Kurland (Landschaft)

Kurland (lett. Kurzeme, poln. hist. Kurlandia, russ. hist. Kurlandija)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die historische Landschaft K. bildet heute neben Livland, Lettgallen und Semgallen eine der vier Regionen der Republik Lettland. Unter russischer Herrschaft (1795–1917) formte K. ein eigenes Gouvernement und war im Nordwesten von der Düna, im Norden von der Rigaer Bucht, im Westen von der Ostsee und im Süden von der preußischen Provinz Ostpreußen und dem russländischen Gouvernement Kovno (litau. Kaunas) begrenzt. Es bedeckte eine Fläche von 23.286 km², davon ca. 60 % Wald (Kiefern, Fichten, Birken, Eichen), ca. 10 % Seen und Moore und rd. 100 Flüsse, die alle nach Nordwesten zur Ostsee hin fließen. Die Landschaft weist ein überwiegend flaches Relief (höchste Erhebung 213 m) auf. Die zahlreichen Gewässer erzeugen ein diesiges, oft auch wechselhaftes Klima mit feuchtwarmen Sommern und feuchten, kalten Wintern. K. ist den Winden aus den nördlichen und östlichen Steppen Russlands ausgesetzt.

Die Bevölkerung umfasste gegen Ende der Kaiserzeit (1897) 674.034 Personen, davon 75,1 % Letten, 7,6 % Juden, 6,0 % Deutsche, 3,8 % Russen, 2,9 % Polen, 2,5 % Litauer, 1,8 % Weißrussen und einige Liven. Die wichtigsten Städte waren die Gouvernementshauptstadt Mitau (lett. Jelgava, 35.011 Einwohner), Bauske (Bauska, 6543), Friedrichstadt (Jaunjelgava, 5223), Goldingen (Kuldīga, 9733), Hasenpoth (Aizpute, 3338), Illuxt (Ilūkste, 2.340), Talsen (Talsi, 6215), Tuckum (Tukums, 7542), Windau (Ventspils, 7132). Die meisten Einwohner waren Mitglieder der Lutherischen Kirche (75 %). Die übrige Bevölkerung gehörte zur Römisch-Katholischen Kirche (11,1 %), zum Judentum (7,6 %) bzw. zur Russisch-Orthodoxen Kirche (3,7 %) sowie kleineren christlichen Denominationen.

Die Mitauer Ebene trennt K. in zwei Teile, von denen im 19. Jh. der westliche fruchtbar und bis auf den Norden dicht besiedelt, der östliche karger und dünn besiedelt war. Hauptanbauprodukte waren Roggen, Gerste, Hafer, Weizen, Flachs und Kartoffeln. Die Wälder boten Pilze, Beeren und Jagdtiere. Die Seen waren fischreich und wurden entsprechend genutzt. Im Übrigen spielte die Milchwirtschaft eine wichtige Rolle. Von den Flüssen waren nur drei (Düna, Lielupe, Venta) zu Flößerei und Schifffahrt geeignet. Der weitaus wichtigste Handelsweg war die Düna. Sie verband die Stadt Riga mit Wolga und Dnjepr sowie dem zentralen Hügelland Russlands und stellte so ein zentrales Bindeglied zwischen West- und Osteuropa dar. Flachs und Bernstein waren bevorzugte Handelswaren, die von Juden produziert und über die Düna in die großen Handelsstädte an der Ostsee verkauft wurden. Größere jüdische Zentren befanden sich in Dvinsk (russ., lett. Daugavpils) und Schlock (lett. Sloka, nahe Riga). Die bedeutendsten – eisfreien – Häfen für den Fernhandel waren Libau (Liepāja) und Windau. Geringere wirtschaftliche Bedeutung besaßen die ansonsten gut ausgebauten Landwege. Im 18. Jh. erlangte K. eine gewisse Reputation als Erholungsgebiet (Seebäder, Schwefelquellen, Gutshäuser).

Anfang

2 Kulturgeschichte

Als erste Einwohner K.s erscheinen in deutschen und ostslawischen Quellen des 13. Jh. die baltischsprachigen Kuren, die zwischen dem 6. und 14. Jh. im westlichen Teil des heutigen Lettland und im nordwestlichen Teil des heutigen Litauen siedelten. Sie wurden im ersten Viertel des 13. Jh. von deutschen Missionaren und dem Schwertbrüderorden christianisiert. 1237 kamen sie unter die Herrschaft des Deutschen Ordens. Das Spätmittelalter war durch zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen dem Orden, der Kirche und der lokalen Bevölkerung, aber auch zwischen dem Orden auf der einen und Litauern, der Rus und Polen auf der anderen Seite gekennzeichnet. Gleichzeitig entwickelten sich größere Städte (Mitau, Windau u. a.) mit einer vorwiegend deutschsprachigen Bevölkerung. Eine deutsche Bauernkolonisation wie etwa in Polen oder Böhmen fand jedoch nicht statt.

Nach dem Zusammenbruch der Ordensherrschaft unter dem letzten livländischen Ordensmeister Gotthard Kettler (1559–61) erlangte K. als einziges Restterritorium des Ordens eine relative Unabhängigkeit. Mit den ›Pacta subiectionis‹ (1561) entstand ein Herzogtum K. und Semgallen unter der Oberhoheit des Königs von Polen. Diese zunächst nur auf der persönlichen Unterwerfung Kettlers beruhende Übereinkunft erhielt 1569, als K. in den Unionsvertrag zwischen Polen und Litauen einbezogen wurde, eine staatsrechtliche Fundierung. Die kurländischen Stände genossen das Privileg der freien Religionsausübung nach dem Augsburger Bekenntnis, das Recht auf eine deutsche Obrigkeit, die Beibehaltung deutscher Rechte und das Indigenat.

