Oder

Oder (niedersorb. Wodra, obersorb. Wódra, poln./tschech. Odra)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Der Fluss O. entspringt auf einer Höhe von 634 m ü. d. M. im tschechischen Odergebirge (Oderské vrchy), einem südöstlichen Ausläufer der Sudeten. Auf einer Gesamtlänge von 855 km durchfließt die O. die Territorien der Tschechischen Republik, der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Sie mündet über das Stettiner Haff (poln. Zalew Szczeciński) in die Ostsee. Ihr mittlerer Wasserabfluss an der Mündung beträgt 567 m³/s.

Gemessen am 118.861 km² großen Gesamteinzugsgebiet ist das O.-Stromsystem das zehntgrößte europäische Flussystem (außerhalb von Russland). Ein großer Teil der Oberflächengestaltung des O.-Einzugsystems wurde eiszeitlich beeinflusst: etwa 290 km des heutigen Stromsystems verlaufen in ehemaligen Urstromtälern und im Mittel- und Unterlauf herrschen eiszeitlich bedingte Moränen- und Seeplattenlandschaften vor. Die O. ist ein typischer Tieflandstrom. Sie führt zu großen Teilen durch das Flachland des Osteuropäischen Tieflandes und hat größtenteils keine natürlich befestigten Ufer. Ursprünglich starke Mäandrierung und Flussverwilderung gingen neben regelmäßiger Überflutung der Auen mit Flussbettversandung und –verschlammung einher. Charakteristisch sind extreme Schwankungen zwischen Niedrig- und Hochwasser. Die O. ist weitläufig eingedeicht, begradigt und reguliert, ab dem tschechischen Bohumín bis zur Mündung durchgängig schiffbar und an das west- und osteuropäische Wasserstraßennetz angeschlossen. Bis Brzeg Dolny (Polen) befinden sich auf einer Strecke von 186 km 24 Staustufen. Weitere Staustufen auf polnischem Gebiet befinden sich im Bau (bei Malczyce) bzw. in Vorbereitung (bei Lubiąż). Durch die Flussbegradigungen wurde der O.-Lauf um über 20 % der ursprünglichen Länge verkürzt. Klimatisch unterliegt das O.-Einzugsgebiet dem kontinentalen Einfluss Osteuropas.

Der Oberlauf der O. umfasst fast zwei Drittel der gesamten Flusslänge und reicht von der Quelle bis zur Einmündung der Lausitzer Neiße (poln. Nysa Łużycka). Im tschechisch-mährischen Teil bildet die O. die Scheidelinie zwischen den Sudeten und den Beskiden. Dort und in ihrem weiteren Oberlauf nimmt die O. zahlreiche Flüsse und Bäche auf, z. B. aus dem südöstlichen Altvatergebirge (tschech. Hrubý Jeseník) in den Sudeten, aus den West-Beskiden, dem Riesengebirge und dem Isergebirge. Daher enstehen im Oberlauf 90 % der Sommer- und Winterhochwasser, zuletzt während des verheerenden Hochwassers im Juli 1997 und zuvor z. B. 1736, 1813, 1854, 1903 oder 1947. In ihrem Mittellauf nimmt die O. fast nur von der östlichen Seite Flüsse auf, so die bei Küstrin (poln. Kostrzyn) mündende Warthe, die das größte Einzugsgebiet der gesamten O. stellt. Die Niederungen des Mittellaufes bilden das Hauptentfaltungsgebiet der O.-Hochwasser. In ihrem Unterlauf fließt die O. nördlich von Frankfurt (Oder) bis Schwedt durch das Oderbruch, bevor sie sich in eine West und Ost-O. aufteilt und nördlich von Stettin (poln. Szczecin), dem heute bedeutendsten polnischen Überseehafen, in die Ostsee mündet.

Besonders bemerkenswert in Bezug auf die Flora des O.gebietes sind die sog. pontischen Arten, die v. a. an den Hängen im Mittel- und Unterlauf der O. heimisch sind. Hierbei ist besonders die pontische Steppenflora zu nennen, die entweder strauchlos ist oder aus Strauchwerk bzw. Kiefernwald besteht, deren Wachstum durch die besonderen klimatischen Bedingungen des O.gebietes als einer ausgesprochene Trockenzone begünstigt wird. Eine besonders schützenswerte und vielfältige Kultur- und v. a. Naturlandschaft hat sich in den letzten 250 Jahren auch durch menschliches Einwirken im unteren O.tal herausgebildet, das eine reichhaltige Flora und Fauna (u. a. seltene Greifvogelarten) aufweist.

