Finnougrische Völker

Finnougrische Völker

Inhaltsverzeichnis

1 Begriffsbestimmung

Die im Deutschen verbreitete Bezeichnung der F. leitet sich von der gleichnamigen Sprachgruppe ab, die mit den samojedischen Sprachen die beiden Untergruppen der uralischen Sprachfamilie bildet. Zu den Merkmalen dieser Sprachen zählen die Vokalharmonie und der konsonantische Stufenwechsel, das Fehlen eines grammatischen Geschlechts und ein komplexes Kasussystem. Sie werden dem agglutinierenden Typus zugerechnet. Die Bezeichnung der F. bezieht sich auf ethnische Gemeinschaften, die um den Finnischen Meerbusen , in Ungarn sowie westlich des Uralgebirges beheimatet sind, während die Samojeden nordöstlich davon leben. Zur finnougrischen Sprachfamilie zählt man die Ostseefinnen (Finnen, Esten, Karelier, Ingrier, Wepsen, Woten, Liven), die Sami bzw. Lappen mit ihren zahlreichen eigenen Sprachen, die Wolgafinnen (Erza- und Mokscha-Mordwinen sowie Mari bzw. Tscheremissen), die permische Gruppe Komi-Perjaken, Komi-Syrjänen sowie Udmurten bzw. Wotjaken) und die ugrische Gruppe (Ungarn, Obugrier, Mansen bzw. Wogulen). Zu den Samojeden zählen die Nenzen (Juraken), Enzen (Jenissej-Samojeden), die Nganasanen (Tawgy-Samojeden) und Selkupen (Ostjak-Samojeden).

Die Siedlungsgeschichte der F. ist gerade im Umbruch begriffen. Die traditionelle, nicht nur von einer linguistischen, sondern auch von einer ethnischen Verwandtschaft und gemeinsamen Heimat ausgehende Sichtweise wird allerdings im Licht neuerer, kombinierter Ergebnisse der Humangenetik, der Archäologie und der Linguistik in Frage gestellt.

Genetisch gehören die Finnen demzufolge zu den Europiden, so dass ihre Ursprünge eher im Südosten Europas denn östlich des Ural zu vermuten sind. In welcher Weise diese bislang nur auf Finnen und Esten bezogenen Forschungen unseren Kenntnisstand über die F. erweitern werden, ist indes noch nicht abzusehen. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich demzufolge auf knappe Charakteristika zu den einzelnen, traditionell als finnougrisch bzw. samojedisch bezeichneten Ethnien.

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2 Allgemeine Angaben

Im Vergleich zu den heute in eigenen Staaten organisierten finnougrischen Nationen der Ungarn, Finnen und Esten sind die übrigen uralischen Völker, die in der Russischen Föderation beheimatet sind, meist von geringerer Größe. Es ist symptomatisch für die Größenordnungen, dass es bei der letzten sowjetischen Volkszählung 1989 mehr Ungarn in der UdSSR gab als Nenzen, Chanten oder Karelier. Immerhin stellten die Erza- und Mokscha-Mordwinen mehr als 1 Mio. Menschen und übertrafen damit als größte finnougrische Ethnie der Sowjetunion knapp die Esten. Mit gut 14 Mio. Menschen stellten die Ungarn 1989 knapp 60 % der finnougrischen Völker der Erde. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, dass einige der kleinsten Sprachgruppen, wie z. B. die Liven im Norden Kurlands oder die nördlich von Peipus- und Ilmensee siedelnden Woten, in der Zukunft aussterben werden, so wie bereits viele Sprachen durch Akkulturationsprozesse verschwunden sind. Zuletzt traf dieses Schicksal am Ende des 20. Jh. etwa die südsamojedischen Sprachen der Matoren und Kamassen.

Mit der Ausnahme der Ungarn ist das historische Schicksal der uralischen Völker historisch gesehen eng mit dem Russischen Reich verknüpft gewesen, zu dem auch die Esten und Finnen seit dem 18. bzw. 19. Jh. gehörten. Nach einer kurzen Phase der Selbständigkeit zwischen den Weltkriegen gehörte nach 1945 allerdings auch Ungarn zur Einflusssphäre der Sowjetunion. Einzig Finnland war es in der zweiten Hälfte des 20. Jh. beschieden, eine Sonderrolle zwischen West und Ost zu spielen, während Estland infolge des Hitler-Stalin Paktes sowie des Zweiten Weltkriegs das Schicksal einer Sowjetrepublik zuteil wurde.

