Odessa (Stadt)

Odessa (russ. [hist.] O., ukrain. Odesa)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Lage und Administration

O. liegt auf 64 m ü. d. M. am Südrand der gleichnamigen Schwarzmeerbucht, die halbkreisförmig 4,5 km in das Festland einschneidet und ca. 9 km lang ist. Die Stadtfläche beträgt 163 km². Das Zentrum der Stadt befindet sich auf einer von Senken unterbrochenen Hochebene. Daran schließen sich nördlich die Hafenanlagen sowie die Unterstadt Peresyp an. Die 60–70 m hohe Steppentafel, auf der das historische Stadtzentrum liegt, bricht südlich der Stadt in steilen, bis zu 40 m hohen Klippen zur See ab. Am Südrand bilden diese das Kap ›Velykyj Fontan‹. Die Durchschnittstemperatur beträgt im Januar –1,5 °C und im Juli 21,5 °C; die durchschnittliche Niederschlagsmenge beläuft sich auf 469 mm im Jahr. O. ist seit 1932 Hauptstadt des gleichnamigen Gebiets (Odesʹka oblastʹ), der mit 33.300 km² größten derartigen Verwaltungseinheit der Ukraine.

Bevölkerung

1990 übertraf die Sterblichkeitsrate erstmals den natürlichen Bevölkerungszuwachs. Die rückläufige demographische Entwicklung war v. a. auf Abwanderung sowie die sozioökonomische Krise der 1990er Jahre zurückzuführen. In der Stadt hält sich eine große Zahl an Arbeitsmigranten auf, so dass die tatsächliche Bevölkerungszahl heute über der offiziellen Zahl (2006: 1.001.000) liegen dürfte. 1989 lebten in O. u. a. 48,9 % Ukrainer, 39,4 % Russen, 5,9 % Juden, 1,5 % Bulgaren sowie etwa je 1% Moldauer und Weißrussen. 2001 lag der Anteil der Ukrainer bei 61,6 %, gefolgt von den Russen (29,0 %), Bulgaren (1,3 %), Juden (1,2 %), Moldauern (0,7 %), Weißrussen (0,6 %), Armeniern (0,4 %) und Polen (0,2 %). Häufig wird auf Ämtern und bei offiziellen Anlässen die ukrainische Sprache bevorzugt, während in den Restaurants, Geschäften und Büros des Stadtzentrums das Russische dominiert. Auch die Mehrzahl der periodisch erscheinenden Druckerzeugnisse erscheint in russischer Sprache. Die bulgarische und die jüdische Minderheit verfügen über eigene Blätter.

Von den traditionellen religiösen Gruppierungen sind in O. neben der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche, die Römisch–Katholische Kirche, die Armenische Apostolische Kirche, zwei jüdische Denominationen sowie der Islam vertreten. Außerdem existieren kleine, aber lebendige Gemeinden meist englischsprachiger Reformierter und vorwiegend deutschsprachiger Lutheraner. Die Rückkehr religiösen Lebens verkörperte die 1999 erfolgte Grundsteinlegung für die Wiedererrichtung der 1936 abgetragenen „Erlöser-Verklärungskathedrale“ (ukrain. Spaso-Preobraženskyj Sobor), einer der ältesten Kirchen der Stadt. Von der Vielfalt des nationalen und religiösen Leben im heutigen O. zeugen u. a. der Neubau einer armenischen Kirche, das bulgarische Kulturzentrum, das Museum des griechischen Kulturfonds, das Bayrische Haus (Bavars’kyj dim), eine prachtvolle Moschee sowie mehrere jüdische Gemeindezentren.