2 Kulturgeschichte

Besiedlung und politische Zugehörigkeit

Es gibt Hinweise darauf, dass bereits vor 50.000–70.000 Jahren Menschen an der O. lebten. Die frühesten Zeugnisse für Siedlungen im Bereich der O. datieren zurück in das Neolithikum, 4300–3000 v. Chr. Während der Bronze- und frühen Eisenzeit war das gesamte südliche Tiefland im O.-Bereich besiedelt. Weitere Besiedlungen stehen in engem Zusammenhang mit der sog. Bernsteinroute zwischen der Ostsee und der Adria. Die Kelten siedelten vom 1.–5. Jh. v. Chr. an der O., die Burgunder kamen im 1. Jh. an die mittlere O. Ihnen folgten westslawische Stämme, u. a. die „Liutizen“, die zwischen dem 6. und 9. Jh. das O.-Gebiet besiedelten. Bevorzugte Siedlungsplätze während dieser Zeit boten auch die „Schlesische Bucht“ (poln. Zatoka Śląska) und Teile des „Sudetenvorlandes“ (poln. Przedgórze Sudeckie).

Im Verlauf des 10. Jh. wurden die heidnischen slawischen Stämme des O.-Gebietes im Zuge der Expansionen des ostfränkisch-deutschen Reiches, der böhmischen Přemysliden und der polnischen Piasten unterworfen. Nach der Schlacht bei Cedynia (dt. hist. Zehden) 972 wurde die gesamte O.-Region in das Herzogtum Polen unter Mieszko I. eingegliedert und christianisiert.

Die Mark(grafschaft) Brandenburg eroberte in der zweiten Hälfte des 13. Jh. das Gebiet an der mittleren O. und der Warthe, später Neumark genannt. Es folgte die maßgeblich durch den Zisterzienserorden getragene sog. Ostkolonisation der O.-Gebiete, mit der insbesondere die Umorganisation und Neugründung von Städten nach deutschem Recht (so z. B. 1253 Frankfurt an der O.) verbunden war. V. a. deutsche Kaufleute, Handwerker und Bauern, vereinzelt auch Adelige folgten den Klostergründungen und wurden zu Trägern des wirtschaftlichen Aufschwungs. Im Spätmittelalter gehörten die untere O. und das Mündungsgebiet zu Pommern, die mittlere O. zu Brandenburg und die obere O. zu Schlesien und damit zum Königreich Böhmen, bevor es mit diesem 1526 zu Österreich-Habsburg kam. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieg wurde Pommern 1648 zwischen Schweden und Brandenburg geteilt. 1720 eroberte das neu entstandene Preußen die untere O. und mit Stettin die Mündung der O. von Schweden, bevor Friedrich II. von Preußen in den Schlesischen Kriegen (1740–63) auch große Teile Schlesiens und somit die obere O. erwarb. Abgesehen von napoleonischen Durch- und Rückzügen Anfang des 19. Jh. lag die gesamte O.-Region bis auf einen kleinen Teil in Österreichisch-Schlesien auf dem Territorium Preußens und nach 1871 auf dem Gebiet des Deutschen Reiches. Nach dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen 1939 wurden aus dem eroberten Warthegebiet bis 1941 über 300.000 Polen und Juden in das Generalgouvernement vertrieben.

Auch der gesamte Oberlauf der O. in Mähren und Böhmen wurde von den Nationalsozialisten besetzt. Seit dem Potsdamer Abkommen von 1945 ist der Mittel- und Unterlauf der O. gemeinsam mit der Lausitzer Neiße deutsch-polnischer Grenzfluss. Die deutsche Bevölkerung musste die Gebiete östlich beider Flüsse verlassen. Lediglich im Bereich der Stadt Oppeln (Stadt) Oppeln|(poln. Opole) blieb eine größere deutsche Bevölkerungsgruppe, die auch in der Volksrepublik Polen ihre kulturellen Identität bewahren konnte. Die O.-Region wurde nach dem Abkommen größtenteils von Polen besiedelt, die vormals polnische Ostgebiete auf dem Territorium der heutigen Ukraine und Litauens nach Ende des Krieges verlassen mussten. Die sog. O.-Neiße-Linie wurde 1950 von der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen als „Friedensgrenze” und nach 1990 auch von der Bundesrepublik Deutschland als Staatsgrenze anerkannt.