Während Ungarn, Finnen (inkl. Samen) und Esten (inkl. Liven) der katholischen bzw. seit der – in Nordosteuropa – erfolgreichen Reformation der lutherischen Welt zuzurechnen sind, wurden die weiter östlich siedelnden F. als „Russlands erste Nationalitäten“ frühe Objekte slawisch-orthodoxer Kolonisation und Assimilation. Erste Opfer wurden die in den mittelalterlichen russischen Chroniken noch erwähnten finnougrischen Stämme der Merja und Muroma, die westlich des Ural siedelten. Je weiter man jedoch nach Nordosten blickt, zu den Obugriern und Samojeden, hat sich ihre traditionelle animistische Kultur ungeachtet der russischen „Zivilisierungsversuche“ im Grunde bis heute erhalten. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR nahmen viele dieser Völker ihre nomadische Lebensweise wieder auf, die ihnen durch die Kollektivierung entzogen werden sollte. Gleichwohl sehen sich die kleinen Kulturen einem seit Jahrhunderten in unterschiedlicher Intensität währenden Russifizierungsdruck ausgesetzt, der sich v. a. in einer Verdrängung der Muttersprachen, aber auch von Zeit zu Zeit in Missionierungsprojekten der russisch-orthodoxen Kirche bemerkbar macht.

Im Gegensatz v. a. zum Protestantismus hat die Orthodoxie das Fehlen einer schriftlichen Kultur bei den Ureinwohnern dies- und jenseits des Urals nicht kompensiert. Die Ausnahmen der Missionstätigkeit Stepans von Perm bei den Komi im 14. Jh. sowie die zaghaften Versuche im Kasaner Seminar im 19. Jh. bei den Wolgafinnen bestätigen nur diese Regel. Erst die frühe Nationalitätenpolitik der Sowjetzeit schenkte den indigenen Kulturen mehr Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, um sie im Rahmen der Alphabetisierungsbemühungen für die neue Macht zu gewinnen. In den ihnen nun zugeteilten eigenen administrativen Einheiten waren sie jedoch spätestens seit dem während der Industrialisierung erfolgten Zuzug russischer Arbeiter quantitativ meist in der Minderheit. Die physische Vernichtung der kurz zuvor noch geförderten nationalen Eliten in den 1930er Jahren sowie der sukzessive Abbau des eigensprachlichen Unterrichts seit den 1950er Jahren taten ein Übriges.

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3 Die Ethnien

Die folgenden Ausführungen zur Geschichte der einzelnen Ethnien gehen geographisch von Ost nach West vor, wobei nach Regionen und nicht nach Sprachgruppen unterschieden wird.

Samojeden und obugrische Völker

Die traditionelle Uralistik geht davon aus, dass sich die Samojeden um 4000 v. Chr. endgültig von ihren finnougrischen Sprachverwandten trennten. Von den zahlreichen südsamojedischen Ethnien überlebten nur die Selkupen (1989: 3600 Personen, 2002: 4250). Sie zerfallen in eine meistenteils sesshafte und russifizierte südliche und eine nördliche Gruppe von Rentierzüchtern in den Gebieten Tomsk und Tjumenʹ. Durch Ausbeutung der Gasvorkommen in dieser Region ist ihre traditionelle Lebensweise stark gefährdet. Dies gilt auch für die sich im Norden und Westen anschließenden Nenzen, die 1989 mit 34.500 Personen die größte samojedische Ethnie stellten (2002: 41.300). Sie leben verstreut als Nomaden und Rentierzüchter in Jamalien (Tjumenskaja oblastʹ), in Nenzien nordwestlich des Ural sowie in Taimyrien am Unterlauf des Flusses Jenissej. Ihre Sprache gehört zu denjenigen, die in der frühen Sowjetunion durch die Kreation eines auf dem Kyrillischen basierenden Alphabets kodifiziert wurde (1932). Die Zahl der Enzen (2002: 200) ist durch Assimilation an die Nenzen und Selkupen kontinuierlich zurückgegangen. Auf der Halbinsel Taimyr zwischen der Mündung von Jenissej und Chatanga leben schließlich die Nganasanen (1989: 1300, 2002: 800), deren Sprache von den Dolganen und den Ewenken (Tungusen) beeinflusst worden ist, die aber kulturell den Nenzen sehr nahe stehen und sich durch die Rentierzucht und -jagd ernähren.