Das 17. Jh. war durch einen Konflikt zwischen dem nach absolutistischer Herrschaft strebenden Herzog und dem auf ständischer Freiheit bestehenden kurländischen Adel bestimmt. Die kurländischen Herzöge folgten dem Beispiel europäischer absolutistischer Herrscher, indem sie die mittelalterliche Ständeordnung unterliefen, eine staatlich gelenkte Wirtschafts- und Finanzpolitik betrieben und die Allianz mit den nichtadligen Bevölkerungsgruppen suchten. Der Adel hatte mit dem ›Privilegium Gotthardinum‹ von 1570 zwar weit reichende Hoheitsrechte auf seinen Gütern erhalten. Gleichzeitig aber verwandelte Herzog Jakob Kettler (1642–81) die kurländische Ritterschaft mit der Einführung einer strikten Rangordnung von einem dem Herzog frei gegenüberstehenden Geblüts – in einen dem Herzog hörigen Dienstadel.

Zudem war er bemüht, die eigenen Machtansprüche durch eine merkantilistische Handels- und Kolonialpolitik zu untermauern, und ließ zahlreiche Manufakturen für Textilien und Luxuswaren einrichten. Vom Produktionsertrag sicherte sich der Herzog einen bedeutenden Teil durch Steuern und Zölle. Eine weitere wichtige Einnahmequelle war der Außenhandel, der hauptsächlich über Windau, zu einem kleineren Teil auch über Libau ging. Dabei reihte sich K. auch in den Kreis der Kolonialstaaten ein. 1651 gründete Herzog Jakob die erste europäische Kolonie in Gambia, 1654 die Kolonie ›Neu K.‹ auf Tobago. Diese Politik konnte von Jakobs Sohn, Friedrich Kasimir (1682–98), nur teilweise fortgeführt werden. Einer der Auslöser für den wirtschaftlichen Niedergang K.s war der Nordische Krieg zwischen Moskau, Polen-Litauen und Schweden (1654–67) um die ostbaltischen Handelsplätze. Er brachte K. den Verlust ›Neu-K.s‹ an die Niederländer (1659) und Gambias an Großbritannien (1661). Außerdem wurde ein Großteil des herzoglichen Vermögens in kostspieligen Repräsentationsbauten gebunden.

Nachdem Russland zu Beginn des 18. Jh. die Herrschaft über das Ostbaltikum errungen hatte, geriet K. in politische Abhängigkeit vom Zarenreich. Im Innern verschoben durch die Politik Russlands hervorgerufene dynastische Krisen und Interregna in den 1740er und 1750er Jahren das politische Schwergewicht zugunsten des Adels. Insgesamt war das 18. Jh. eine Zeit des politischen Niedergangs, der sich durch einen Verlust an politischer Initiative, sozioökonomische Krisen und die Zunahme einer bereits im 16. und 17. Jh. vorhandenen, jetzt aber offen zu Tage tretenden Judenfeindschaft zeigte.

1795 gelangte K. im Zuge der Dritten Teilung Polen-Litauens unter russische Herrschaft, wo es bis 1917 eine der drei privilegierten „Ostseeprovinzen“ bildete und deren politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen mitmachte. 1817 übernahm der Landtag die estländischen Regelungen zur Abschaffung der Leibeigenschaft. Ein Gesetz von 1863 erlaubte den Letten – der Mehrheit der kurländischen Bevölkerung –, die bisherigen Pacht- und Fronhöfe eigenbesitzlich zu erwerben. Viele kurländische Letten blieben jedoch landlos und verdingten sich als ländliche Lohnarbeiter. Auf den größeren Gütern führte der Einsatz moderner landwirtschaftlicher Techniken zu einer Erhöhung der Agrarproduktion. Libau und Mitau entwickelten sich im 19. Jh. zu wichtigen Industriezentren (Gerberei, Eisen-, Glas- und Seifenwerke). Daneben spielten der Kalk- und Bernsteinabbau an der Küste eine zentrale Rolle.

Der Erste Weltkrieg, die russischen Revolutionen von 1917 und die russische bzw. deutsche Niederlage führten 1918 zur Proklamation eines unabhängigen Staates, der die Letten Livlands, K.s und Lettgallens im Freistaat Lettland vereinigte. Hier bildete K. bis 1939 K. eine eigenständige Provinz. Nach der Besetzung Lettlands durch sowjetische Truppen 1940 wurde K. größtenteils zum Gebiet Liepāja der Sowjetrepublik Lettland geschlagen. Die deutsche Besatzungsmacht (1941–44/45) stilisierte K. zum Symbol des Widerstands der deutschen Wehrmacht gegen den sowjetischen Vormarsch nach Westen („K.-Kessel“ 1944/45). Mit der erneuten sowjetischen Besetzung 1944/45 wurde K. in die Lettische SSR (1944–91) inkorporiert. Die Unabhängigkeit Lettlands 1991 machte K. erneut zu einer Provinz der Republik Lettland, wobei jetzt jedoch ein erheblicher Anteil der Bevölkerung russischsprachig war.

Berkis A. V. 1969: The history of the Duchy of Courland (1561-1795). Towson. Loit A. (Hg.) 1985: National movements in the Baltic countries during the 19th century. The 7th conference on Baltic studies in Scandinavia; Stockholm, June 10-13, 1983, Stockholm (= Studia Baltica Stockholmiensia 2). Misāns I., Oberländer E. (Hg.) 1993/2001: Das Herzogtum K. 1561-1795. Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft, 2 Bde. Lüneburg.

(Ralph Tuchtenhagen)

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