Wirtschaft

Die bis Ende des 13. Jh. durchgängige O.-Schifffahrt kam durch die politische Aufteilung des O.-Gebietes und die daraus resultierenden Zollbarrieren im Spätmittelalter nahezu zum Erliegen. Der Transport von Handelsgütern zwischen Schlesien und den Ostseestädten verlagerte sich über Jahrhunderte auf den Landweg. Erst die Eingliederung der gesamten O.-Region in den preußischen Staat schuf Anfang des 18. Jh. günstige Bedingungen für eine den ganzen Flusslauf einschließende freie Schifffahrt. Der Ausbau des Stromsystems durch die Errichtung von Kanälen (O.-Spree-Kanal 1699) und umfangreiche Regulierungsmaßnahmen führte zu einem deutlich verbesserten Binnenverkehr und hatten einen sprunghaften wirtschaftlichem Aufschwung der Region zur Folge. Der Landwirtschaft kam die verordnete Trockenlegung von Teilen des Oderbruchs 1753 zu Gute, wo v. a. der Zuckerrübenanbau überaus erfolgreich war. In dem ehemaligen Sumpfgebiet entstanden zahlreiche neuangelegte Straßendörfer, für die Siedler aus Süddeutschland und Frankreich (Hugenotten) geworben wurden. Der Fischreichtum der O. v. a. im Bereich des Unterlaufes und im Haff bot lange, bis zum 19. Jh. beste Bedingungen für die Fischereiwirtschaft.

Im schlesischen O.-Gebiet wurden seit dem 16. Jh. Mineralien gewonnen und in Manufakturen verarbeitet. Kiesablagerungen, v. a. im Oberlauf der O. wurden seit dem 19. Jh. erschlossen und für die Produktion von Baumaterial genutzt. Um Ostrava entstand ein bedeutender industrieller Ballungsraum, der die Stadt am Oberlauf der O. zu einer der wichtigsten mährisch-tschechischen Großstädte machte. Mit dem durch die Industrialisierung wachsenden Verkehrs- und Transportaufkommen auf der O. kam es zur Errichtung mehrerer Staustufen und zu weiteren Regulierungen des Flusslaufes. Über den ca. 40 km langen „Gleiwitzer Kanal“ (poln. Kanał Gliwicki) mit dem oberschlesischen Industriegebiet verbunden diente die O. ab den 1930er Jahren als Haupttransportweg für die um Kattowitz (poln. Katowice) gewonnenen Rohstoffe und Produkte. Bedeutende Flussschiffwerften gab es u. a. in Küstrin. Die Hochseewerften in Stettin entwickelten sich bis im Zweiten Weltkrieg zu wichtigen deutschen Schiffsproduzenten.

Nach 1950 entstanden auf dem Territorium der DDR im Gebiet der mittleren O., z. B. in Eisenhüttenstadt, Schwedt und Frankfurt industrielle Großkomplexe, die nach 1990 geschlossen oder stark verkleinert und umstrukturiert wurden. Auf polnischer Seite war an der mittleren O. Gorzów Wielkopolski mit dem Chemiefaserwerk ›Stilon‹ bedeutender Industriestandort, auf dessen Gelände sich derzeit deutsch-polnische Firmen zum Aufbau einer grenzüberschreitenden Wirtschaftsregion an der O. ansiedeln. Im Bereich der oberen O. entwickelte sich Breslau (poln. Wrocław) nach dem Zweiten Weltkrieg zur viertgrößten polnischen Stadt mit 637.428 Einwohnern (2003).

Frankfurt (O.) wurde nach seiner durch den Aufstieg Berlins verlorengegangenen Bedeutung als Handelsstadt im 20. Jh. zum Verwaltungs- und Dienstleistungsstandort. Seit 1993 hat hier und auf der anderen Seite in Słubice die Universität Viadrina, die gemeinsam mit dem ›Collegium Polonicum‹ eine deutsch-polnische Universität bildet, ihren Sitz. Seit den 1990er Jahren rücken die über Jahrzehnte z. T. nur als oder Grenz- oder Randgebiete wahrgenommenen und infrastrukturell vernachlässigten O.-Gebiete allmählich wieder in die allgemeine kulturelle Wahrnehmung Deutschlands, Polens und Tschechiens. Über die O. als mitteleuropäischer Verkehrs- und Kulturstrom sind die drei Staaten direkt miteinander verbunden und in ihrer Kulturgeschichte sind große Teile Europas vereint.

Horoszko S., Müller B., Schmook R. (Hg.) 1997: Die Oder als Kulturlandschaft / Odra jako krajobraz kulturowy. Über Geschichte und Alltag in der deutsch-polnischen Grenzregion / Historia i codziennośćna polsko-niemieckim prograniczu. Stettin. Spiegelberg, K. 2001: Das Oderstromsystem. Frankfurt/O.

(Bernd Adamek-Schyma)


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