Ebenfalls östlich des Ural leben die engsten Verwandten der Ungarn: die obugrischen Völker der Chanten (1989: 22.500, 2002: 28.600) und Mansen (1989: 8500, 2002: 11.400). Ihr Siedlungsgebiet Chantyja-Mansija trennt die von den beiden Zweigen der Selkupen bewohnten Regionen. Ursprünglich wohl südlich des Ural lebend, übernahmen die Chanten und Mansen Elemente der Reiterkultur von ihren turkstämmigen Nachbarn, die sich auch in ihrer Folklore bis heute wieder finden. Später verdrängten sie die samojedischen Völker nach Norden, wo sie eine der neuen Umwelt entsprechende arktische Lebensweise als Jäger, Fischer und Rentierzüchter annahmen. Früheste Kontakte mit den Ostslawen aus Novgorod sind für das späte 12. Jh. belegt, doch hatten die sich bald entwickelnden Auseinandersetzungen noch keine dauerhafte tributäre Herrschaft zur Folge. Erst die Unterwerfung des Khanats Sibir 1582 durch Moskau ermöglichte den Zaren die endgültige Kolonisierung der obugrischen und samojedischen Völker, die sich bis ins 17. Jh. hinzog. Eine einheitliche Reaktion auf den russischen Herrschaftsanspruch hat es dabei nicht gegeben: Bereitwillige Anpassung an die neuen Herren war ebenso möglich wie bewaffneter Widerstand (1607–09).

Unter Kontrolle bekam Russland die Region erst unter Zar Peter dem Großen, der mit aller Gewalt die Christianisierung der einheimischen Bevölkerung erzwang. Hiermit setzte die Ausbeutung der verachteten Kultur durch die gewaltbereitere ein, wobei die Verbreitung von Alkohol einen ähnlichen Effekt hatte wie bei den Ureinwohnern Nordamerikas. Gleichzeitig begann der Widerstand der Nenzen, der, obgleich sie zuvor keine Herrschaftsstruktur gekannt hatten, koordinierte Züge annahm und ein Jahrhundert anhielt. Erst die kapitalorientierte Rentierzucht, die z. B. von den Komi betrieben wurde, bei denen die Nenzen fortan als Hirten arbeiteten, zerstörte die Grundlagen ihres Nomadenlebens. Schließlich leitete die sowjetische Politik in den 1930er Jahren einen neuen Schub der gewaltsamen Kolonialisierung des nordwestlichen Sibirien ein. Als junge samojedische Männer 1936 erstmals in die Rote Armee eingezogen werden sollten, war dies das Signal für eine lokale Rebellion, die brutal unterdrückt wurde. Gleichzeitig wurde gegen jedes Anzeichen der animistischen Religion eingeschritten und jede als Schamane verdächtigte Person erschossen. Der Versuch, die Nomaden sesshaft zu machen sowie der Beginn der Ausbeutung der reichen Öl- und Gasvorkommen bedeuteten dann einen weiteren Schlag gegen die traditionelle Lebensweise der Samojeden und Obugrier.

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Finnougrische Völker westlich des Ural

Die Komi gehören der permischen Gruppe der finnougrischen Sprachen an. Sie werden in Komi-Syrjänen (1989: 344.519, 2002: 300.000) und Komi-Permjaken (1989: 152.060, 2002: 125.200) unterschieden. In einem für die sowjetische Nationalitätenpolitik nicht unüblichen Akt des Prinzips ›divide et impera‹ dienten marginale linguistische Unterschiede der Aufteilung in verschiedene territoriale Einheiten, die Republik Komi (heute Komi Mu) und Komi-Perjacköj avtonomöj okrug (komi-permjak., russ. Komi-Permjackij avtonomij okrug) in der Region Permskij kraj. Als Bewohner des legendären Bjarmaland der skandinavischen Sagas waren die Jäger und Fischer der Komi als Händler des Nordens bekannt, deren begehrteste Handelswaren Pelze und Honig waren. Sie besaßen bereits im 14. Jh. ein eigenes Schriftsystem, das bis ca. 1700 in Gebrauch war. Stepan von Perms erwähnter Kulturmission lagen wahrscheinlich bereits eigene Wurzeln zugrunde. Dennoch war seine Missionstätigkeit in der Sprache der Ureinwohner ein nahezu einmaliger Vorgang im Rahmen der orthodoxen Christianisierung, der auch freiwillige Übertritte in die neue Religion nach sich zog. Weiterhin gab es jedoch bis in die zweite Hälfte des 15. Jh. bewaffneten Widerstand gegen die neuen Herren.

