Ostsee (Meer)

Ostsee (dän. Østersø, estn. Läänemeri, finn. Itämeri, kaschub. Bôłt, lett. Baltijas jūra, litau. Baltijos jūra, poln. Morze Bałtyckie, russ. Baltijskoe more, schwed. Östersjön)

Ostsee im europäischen Osten

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die Natur der O. halten wir für stabil. Der Wasserstand dieses Meeres verändert sich kaum innerhalb von Zeiträumen, die von einzelnen Menschen überblickt werden. Ebbe und Flut wirken sich nur marginal auf den Wasserstand der westlichen O. aus, auf den nordöstlichen Teil des Meeres praktisch überhaupt nicht. Seltener als an anderen Meeren kommt es zu Stürmen, denn die O. ist fast ganz von Land umgeben. Doch der Eindruck der Stabilität, den man von der O. gewinnt, ist ein Trugschluss. Der O.raum hat sich in den letzten Jahrtausenden so stark verändert wie kaum eine andere Weltgegend. Und auch heute laufen hochgradig dynamische Entwicklungen der Natur ab. Daher ist die O. ein besonders faszinierendes Ökosystem; man kann sie als ein Beispiel dafür nehmen, wenn man demonstrieren möchte, wie sich Natur generell stetig und unumkehrbar verändert.

Die Wasserfläche der O. misst 412.560 km².Damit ist sie viel kleiner als die Hudson Bay in Kanada (1,23 Mio. km² Wasserfläche), die unserer Vorstellung nach nur eine Bucht ist. In der O. befinden sich 21.631 km³ Wasser. Ihre mittlere Tiefe liegt bei 52 m, die tiefste Stelle ist das Landsorttief bei Gotland (459 m). Die O. ist für die Bewohner der Länder, die an sie grenzen, dennoch ein Meer – oder besser: die See. In der Sprachlogik der deutschen, dänischen und schwedischen O.anrainer ist der See männlichen Geschlechts und mit Süßwasser gefüllt, während die See weiblichen Geschlechts Kontakt zu den Weltmeeren und daher salziges Wasser hat. Nur schmale Wasserstraßen (Öresund, Großer und Kleiner Belt sowie der künstliche Nord-Ostsee-Kanal) verbinden die O. mit der Nordsee und dem Atlantischen Ozean, so dass das „Mare Balticum“ beinahe doch ein (männlicher) See ist; zeitweilig war dieses Meer sogar völlig von den Weltmeeren abgetrennt und daher nicht eine See mit Salz- oder Brackwasser, sondern ein See mit Süßwasser. Die Menge an salzhaltigem Ozeanwasser, das heute in die O. eindringt, ist etwas geringer als die des Süßwassers, das mit dem Regen auf das Meer fällt und aus den zahlreichen Flüssen kommt, die in die O. münden. Süß- und Salzwasser mischen sich im Meeresbecken zwischen Skandinavien, Finnland, dem Baltikum und dem nordmitteleuropäischen Tiefland. Die O. ist die größte Ansammlung von Brackwasser auf der Welt. Ihr Salzgehalt liegt in den äußersten Buchten des Bottnischen und Finnischen Meerbusens bei weit weniger als 1 %, in den Sunden und Belten zwischen Nordsee und O. beträgt er etwa 2 % (in der Nordsee 3,5 %).

Viele Teile der O. sind flach, und sie haben nicht wie andere Meere, Ozeane und Meeresbuchten einen echten Meeresboden. Unter dem größten Teil der O. liegt ehemals trockenes Land. Immer wieder wurde es von Meeren überdeckt, die aber nicht alle als Vorläufer der O. bezeichnet werden können. Im Gegensatz zum geologisch geringen Alter der O. ist der größte Teil ihrer Küsten und ihres Untergrundes aus Gesteinen aufgebaut, die zu den ältesten in Europa zählen. Sie wurden erst zu Ufern und Meeresböden, als sich die O. bildete. Die Küsten beiderseits des Bottnischen Meerbusens bestehen aus Granit. Auch am Grund dieser nördlichen großen O.bucht findet man Granit, ebenso wie in großen Teilen Fennoskandiens. V. a. große Teile Finnlands waren in den jüngsten Abschnitten der Erdgeschichte lange von O.wasser überflutet. Nach und nach hob sich das Land aus dem Meer empor. Dieser Vorgang dauert bis heute an. Im Norden des O.raumes gibt es eigentümliche Übergänge zwischen Land und Meer, die durch die späteren ungleichmäßigen Gletscher-Überschürfungen während der Eiszeiten noch verstärkt wurden. Wo heute Land ist, finden sich auch zahlreiche Seen. Sie entstanden besonders in flachem, wenig geneigtem Terrain; Finnland wurde das Land der tausend Seen. Je dichter man an die Küste kommt, desto unklarer wird dem Beobachter, ob die Wasserflächen zwischen den Landfetzen Seen mit Süßwasser oder Meeresarme mit Brackwasser sind. Weiter zum Meer hin besteht eher eine zusammenhängende Wasserfläche, in der unzählige Inseln liegen. Vor dem offenen Meer wird die Zahl der Inseln geringer. Eine Grenze, wo generell Land und Meer überwiegen, ist sehr schwer zu ziehen, und ein Bild dieser Landschaft kann auf einer Landkarte kaum vermittelt werden. Sieht man sich die Region der Ålandinseln auf einem Übersichtsplan an, hat man den Eindruck, es gäbe dort weite Meeresflächen. Doch ragen Tausende kleiner und kleinster Inselkuppen auf, die sich auf einer Übersichtskarte nicht darstellen lassen.