Wirtschaft und Verkehr

O. ist der größte Seehafen (2001: 28,6 Mio. t Umschlag) sowie ein bedeutendes Industrie– und Handelszentrum der Ukraine. Seit 1999 fungiert ein Teil des Hafengeländes als erste Freihandelszone der Ukraine. In O. enden Ölpipelines von strategischer Bedeutung für Westeuropa sowie die Russische Föderation. O. gehört daher zu wichtigsten Verkehrsknotenpunkten der südlichen Ukraine, auch für den Auto- (in der Stadt befinden sich sieben Fernbusbahnhöfe) und Bahnverkehr. Sieben Kilometer außerhalb O.s entstand einer der größten Freiluftmärkte der postsowjetischen Welt. Zu den wichtigsten Industrien in O. zählen neben der Lebensmittelerzeugung und –veredelung die Erdölchemie sowie Metallverarbeitung und Maschinenbau.

Bildung und Kultur

Während einer Dekade komplexer Umstrukturierungen der Hochschullandschaft kam es nach 1991 zu Aufwertungen ehemaliger Universitätsfakultäten oder Institute. Neben maritimen und medizinischen Einrichtungen wurde 1997 eine juristische Akademie gegründet. Bereits 1995 hatte eine Filiale der Ukrainischen Akademie der Verwaltungswissenschaften ihre Tore geöffnet. Größte und traditionsreichste Universität der Stadt ist die 1865 gegründete, heutige ›Odesʹkyj Nacionalʹnyj Universytet im. I. I. Mečnykova‹ („Nationale I. I.–Mečnykov–Universität“). Etwa 14.500 Immatrikulierte nutzen zur Zeit ihr Lehrangebot, das von mehreren geistes- und naturwissenschaftlichen Untergliederungen sowie seit 1997 auch von einer ökonomisch-juristischen Fakultät angeboten wird. Etwa 13.000 Studenten sind an der Polytechnischen Hochschule eingeschrieben. Auffällig ist die Überalterung des akademischen Lehrpersonals. Außerdem macht sich die Emigration der fähigsten Köpfe bemerkbar. Trotz des Verlusts Tausender Bände im Zweiten Weltkrieg stellen die Sammlungen der Universitäts– sowie der Gorki-Bibliothek die bedeutendsten Einrichtungen ihrer Art dar. Das von der Akademie der Wissenschaften getragene Archäologische Museum, das Museum der Bildenden Künste, das stadthistorische sowie das Literaturmuseum besitzen überregionale Bedeutung. Großer Beliebtheit erfreuen sich Blätter wie ›Večernjaja O.‹ („Abendliches O.“), ›Čornomorski Novyny‹ („Schwarzmeernachrichten“) sowie ›Jug‹ („Süden“), die bereits vor 1991 unter anderen Namen erschienen. Bemerkenswerte Beiträge zur Regionalgeschichte erscheinen in Periodika mit geringer Auflage, wie ›Deribasovskaja–Rišelʹevskaja. Odesskij Alʹmanach‹ („De–Ribasov–Richelieu[straße]. O.er Almanach“).

Der architektonische Reiz des Stadtzentrums besteht in seiner nahezu geschlossen erhaltenen Bebauung aus dem 19. Jh., die v. a. vom seinerzeitigen Boom des neoklassischen sowie des Jugendstils zeugt. Dabei stechen das 1883–87 im Stile der italienischen Renaissance sowie des Neobarock errichtete Opernhaus und die 1894–99 gebaute Neue Börse (heute O.er Philharmonie) heraus.

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2 Kulturgeschichte

O., zunächst als militärischer Stützpunkt im Zuge der Erlangung der nördlichen Schwarzmeerküste durch das Russische Reich unter Zarin Katharina II. (1762–96) befestigt, bedurfte für seinen Aufstieg als Handelsplatz stabiler Herrschaftsverhältnisse sowie des ungehinderten Zugangs zum Überseehandel. Beide Faktoren hatten bereits seit der Antike über das Schicksal der Küstenregion zwischen Donau und Krim entschieden. Die vorteilhafte Kombination ökonomischer und politischer Konstellationen am Ende des 18. Jh. erlaubte das schnelle Wachstum der jungen Stadt, die sich binnen weniger Jahrzehnte zum südlichen Hauptumschlagplatz des Zarenreiches entwickelte. Der auf das Osmanische Reich ausgeübte militärische Druck öffnete das Schwarze Meer für internationale Handelsströme. Die napoleonische Kontinentalsperre begünstigte die Orientierung vieler italienischer und französischer Händler in Richtung Schwarzes Meer.

