit war eine langfristige Akkumulation von Grund und Boden unmöglich; die Dörfer waren sozial verhältnismäßig einheitlich und Armut und Reichtum besaßen eher einen biologischen als einen sozialen Charakter (Armut, Krankheit usw.). Wenn auch diese Zahlen nur für 1929 vorliegen: auf der Ebene der etwa 600.000 Umteilungsgemeinden war die KP gar nicht auf der Ebene der etwa 72.000 Dorfsowjets kaum präsent (im Unionsschnitt umfasste ein Dorfsowjet acht Umteilungsgemeinden, die Wirtschaftsentscheidungen fielen auf der letzteren Ebene). Das Verhältnis zum Land war nicht durch den Versuch bestimmt, den Unterschied zwischen Stadt und Land einzuebnen, sondern durch die Pflicht der Bauern zur Ablieferung der Überschüsse zu fixen Preisen und oft ohne jeden Gegenwert an den Staat (›razverstka‹). Wenn städtische Proletarier hierbei eine Rolle spielten, dann als bewaffnete Arbeiterbrigaden, welche Getreide requirierten. Letztlich fügten sich die Dörfer dem, so lange man während des Bürgerkriegs fürchten musste, dass die Gutsbesitzer zurückkamen. Auch insofern kann man von einem K. sprechen – nach dessen Ende konnte ein derartiger, letztlich auf unmittelbarer außerökonomischer Gewalt beruhender Austausch zwischen Staat und Land nicht mehr erzwungen werden.

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5 Städte

War auf dem Land aus einer jahrhunderte langen Tradition heraus bäuerlicher Boden nicht als Ware verfügbar, so hörte in den Städten während des Bürgerkriegs die Warenwirtschaft fast vollständig auf. Die Ernährung geschah vorwiegend in riesigen Gemeinschaftsküchen nach Maßgabe der Arbeitsleistung. Die hergestellten Industrieprodukte, die zum größten Teil Rüstungsgüter waren, kamen nicht auf einen Markt, sondern an die Front. Man hat diese Wirtschaftsform auch proletarische Naturalwirtschaft genannt. Aber auch wenn es schwierig ist, die Gründe für den rapiden Zusammenbruch der russischen Wirtschaft während des Bürgerkrieges in solche zu scheiden, die mehr auf den Krieg, und solche, die mehr auf die neue Wirtschaftsform zurückzuführen waren, ist doch sicher, dass der K. als Wirtschaftsform nicht besonders erfolgreich war.

Zum einen stieg die Zahl der Staatsbeamten ganz außerordentlich. Der Versuch einer zentralen Planung aller Wirtschaftsbereiche führte zuerst einmal zur Vermehrung der Verwaltung. Allein beim VSNCH arbeiteten Ende 1920 über 34.000, beim Revolutionären Kriegssowjet fast 31.000 Angestellte. Im Kohlebergbau des Donbass ging die Zahl der Arbeiter von 1913–20 von 168.000 auf 114.000 zurück, die Zahl der Arbeiter über Tage stieg jedoch von 51.000 auf 63.000. Ein ähnliches Absinken des Anteils der Arbeiter in den produzierenden Sektoren lässt sich auch für die Eisenbahnen zeigen Die Verkehrsleistung ging übrigens zeitweise auf ein Fünftel zurück. 1917 machte die Zahl der Angestellten 6,8 % der Arbeiter aus, 1920 13,5 %. Nach der sozialen Herkunft war der neu entstandene Apparat gemischt – aufgestiegene Arbeiter, alte zaristische Beamte, v. a. aber Leute aus der Intelligenzija.

Weiters aber konnte dieser aufgeblähte bürokratische Apparat doch nicht verhindern, dass die proletarische Naturalwirtschaft in zwei Teile zerfiel - einen legalen und einen illegalen. Ein großer Teil der landwirtschaftlichen Produkte wurde auf dem illegalen Markt verkauft. Nach offiziellen Statistiken betrug der Anteil der Lebensmittel, die 1919 in Arbeiterfamilien auf Bezugsscheine erworben wurden, 36 % der gesamten Lebensmittelversorgung, in Angestelltenfamilien 33 %. Der Großteil der Versorgung lief über den schwarzen Markt, über „Sackträger“, die von der Stadt aufs Land fuhren, um Wertsachen gegen Nahrungsmittel zu tauschen.

Insgesamt war die industrielle Basis während des Bürgerkriegs geschrumpft. Die Zahl der Arbeiter war zwischen 1913 und 1920 von 2,6 auf 1,6 Mio. gesunken, die Stahlproduktion von 4,3 auf 0,2 Mio. Tonnen, die Erdölförderung von 10,3 auf 3,9 und die der Kohle von 29,2 auf 8,7. Wer Verwandte auf dem Land hatte, war aus der Stadt geflohen – der Anteil städtischer Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung war von 18 % auf 15 % gesunken. Auch die Gesamtbevölkerung war gesunken – dies sicher mehr als Folge des Bürgerkriegs als des K., aber doch in einem katastrophalen Ausmaß: lebten 1917 auf dem Gebiet der späteren UdSSR 143,5 Mio. Menschen, so wurden 1920 noch 134,2 Mio. gezählt – trotz einer hohen Geburtenrate. Die Zahl der militärischen Verluste (Gefallene, Verwundete und Vermisste) wird auf 7,7 Mio. geschätzt.