Als autochthone Bewohner des polyethnischen Systems der Mittleren Wolga lebten F. jahrhundertelang im Spannungsfeld der russisch-wolgabulgarischen bzw. russisch-tatarischen Rivalität. Die wie die Komi der permischen Gruppe zugerechneten Udmurten (1989: 747.000, 2002: 635.000) wurden erstmals im 12. Jh. von der ostslawischen Bauernsiedlung berührt; unter russische Direktherrschaft geriet ihr nördliches Siedlungsgebiet nach der Eroberung von Vjatka (Kirov) durch Moskauer Heere 1489. Südlich davon lebten sie als Bauern noch bis 1552 im Bereich des Khanats von Kasan. Ihre entfernten Verwandten, die wolgafinnischen Mari (1989: 671.000, 2002: 600.000) werden linguistisch und kulturell nach Berg-, Wiesen- sowie den in Baschkortostan siedelnden Ost-Mari unterschieden. Sie leben heute ungefähr zur Hälfte in der Republik Mari El, die im Südosten an Tatarstan grenzt. Wie die Udmurten haben auch sie unter wolgabulgarischer und tatarischer Herrschaft gelebt, welche ihren traditionellen Lebensstil strukturell kaum veränderte. Vor allem die Wiesen-Mari widersetzten sich bis 1587 in den sog. „Tscheremissen-Kriegen“ der russischen Eroberung. Wie so oft bei kleinen Völkern stiftete die Erinnerung an diese militärische Erhebung, die aufgrund des hohen Blutzolls einer demographischen Katastrophe gleichkam, einen nationalen Feiertag im Gedenken an den Tod eines ihrer lokalen Fürsten.

Die beiden Zweige der Mordwinen (1989: 1.153.987, davon ca. 2/3 Erza, 1/3 Mokscha, 2002: 840.000) stehen sich sprachlich gesehen ungefähr so nahe wie Russen und Ukrainer. Ein Drittel der verstreut lebenden Erza und Mokscha lebt heute in der Republik Mordowien, die tief in russisch besiedeltes Land hineinreicht. Die am Unterlauf des Flusses Oka siedelnden finnougrischen Merja und Muroma waren lange vor der Mongolenzeit von der ostslawischen Bauernkolonisation assimiliert worden. Seit dem 11. Jh. gerieten die Erza zwischen die Fronten der Auseinandersetzungen der Ostslawen mit den Wolgabulgaren, und noch nach der Eroberung von Kasan Mitte des 16. Jh. blieb das südliche Siedlungsgebiet der Mordwinen zwischen Russen und Tataren umstritten. Erst mit der Gründung von Saransk, der heutigen Hauptstadt der Republik Mordowien, konnte 1630 die russische Herrschaft als konsolidiert gelten. Es mag an der verstreuten Siedlung der Mordwinen gelegen haben, dass sie im Gegensatz zu ihren östlichen Verwandten kaum Widerstand organisiert haben.

Einmal ins Russische Reich inkorporiert, endete für diese Völker die Gefahr der militärischen Vernichtung. Die bäuerliche finnougrische Bevölkerung blieb als nicht orthodox zunächst auch von der Leibeigenschaft verschont; gleichzeitig wurde ihnen administrativ der Zuzug in die städtischen Siedlungen verwehrt. Erst unter Pëtr I. wurden sie zu Staatsbauern erklärt, was sie jedoch nicht vor dem Los der Leibeigenschaft bewahrte. Viele von ihnen schlossen sich daher den Aufständen unter Stepan T. Razin und Emelʹjan Ivanovič Pugačev im 17. bzw. 18. Jh. an. Außerdem trugen die Mordwinen gemeinsam mit den Tataren und Tschuwaschen überproportional die Last der weiteren militärischen Eroberung Sibiriens.