Der neugegründete Hafen besaß für Zarin Katharina II. strategische Bedeutung. Der Legende nach soll sie persönlich auf einer weiblichen Namensform für die Kolonie bestanden haben. Sie war es auch, die Don José de Ribas (1749–1800), russischer Vizeadmiral spanischer Herkunft und Eroberer des auf dem späteren Stadtgebiet gelegenen osmanischen Forts Hacıbey (russ. Chadžibej), mit Geldmitteln für den Bau von Hafen, Admiralität, Warenhäusern, Hospital, Kathedrale und Büros ausstattete. Unter der Leitung von de Ribas und Frans de Wollant (1752–1818), einem holländischen Ingenieur, errichtete man erste Hafenanlagen und entwarf ein modernes gitternetzartiges Bebauungsschema.

Der Tag des Beginns der Bauarbeiten am 22.8.[2.9.]1794 wurde fortan als Gründungsdatum begangen. Die bedeutendste Stadtgründung Katharinas II. zog bald Einwanderer heterogener Herkunft an. In einer seltenen Ausnahme hatte die Zarin kurz vor ihrem Tode 1796 die Niederlassung entflohener Leibeigener in den Gouvernements der Schwarzmeerküste legalisiert. Albanische und griechische Veteranen der Kriege gegen das Osmanische Reich ließen sich hier neben methodistischen Kolonisten nieder. Wie Einwanderer aus der Schweiz und Portugal suchten auch Armenier, Serben, Bulgaren sowie andere Untertanen des Sultans ihr Heil in O. Religiöse Toleranz, steuerliche Erleichterungen für Neusiedler und Großkaufleute sowie die Duldung illegaler Immigration verhalfen der Stadt zu ihrer besonderen Physiognomie.

Alexander I. (1801–25) führte die Politik seiner Großmutter fort. Anfang 1803 setzte er den 36jährigen Emigranten Armand Emanuel du Plessis, Duc de Richelieu (1766–1822), einen Großneffen des gleichnamigen französischen Kardinals als Stadthauptmann ein. Die Ernennung der Stadthauptleute lag bis 1917 in den Händen Petersburgs, was als Beleg für die Wichtigkeit der Stadt gelten kann. De Richelieu, der von 1805–14 auch als ziviler Generalgouverneur der Schwarzmeergouvernements Taurien, Cherson und Ekaterinoslav (heute Dnipropetrovsʹk) – auch Neurussland (russ. Novorossija) genannt – fungierte, erwies sich als fähiger Administrator und verbuchte innerhalb kurzer Zeit bemerkenswerte Erfolge.

Das 1817 gegründete ›Lycée de Richelieu‹, die Keimzelle der 1865 eröffneten „Neurussischen Universität“ (russ. Novorossijskij Universitet), ging auf seine Anregung zurück. 1887 öffnete ein neues Opernhaus – projektiert durch das Wiener Büro Fellner & Hellmer – seine Pforten. Es ersetzte das 1873 abgebrannte Stadttheater, das 1803–10 errichtet worden war. Den Opern Rossinis, die hier zur Aufführung gekommen waren, hatte u. a. Alexander Puschkin (1799–1837) gelauscht, der wie Adam Mickiewicz (1798–1855) nach O. verbannt worden war.

