Großmährisches Reich

Großmährisches Reich (auch: Großmähren)

Der Begriff „G. R.“ wird auf den byzantinischen Kaiser Kōnstantinos VII. Porphyrogennētos (913-59) zurückgeführt, der in seiner ›De administrando imperio‹ genannten politischen Denkschrift von einer ›megalē Morabia‹ spricht. Die lateinischen Quellen kennen den Begriff ›Merehani‹ und ›Marharii‹ die slawischen ›Vyšnjaja Morava‹.

Die geographische Lage des G. R. wurde in den letzten Jahrzehnten kontrovers diskutiert: Nach der herrschenden Meinung befand sich der Kern des Reiches im Gebiet des heutigen Südmähren an der March (slowak./tschech. Morava), wozu die Gegend um Nitra kam. In seiner größten Ausdehnung umfasste das G. R. demnach vermutlich ein Territorium von der Theiß über den Plattensee (ungar. Balaton) bis zur Saale und Lausitz sowie bis zum Oberlauf von Weichsel und Oder. Seit Ende der 1960er Jahre wird jedoch auch eine Lokalisierung am Fluss Morava (Serbien) und in Obermösien mit dem Zentrum in Sirmium (serb. Sremska Mitrovica) bzw. in der ungarischen Tiefebene um das Gebiet von Csanád (rumän. Cenad) diskutiert (I. Boba, M. Eggers u. a.).

Das Gebiet des G. R. wurde nach dem Abzug der Langobarden Anfang des 6. Jh. n. Chr. von Slawen besiedelt, die bald unter die Herrschaft der seit 568 im pannonischen Becken siedelnden Awaren kamen, deren Macht erst von Karl dem Großen (791–96 bzw. 803) vernichtet wurde. Bereits unter awarischer Herrschaft begann sich das Gebiet wirtschaftlich und sozial zu entwickeln. Die besiedelte Fläche und die Zahl und Ausdehnung der befestigten Zentren im Gebiet der Morava vergrößerte sich seit dem Ende des 8. Jh. merklich.

Die Anfänge der mährischen Herrschaftsbildung sind unklar. Als erstes Herrschaftsgebilde ist das Gebiet von Nitra (Westslowakei) in den Quellen nachweisbar, das von Fürst Pribina beherrscht wurde. Er ließ 828/830 die erste bekannte Kirche vom Salzburger Erzbischof Adalram weihen, noch bevor er selbst getauft war. Etwa um 833 vertrieb der mährische Fürst Mojmír I. (830–46) Fürst Pribina und vereinigt dessen Territorium mit seinem eigenen.

Das Geschlecht der „Mojmiriden“ beherrschte darauf Großmähren bis zu dessen Untergang 907. Mojmír I. Herrschaft bleibt im Dunklen. Sein von Ludwig dem Deutschen eingesetzter Neffe Rostislav (ab 846) konnte seine Herrschaft konsolidieren und begann mit der systematischen Christianisierung der Mährer. Die zunehmende Stärke des G. R. brachte Rostislav in einen ständigen Konflikt mit dem westlichen Nachbarn, der zunächst damit endete, dass Rostislav 870 entthront, geblendet und in ein Kloster verbannt wurde. Durch eine List gelang es seinem Neffen Svatopluk I. ( bis 894), die Herrschaft zu erlangen, die er konsequent weiter ausbaute und sicherte, indem er eine Politik der Nähe und bewaffneten Distanz zum ostfränkischen Reich und zum bayerischen Nachbarn betrieb.

Nach Svatopluks Tod 894 begann die Macht der Mojmíriden unter dem Eindruck von innerdynastischen Streitigkeiten und dem Einfall der von König Arnulf herbeigerufenen Ungarn 896 zu schwinden. In der Folge lösten sich die umliegenden unterworfenen Stämme aus dem großmährischen Herrschaftsverbund und wurden unabhängig oder unterwarfen sich der ostfränkischen Herrschaft, wie 895 die tschechischen Fürsten in Regensburg. Nach dem Tode Arnulfs 899 konnte Mojmír II. seine Herrschaft für kurze Zeit stabilisieren, doch bereits 907 muss das G. R. nach weiteren Angriffen der Ungarn als untergegangen gelten.

Die Christianisierung G. wurde bis in die 860er Jahre hinein von verschiedenen Gebieten aus – die ›Vita Methodei‹ nennt Italien, Frankenreich und Byzanz – vorangetrieben. Um die Christianisierung und die Unabhängigkeit der mährischen Kirche vorzubereiten, wandte sich Rostislav 863 an Kaiser Michaēl III. (839-67) mit der Bitte um geeignete Lehrer, woraufhin dieser die Brüder Konstantin/Kyrill und Method nach G. entsandte. Um 873 wurde Method unter nicht ganz klaren Umständen vom Papst zum Erzbischof von Mähren ernannt. Als Suffraganbistum ist namentlich nur Nitra bekannt, das von dem fränkischen Priester Wiching verwaltet wurde. Nach Methods Tod 885 verwirrten sich die kirchlichen Verhältnisse Mährens, bis Papst Johannes IX. die Provinz neu organisierte. Ein Erzbischof und drei Bischöfe wurden geweiht, deren weiteres Schicksal jedoch unbekannt ist. Möglicherweise gibt es eine Kontinuität zwischen den damals eingerichteten Bistümern und dem 1063 errichteten Bistum Olmütz (tschech. Olomouc).

Konstantin und Method führten in Großmähren die slawische Sprache im Gottesdienst ein, was von Rom ausdrücklich gebilligt wurde. Die slawische Liturgie und die Missionspraxis der beiden Brüder wurden zum Politikum im Verhältnis zu den fränkischen Priestern, die sich mit der lateinischen Liturgie und einer moralisch nachsichtigen Missionierung am Hofe Svatopluks durchsetzen konnten. Auch zahlreiche Übersetzungen aus dem Griechischen ins Slawische, die den weltlich-juristischen Bereich betreffen, gehen auf Konstantin und Method und ihre Schüler zurück.

Byzantinischer Einfluss macht sich auch in den in Südmähren (z. B. Mikulčice, Staré Město) gefundenen Kirchenfundamenten bemerkbar. Die Kleinkunst orientierte sich jedoch v. a. an awarischen und fränkischen Formen. Mit seiner zentralen Verwaltung und seiner Struktur knüpfte das G. R. vermutlich an das karolingische Modell an. Dieses wurde durch ein frühes System von Dienstsiedlungen und Burgwällen ergänzt, dessen sozioökonomische Struktur jedoch nur schwer zu bestimmen ist. Die Nachfolgerreiche im ostmitteleuropäischen Raum übernahmen dieses System in weiten Zügen.

Albrecht S. 2003: Geschichte der Großmährenforschung in den Tschechischen Ländern und in der Slowakei. Praha. Eggers M. 1995: Das „Großmährische Reich“ – Realität oder Fiktion? Eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert. Stuttgart (=Monographien zu Geschichte des Mittelalters 40). Třeštík D. 2001: Vznik Velké Moravy: Moravané, Čechové a střední Evropa v letech 791–871. Praha (=Edice česká historie 8). Třeštík D. 1997: Počátky Přemyslovců: vstup Čechů do dějin (530–935). Praha (=Edice česká historie 1).

(Stefan Albrecht)

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