Trotz des Beginns der gewaltsamen Christianisierung am Beginn des 18. Jh. erwies sich die traditionelle Kultur der finnougrischen Bevölkerung als erstaunlich resistent. Noch bei der Volkszählung von 1897 bekannten sich trotz staatlicher Oppression 7,5 % der Udmurten und 27,6 % der Mari zum Animismus, nicht zuletzt, weil es zuvor kaum Versuche gegeben hatte, in den indigenen Sprachen zu missionieren. Zu Beginn des 20. Jh. entwickelte sich eine schmale kulturelle Elite, deren „nationales Erwachen“ von der frühen sowjetischen Nationalitätenpolitik der Indigenisierung (russ. korenizacija) gefördert wurde. Diese Elite wurde jedoch im Falle der Erza, Mokscha, Mari, Udmurten und Komi durch den Terror der 1930 Jahre vernichtet. Die Marginalisierung der nationalen Sprachen in der Schule bei zunehmender kultureller und politischer Dominanz der Russen in den nationalen admini¬strativen Einheiten sorgte bis zum Ende der Sowjetunion dafür, dass die Zahl der Muttersprachler kontinuierlich abnahm.

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Nordost- und mitteleuropäische Ethnien

Um den Finnischen Meerbusen lebte um die erste nachchristliche Jahrtausendwende eine dünne ostseefinnische Bevölkerungsschicht (in der russ. Chronistik čudʹ, dt. „Tschuden“), die von den sich nach Norden ausbreitenden Ostslawen sukzessive verdrängt wurde. Hierzu zählten neben den Esten die Wepsen südöstlich des Ladogasees (1989: 12.500, 2002: 8200) und die heute nahezu ausgestorbenen Woten, die nordwestlich des Ilmensees siedelten. Nach ihnen hieß der nördliche Teil des Novgoroder Landes „Wotisches Fünftel“ (russ. vodskaja pjatina). Seit dem 11. Jh. wurden auch die nördlich des Ladogasees siedelnden Karelier (1989 in der UdSSR: 131.000, 2002 in der RF: 93.000) in den Einflussbereich Novgorods durch Tributzahlungen einbezogen. Seither lebten sie auf der Schwelle zwischen schwedisch-finnischem Katholizismus/Protestantismus und russischer Orthodoxie. Interessanterweise gibt es noch heute im Raum Tverʹ Karelier, deren Vorfahren nach dem Frieden von Stolbovo 1617, demzufolge Karelien ein Teil Schwedens wurde, aus Glaubensgründen nach Süden gezogen waren. Nachdem 1940–56 eine aus taktischen Gründen während des sowjetisch-finnischen „Winterkriegs“ errichtete Karelische Sowjetrepublik existiert hatte, leben die Karelier heute in einer autonomen Republik, in der sie aufgrund von Assimilationsprozessen und des Zuzugs von Russen nur noch gut 10 % der Bevölkerung ausmachen.

Die ursprünglichen Einwohner Ingermanlands, einer am Südufer des Finnischen Meerbusens zwischen der Newa- und der Narvamündung gelegnen Landschaft, stellten die Ingrier (1989: 800, 2002: 300), die wohl bereits im 1. Jtsd. aus Karelien zuwandert waren. Wie die Woten wurden auch sie von Novgorod aus christianisiert. Am Ende der schwedischen Herrschaft bestand die Bevölkerung v. a. aus den sog. Ingrischen Finnen (ca. 18.000), d. h. aus Finnland eingewanderten Protestanten. Von 1929–42 deportierten die sowjetischen Behörden mehr als 2/3 der finnischen Einwohner Ingermanlands und Leningrads nach Sibirien. Über 60.000 weitere Finnen, Ingrier und Woten wurden von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg nach Finnland umgesiedelt, das sie jedoch nach Kriegsende an die UdSSR auslieferte. Hier ließen sie sich nach ihrer Rückkehr aus Sibirien ab 1956 zumeist in Karelien oder Estland nieder. Im Norden Skandinaviens sowie auf der russischen Kola-Halbinsel siedeln die gut 50.000–70.000 Sami (auch: Lappen), die sich nur noch zum Teil ihre nomadische oder halbnomadische Lebensweise erhalten haben. Sie stellen die ältesten Einwohner Finnlands, seit sie um die Zeitenwende einwanderten. Später, etwa im 2. Jh. , wurden sie von den aus dem Süden heraufziehenden Vorläufern der Finnen nach Norden verdrängt. Auch die Sami sind im Laufe der Jahrhunderte Objekte von „Zivilisierungsbemühungen“ verschiedener Staaten geworden, doch ist das als folkloristisch zu bezeichnende Interesse an ihnen in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen.