Da eine nennenswerte Industrialisierung O.s vergleichsweise spät erfolgte, blieb die wachsende Einwohnerschaft auf die Erlöse aus kaufmännischen Transaktionen angewiesen. Bis gegen Ende des 19. Jh. wurde v. a. Getreide über O. nach Westeuropa verschifft. Politische wie ökologische Krisen führten regelmäßig zum Erlahmen der Wirtschaft, die sich das gesamte 19. Jh. über in Abhängigkeit vom Weltgetreidemarkt befand. Neben der Einrichtung einer Handelsbank und eines Handelsgerichtshofes hatte einer der größten Erfolge de Richelieus darin bestanden, dass Stadt und Hafen zwischen 1819–58 zur Freihandelszone erklärt wurden. Die Zunahme der Exporte über den Hafen von O. trotz russisch–osmanischer Auseinandersetzungen sowie der Pestepidemie 1812 verdeutlicht den Erfolg de Richelieus als des eigentlichen Gründers der Stadt.

Belief sich der Wert der Ausfuhren über See 1804 noch auf rd. 2,4 Mio. Rubel, war er bis 1813 auf fast 8,7 Mio. Rubel angewachsen. Die Politik der Generalgouverneure Graf Aleksandr Fëdorovič Lanžeron (1815–22), Fürst Michail S. Voroncov (1823–54), Graf Aleksandr Grigorʹevič Stroganov (1855–62) und Graf Pavel Evstafʹevič Kocebu (1862–74) förderte Binnen– wie Außenhandel und war bemüht, naturräumliche Nachteile der Topographie O.s wie fehlende Süßwasserreserven und periphere Lage auszugleichen. Zu den entsprechenden Maßnahmen zählten die Straßenpflasterung (1862–95) und –beleuchtung (1811–66, ab 1880 elektrisch), die Anlage von Wasserleitung (1874) und Kanalisation (1877) sowie die Anbindung der Stadt an das russländische Telegraphen– und Eisenbahnnetz (1865). Die zwischen 1837 und 1841 errichtete Potëmkinsche (ursprünglich Richelieu-) Treppe verbindet bis heute Hafen und Stadtzentrum. Sergej M. Ėjzenštejns Verfilmung der revolutionären Ereignisse von 1905 („Panzerkreuzer Potëmkin“, russ. Bronenosec Potëmkin, 1925) verleibte sie dem ikonographischen Arsenal der Schauplätze der Moderne ein.

Ab 1827 gab die Kanzlei des Generalgouverneurs den „O.er Boten“ (russ. Odesskij Vestnik) heraus. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wandelte sich das Blatt in ein Organ des Lyzeums und galt bald als eine der kritischsten Zeitungen des Reichs.

Nachdem O. zwischen 1795 und 1815 von 2.345 auf rd. 35.000 Einwohner gewachsen war, verdreifachte sich diese Zahl bis 1861 noch einmal auf rd. 116.000. Hatte die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate zunächst über 14 % gelegen, fiel sie bis 1861 auf 2,6 %, um bis 1914 wieder auf 3,2 % zu steigen, als in O. rd. 630.000 Menschen lebten. Die rapide demographische Expansion der Stadt verdankte sich v. a. der ökonomischen Finesse der Bewohner. Die Funktion innovativer Unternehmer übernahmen v. a. ethnokonfessionelle Diasporagruppen wie Griechen, Juden, Armenier und Deutsche. Im Getreideexport verfügten griechische Firmen bis etwa 1860 über ein Monopol. Ihre Kontakte in der gesamten Mittelmeerwelt sowie mit Westeuropa erwiesen sich dabei als äußerst nützlich. Bald gelang es jüdischen Unternehmern, im Klein– und Zwischenhandel aufzusteigen. Dies verschärfte den Wettbewerb im Getreidehandel und schmälerte die nach dem Krimkrieg (1853–56) ohnehin getrübten Profitaussichten, so dass einige Handelshäuser nach Mykolajiv oder Cherson auswichen. Dieser ökonomische Schwenk begründete auch den Reichtum Grigorij G. Marazlis (1831–1905). Als Stadtrat, Bürgermeister (1879–95) und kunstliebender sowie wohltätiger Mäzenat prägte der Spross einer griechischen Handelsfamilie die Stadtpolitik im ausgehenden 19. Jh.