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Gewiss war dieser Zusammenbruch nicht allein auf den K. zurückzuführen. Als sich im Herbst 1920 der Bürgerkrieg dem Ende näherte, war die Mehrheit der Partei nicht der Meinung, dass die „proletarische Naturalwirtschaft“ versagt habe. Es gab Anhaltspunkte für eine Steigerung der Industrieproduktion und im Mai 1920 stieg der Anteil der Naturalversorgung an den Lebensmitteln der städtischen Bevölkerung auf etwa 59%. Inzwischen war die Partei auf über 600.000 Mitglieder angewachsen ,von denen zwar immerhin 43 % angaben, aus Arbeiterfamilien zu stammen, die aber zu über 60 % in der Verwaltung und noch einmal zu 25 % in der Roten Armee arbeiteten. Indem die Partei ehemalige Arbeiter in verantwortliche Stellungen gebracht hatte, hatte sie die Tendenz zu einer Angestelltenpartei bestärkt. Und so beschloss der 8. Rätekongress im Herbst 1920 eine Ausweitung des administrativen Wirtschaftssystems auf das Land: die Bestellung der Bodenfläche sollte durch einen staatlichen Aussaatplan geregelt werden, der für alle Bauern zur Pflicht erklärt wurde. Neue Kontrollkommissionen wurden zusammengesetzt.

Aber so effektiv konnte im Winter 1920/21 kein Kontrollapparat sein, dass die etwa 18 Mio. bäuerlichen Wirtschaften im Lande wirklich gezwungen werden konnten, einen Aussaatplan zu befolgen, den ein Rätekongress im fernen Moskau beschlossen hatte – selbst wenn der Plan denn wirklich angemessen die lokalen Bedingungen berücksichtigt hätte. Die Bauern weigerten sich, nach dem Ende des Kriegs weiter ohne realen Gegenwert Lebensmittel in die Städte zu liefern, und sie weigerten sich, den intellektuellen Hochmut der Partei zu ertragen, die ihnen sagen wollte, was sie zu tun hätten, ohne dass auch nur einer dieser Städter bei ihnen und mit ihnen lebte. Der Getreidemarkt brach zusammen, wieder kam es zu Hungersnöten, insbesondere in Petrograd, es kam zu Streiks und schließlich zum Aufstand der Matrosen von Kronstadt, welche den bestehenden Räten die Position absprachen, den Willen der Arbeiter und Bauern zu repräsentieren, Neuwahlen mit geheimer Stimmabgabe forderten und für die Freiheit der Bauern eintraten, das Land so zu bewirtschaften, wie sie das wünschten, solange sie keine Lohnarbeiter beschäftigten (§ 11 der Resolution vom 1.3.1921).

Der Aufstand wurde niedergeworfen. Aber der X. Parteitag im März 1921 zog die Konsequenz: das staatliche Getreidemonopol wurde aufgehoben und die Ablieferungspflicht durch eine Steuer ersetzt, so dass der Bauer, um Gewinne zu machen, das auf den Markt bringen durfte, was er an Überschuss erwirtschaftete.

Am XI. Parteitag 1922 stellte Lenin dem linken Parteiflügel gegenüber klar, dass es in dieser Phase nicht um Theorie, sondern nur um die „Ökonomik des Volkes“ gehen könne.

6 Zusammenfassung

Man kann zusammenfassend den Begriff K. für angemessen halten, da die linke Mehrheit in der KP wahrscheinlich ohne Bürgerkrieg keine so vollständige Nationalisierung in dieser Periode durchgesetzt hätte und die Rätebewegung kaum so vollständig ausgeschaltet worden wäre. 1920 gelang ihr auf politischem Feld immerhin eine Renaissance, wenn auch nicht auf dem der Betriebsverfassungen. Und nach 1921, als die Partei auf ökonomischen Gebiet gegenüber den Bauern nachgab, beendete die nun radikal durchgesetzte Monopolisierung der Macht jeden weitere politischen Pluralismus (der ja auch vorher nur innerhalb der Linken zugelassen worden war).

Dass die sowjetische Historiographie in der Folge Lenins den Begriff K. herausgestellt hat, zeigt jedoch, dass der Versuch des Übergangs zu einer Wirtschaft (fast) ohne Geld und mit direkter Verteilung der Lebensmittel an die Bevölkerung, der zwischen 1918 und 1920 unternommen worden ist, eher negativ eingeschätzt wird und wurde. Vielleicht war es eine „heroische Periode“, aber zweifellos ging auch dieser Heroismus zu Lasten der Menschen. In der Tat ist die die Wirtschaftsleistung des K. abschreckend und bestätigt die klassische liberale Kritik (die Ludwig v. Mises schon 1922 vortrug), dass das Scheitern des K. eine fundamentale Schwäche sozialistischer Planung – diese war, trotz eines außerordentlichen Grades von Bürokratisierung, nicht in der Lage, die Fülle von Daten, welche das russische Wirtschaftsgeschehen lieferte, angemessen zu verarbeiten und in Handlungen umzusetzen. Relativiert man diese historische Erfahrung durch den Hinweis auf die besonders ungünstigen Bedingungen im Bürgerkrieg, muss man zugleich die Kritik an jenen Politikern verschärfen, welche trotz dieser Bedingungen für diesen Versuch eintraten und ihn in krasser Verkennung der Ergebnisse 1920 sogar noch ausweiten wollten. Die Entscheidung für die NÖP bedeutete einen klugen Rückzug, da sie das Planungsvolumen auf die Industrie beschränkte. Zugleich hielt die Regierung mit der „Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands“ doch an einem Projekt fest, mit dem sie „den russischen Bauern“ erreichen zu können hoffte.

Central'noe Statisticeskoe Upravlenie (Hg.) 1970: SSSR i zarubeznye strany. Moskva.

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(Hans Heinrich Nolte)

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