Hierdurch mag ihre Kultur bewahrt oder zumindest musealisiert werden, doch dürften ihr soziales Gefüge sowie die ökonomischen Lebensbedingungen kaum wiederhergestellt werden. Die Finnen hingegen wurden im 13. Jh. von West (Schweden) und Ost (russ. Orthodoxie in Karelien) christianisiert und errichteten nach Jahrhunderten schwedischer und russischer Herrschaft als Resultat der Russischen Revolution 1917/18 einen eigenen Staat. Es mag der geographischen Randlage Finnlands (2001: 5,18 Mio. Einwohner, davon 93 % Finnen) geschuldet sein, dass es im 20. Jh. einen europäischen Sonderweg zwischen den Blöcken des Kalten Kriegs durchlief, doch bedeutete die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union 1995 nur den Vollzug längst gewachsener politischer und wirtschaftlicher Verbindungen und keineswegs eine „Rückkehr nach Europa“ – eine Metapher, die etwa das Bestreben der Esten und Ungarn bezeichnete, Aufnahme in der EU zu finden. Mit Estland (2000: 930.219 Esten in Estland, 67,9 % der Bevölkerung von 1,4 Mio.) und Ungarn (2001: 10,1 Mio., davon 97 % Ungarn, große ungarische Minderheiten leben in Rumänien, der Slowakei, Serbien, der Ukraine und Österreich) sind seit 2004 eine ehemalige Sowjetrepublik sowie eine ehemalige Volksdemokratie Vollmitglieder der EU.

Während die sprachliche Verwandtschaft der Esten mit den Finnen offensichtlich ist, können sie sich mit den Ungarn nicht verständigen. Dem Ungarischen sind die obugrischen Sprachen der Chanten und Mansen am nächsten verwandt, doch erfolgte ihre Trennung bereits vor über 2000 Jahren. Damals traten die Ungarn (Magyaren) ihren Weg nach Westen an, bis sie im 10./11. Jh. unter König István I. das Christentum annahmen und dort sesshaft wurden, wo sie bis heute leben. Damit war der ungarische Herrschaftsbildungsprozess bei weitem der früheste unter den hier betrachteten Ethnien, der zu Blüteperioden Ungarns im Mittelalter führte, bis nach der Schlacht von Mohács 1526 die Türken Budapest einnahmen. In dieser Hinsicht können die nordosteuropäischen Finnougrier nur mit dem finnischen Großfürstentum aufwarten, einer 1809 begründeten politischen Struktur, die in Personalunion vom russischen Zaren geführt wurde. Erst der Zusammenbruch des Russischen Reiches infolge der Revolution von 1917 führte zur Gründung der unabhängigen Republiken Finnland und Estland, der die Wiederbegründung eines ungarischen Staates nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns Ende 1918 folgte. Während Estland seine Unabhängigkeit bereits infolge des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 und der sowjetischen Okkupation 1940 einbüßte, wahrten Finnland und Ungarn ihre Selbständigkeit in unterschiedlicher Abhängigkeit von der Sowjetunion. Ihr Zerfall 1991 wiederum bereitete die estnische und ungarische „Rückkehr nach Europa“ vor, die 2004 mit der Aufnahme in die EU und in die NATO vollzogen wurde. Damit sind seit 2004 drei uralische Sprachen offizielle Amtssprachen der EU.

Haarmann H. 1974: Die finnisch-ugrischen Sprachen. Soziologische und politische Aspekte ihrer Entwicklung. Hamburg. Hajdú P., Domokos P. 1987: Die uralischen Sprachen und Literaturen. Hamburg. Hasselblatt C., Jääsalmi-Krüger P. (Hg.) 1999: Europa et Sibiria: Beiträge zu Sprache und Kultur der kleineren finnougrischen, samojedischen und paläosibirischen Völker. Wiesbaden. Lallukka S. 1990: The East Finnic Minorities in the Soviet Union. An Apprisal of the Erosive Trends. Helsinki. Taagepera R. 1999: The Finno-Ugric Republics and the Russian State. London.

(Karsten Brüggemann)

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