Eine kleine Gruppierung innerhalb der jüdischen Ober– und Mittelschichten stammte von Einwanderern aus Galizien ab. Im Gegensatz dazu wanderte die Mehrzahl der mittellosen Handwerker und Trödler der Stadtrandbezirke aus den dicht besiedelten Flecken der ukrainischen Gouvernements Podolien und Kiew ein. Die kulturelle Elite des städtischen Judentums drängte auf schrittweise Reformen von Kultus und Schule nach zentraleuropäischem Vorbild. Der größte Teil der Unterschichten war sozialen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen, verhielt sich aber unpolitisch. Erst die Pogromereignisse des Jahres 1881 stellten in dieser Hinsicht einen Wendepunkt dar. Der auf die sozialen und intellektuellen Potenzen der russländischen Gesellschaft setzende liberale Fortschrittsglaube schien nun gegenüber sozialistischen und zionistischen Ideen ins Hintertreffen zu geraten.

O.s Bedeutung als Vorreiter der Akkulturation (1841: erste Choralsynagoge im Russischen Reich, 1867: erste Filiale der „Vereinigung zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland“ (Obščestvo dlja rasprostranenija prosveščenija meždu evrejami v Rossii) wie auch sein Glanz als Druckort von Blättern wie ›Ha-Melits‹ (jidd.; „Der Fürsprecher“, 1860), ›Rassvet‹ (russ.; „Morgendämmerung“, 1860–61), ›Sion‹ (russ.; 1861–62), ›Kol mevaser‹ (jidd.; „Kündende Stimme“, 1862), ›Denʹ‹ (russ.; „Der Tag“, 1869–71) schienen zu verblassen. Nur der Mythos vom sozialen Aufstieg hörte nicht auf, jüdische wie christliche Einwanderer anzuziehen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung gab 1897 russisch, rund ein Drittel jiddisch als Muttersprache an. Ukrainisch (5,7 %), Polnisch (4,5 %), Deutsch (2,6 %) und Griechisch (1,3 %) folgten mit deutlichem Abstand.

Liberalen Blättern wie ›Odesskie Novosti‹ (ab 1884) und ›Odesskij Listok‹ („O.er Blatt“, ab 1872) gelang es, ihre gemeinsame Auflage zwischen 1895 und 1917 von 19.000 auf 54.000 Exemplare zu steigern, während der 1869 gegründete konservativere „Neurussländische Telegraph“ (Novorossijskij Telegraf) 1900 schließen musste. Dem progressiven Meinungsklima erwuchs in Teilen der lokalen Elite eine Gegenströmung, die u. a. durch Antisemitismus geeint wurde. Fielen soziale Konflikte und politische Krisen zusammen, kam es unversehens zu antijüdischen Ausschreitungen, die v. a. von ungelernten Arbeitern ausgingen und auf offenen Beifall von Reaktionären rechnen durften. Dieses Muster durfte ab 1881 als etabliert gelten, nachdem 1821, 1859 und 1871 griechisch–jüdische Reibereien die Pogrome ausgelöst hatten.

Hatte O. im zweiten Drittel des 19. Jh. v. a. jüdische Liberale, wie den Journalisten Osip A. Rabinovič (1817–69), den Arzt Leon Pinsker (1821–91), den Schriftsteller Solomon M. Abramovič (1836–1917) oder den Anwalt Michail G. Morgulis (1837–1913) angezogen, etablierte sich um 1900 ein nationaljüdischer Gesprächskreis, dem der Historiker Simon Dubnow (1860–1941), der Publizist Ašer Ginzberg (1856–1927), sowie der Poet Ḥayyim Naḥman Bialik (1873–1934) angehörten. Das von Michael Usiškin (1863–1941) und Zeʾev Jabotinsky (1880–1940) unterstützte O.er Komitee koordinierte die zionistische Hilfe für Palästina, wohin ab 1903 einige Tausend russländische Juden über O. auswanderten.

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Während der Revolution von 1905 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Anhängern des Ancien Régime. In einer Periode anhaltender Streiks lief der Panzerkreuzer ›Potëmkin‹ den Hafen an. Die meuternde Besatzung verwüstete den Hafen. Der Verkündung des Oktobermanifests folgte ein Pogrom, dem über 300 Tote zum Opfer fielen. Gelehrte von Rang, wie der deutschbaltische Althistoriker Ernst von Stern (1859–1924) kehrten O. den Rücken, da Universitätsämter zunehmend mit russischen Nationalisten besetzt wurden.

Die nach 1907 einsetzende bescheidene ökonomische Erholung dauerte nur bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Kriegskonjunktur, die v. a. die Metallindustrie erfasste, glich die wachsende Verarmung der Bevölkerung nur teilweise aus. Der Kriegseintritt Rumäniens führte ab 1916 zu einer Konzentration diverser Armeeeinheiten in der Stadt. Neben Sewastopol wurde O. Hauptstützpunkt der Schwarzmeerflotte. Die Nachricht vom Sturz des Zaren führte in O. zur Entstehung mehrerer Machtzentren. Nach den Oktoberereignissen in St. Petersburg (damals: Petrograd) kam es zu einem militärischen Patt zwischen der vorwiegend mit ukrainischen Rekruten besetzten Garnison, deren Kommandant zur Kiewer Zentralrada hielt und dem Soldatenrat, der Lenins Kurs zuneigte.

Die Anfang August 1917 in freien Wahlen bestimmte Stadtduma spielte bereits wenige Monate später keine Rolle mehr. Mitte Januar 1918 konnte in O. vorübergehend die Sowjetmacht proklamiert werden, bevor seit März Truppen der Mittelmächte die Stadt kontrollierten. Ende 1918 landete ein Expeditionskorps französischer, britischer und griechischer Truppen. Lokale Anhänger von General Anton I. Denikin (1872–1947) übernahmen die Zivilverwaltung. Im August 1919 lösten Denikins Einheiten die nach dem alliierten Rückzug im April etablierte Herrschaft Ataman Nykyfor Oleksandrovyč Hryhorʹjevs (1878–1919) ab. Seit Februar 1920 war O. endgültig in sowjetischer Hand.

Die Wirren des Bürgerkriegs sowie die Hungersnot 1920–21 veranlassten viele Stadtbewohner zur Flucht, so dass sich die Einwohnerzahl halbierte. Durch den forcierten Aufbau der Metallindustrie und die Politik der sowjetischen Ukrainisierung wandelte sich das Gesicht der Stadt. Die Ukrainer (17,4 %) stellten einen wachsenden Anteil der Einwohnerschaft, lagen aber weiter hinter Russen (38,7 %) und Juden (36,5 %). Polen (2,4 %) und Deutsche (1,3 %) zählten zu den Minderheiten. Unter den bedeutendsten russischen Literaten des 20. Jh. stammten mehrere aus O., wie bspw. Anna A. Achmatova (1889–1966), Isaak Ė. Babelʹ (1894–1940), Ilʹja Ilʹf (1897–1937), Evgenij P. Petrov (1902–42). In O. wurden zwei der bekanntesten sowjetischen Musiker geboren: der Geiger David F. Oistrach (1908–74) sowie der „Vater des sowjetischen Jazz“ Leonid O. Utësov (1895–1982).

Im Zweiten Weltkrieg wurde O. von rumänischen Truppen mit deutscher Hilfe belagert (5.8.–16.10.1941) und besetzt. Als ›Gubernator‹ des Rumänien am 30.8.1941 in der Konvention von Tighina (heute mold./russ. Bendery) zuerkannten Transnistrien ernannte ›Conducător‹ Ion Antonescu (1882–1946) den Verfassungsrechtler Gheorghe Alexianu (1897–1946). Bürgermeister von O. wurde der 1894 geborene Bessarabier Gherman Pântea. Valentin P. Kataev (1897–1986) verarbeitete später die Besatzungszeit in seinem Roman ›Za vlastʹ sovetov‹ (russ., dt. In den Katakomben von O.). Der in Tunneln betriebene Kalksteinabbau hatte seit dem 19. Jh. ein verzweigtes System unterirdischer Gänge entstehen lassen, das sowjetischen Partisanen als Rückzugsgebiet diente. Der rd. 7000 Mann starke „Selbstschutz“ der deutschen Minderheit beteiligte sich u. a. am Judenmord. Beim einzigen Widerstandsakt von Bedeutung wurde am 22.10.1941 das militärische Hauptquartier der Rumänen durch eine Explosion zerstört. Dem daraufhin einsetzenden Straßenterror fiel etwa ein Fünftel der zu diesem Zeitpunkt etwa 90.000 Juden zum Opfer. Die Überlebenden wurden in Arbeitslager deportiert. Ab Ende 1942 ließ man materielle Hilfe für die Lagerinsassen zu. Am 10.4.1944 setzte die Rote Armee der Okkupation ein Ende.

Mit dem Neuaufbau öffentlicher Gebäuden, Prozessen gegen Kollaborateure sowie Aushebungen für die westwärts rückende Front begann erneut der sowjetische Alltag. Nikita Chruschtschow (1894–1971) und Rodion Ja. Malinovskij (1898–1967), der militärische Befreier O.s, riefen auf einer Kundgebung am 23.4.1944 zu zügigem Neubeginn auf. Bis Ende 1945 nahmen Schulen und Theater, Oper und Universität sowie der Hafen ihren Betrieb wieder auf. V. a. ukrainische Binnenmigranten bezogen die seit Ende der 1950er Jahre errichteten Neubauquartiere am Stadtrand. Das Bevölkerungswachstum fiel nach dem Zweiten Weltkrieg dennoch hinter Donecʹk und Dnipropetrovsʹk zurück. O. galt als ein Zentrum der Refusenik–Bewegung sowjetischer Juden. Über den Hafen hielt die Dissidenten– und Künstlerszene Kontakt mit dem Ausland.

Die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vom 24.9.1991 veränderte das Sozial– und Wirtschaftslebens in O. grundlegend. Die Preisfreigabe, die Umstrukturierung der politischen Ordnung, der Statusverlust der russischen Sprache sowie Privatisierungs– und Restitutionsansprüche sorgten bald für sozialen Zündstoff. Hinter dem Wunsch nach lokaler Autonomie verbarg sich in O. die Sorge, Kiew würde Fachkräfte und Ressourcen abziehen und die Stadt wirtschaftlich und kulturell marginalisieren. Zwischen Gebietsadministration und Stadtrat schwelt seit Mitte der 1990er Jahre ein Dauerkonflikt, der sich, von Haushaltsfragen ausgehend, lähmend auf das regionale politische Gefüge auswirkte und eine personelle Zuspitzung durch die Querelen um die städtische Bürgermeisterwahl von 1998 erfuhr. 2005 kehrte der seinerzeit um den Wahlsieg gebrachte Eduard Josypovyč Gurvic (*1948) in sein Amt zurück.

Hausmann G. 1998: Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865–1917. Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie des Zarenreiches. Stuttgart. Herlihy P. 1986: Odessa. A History 1794–1914. Cambridge, Mass. Iljine N. (Hg.) 2003: Odessa Memories. Seattle, Wa. Stanko V. N. (Hg.) 2002: Istorija Odesy. Odesa. Vassilikou M. 2002: Greeks and Jews in Salonika and Odessa: Inter–ethnic Relations in Cosmopolitan Port Cities. Cesarani D. (Hg.): Port Jews. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550–1950. London, 155–172 (=Jewish Culture and History 4,2). Zipperstein St. J. 1986: The Jews of Odessa. A Cultural History, 1794–1881. Stanford, Calif.

(Alexis Hofmeister)

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