Im Süden stößt die O. dagegen an die Schuttmassen aus der Eiszeit, die von Gletschern damals dort deponiert worden waren. Zu den lockeren Schuttmassen der Gletscher gehören auch die jütische Halbinsel und die dänischen Inseln, die O. und Nordsee voneinander abtrennen. Hätte es die Eisvorstöße aus dem Norden in den Süden nicht gegeben, sähe der O.raum völlig anders aus, und es wäre nicht zur Ausbildung des Brackwasserkörpers in der O. gekommen. Dieser ist nicht einheitlich, sondern durch untermeerische Schwellen zergliedert. Besonders flach ist die Darsser Schwelle zwischen der mecklenburgischen und der südskandinavischen Küste; sie behindert den Wasseraustausch. Hier ist das Meer nur maximal etwa achtzehn Meter tief, und zwar in der schmalen Kadetrinne; die geringe Wassertiefe verhindert, dass die größten Schiffe den O.raum überhaupt erreichen können.

In der O. stellt sich eine Schichtung von Wasserkörpern ein, die von den unterschiedlichen Salzgehalten abhängt: Salzärmeres Wasser lagert über salzreicherem Wasser. Die Salzgehalte der O. änderten sich in den letzten Jahrtausenden mehrfach. Daher leben dort nur wenige Arten von Tieren und Pflanzen; sowohl salzreichere Meere als auch reine Süßwasserseen weisen einen größeren Artenreichtum auf. In einzelnen Jahren können sich aber diejenigen Pflanzen- und Tierarten, die in der O. existieren, sehr stark vermehren.

Wenn sich im Sommer Algen in den oberen Wasserschichten der O. verbreiten und ihre abgestorbenen Reste zu Boden sinken, wird im tiefen Wasser Sauerstoff verbraucht. Wenn kein Sturm auftritt, bilden sich in den Tiefen der O. riesige Bereiche, die mit der Zeit völlig frei von Sauerstoff und daher lebensfeindlich werden. Die sauerstofffreien Bereiche erhalten in jedem Sommer eine andere Ausdehnung. Von ihnen geht die besondere Labilität der O. heutzutage aus; werden große Mengen an düngenden Mineralstoffen in das Meer eingetragen, vermehren sich die Algen besonders gut, und es entsteht ein großer sauerstofffreier Bereich.

Salzwasser gefriert später als Süßwasser. Dringt in Abhängigkeit von der Witterung besonders viel Salzwasser in die O. ein und gibt es einen milden Winter, bildet sich nur eine Eisdecke von geringem Umfang auf dem Meer aus. In kalten Wintern und dann, wenn nur geringe Salzkonzentrationen in der O. auftreten, entsteht eine ausgedehnte Eisdecke, die den größten Teil des Bottnischen und des Finnischen Meerbusens im Norden, die Rigaer Bucht und weite Bereiche der Küstengewässer bedecken kann. Wenn auf die Eisdecke Schnee fällt, wirkt sie sich auf die Atmosphäre genauso wie eine Landoberfläche aus. Das osteuropäische Hochdruckgebiet kann sich in Wintern, in denen große Teile der O. zugefroren sind, weit nach Westen ausdehnen und mit seiner Kaltluft die Witterung in weiten Teilen Europas beeinflussen. Nach diesen Wintern kommt das Frühjahr spät. Man kann im gesamten O.raum die Felder erst mit Verzögerung bestellen. Die Wachstumsperiode für Kulturpflanzen ist dann besonders kurz. Dies kann für die Bauern an der O. zum Problem werden.

Der Salzgehalt des O.wassers nimmt von Südwest nach Nordost ab. Weil auch die Gischt wenig Salz enthält, können Pflanzen, die empfindlich gegenüber Salz in Luft und Boden sind, in der Nähe der O.küste wachsen. Wälder breiteten sich bis unmittelbar an die O.küsten aus, und heute kann man dicht an der Küste Getreide anbauen. Nirgends sonst auf der Welt gibt es Eichen- und Buchenwälder unmittelbar an der Küste, nirgends sonst kann man das Blau der See und das Gelb von reifem Getreide zugleich erblicken. Schon an den Küsten Bornholms ist das O.wasser so wenig salzhaltig, dass Erlen unmittelbar am Wasser wachsen können, genauso wie an einem See. Und die nördlichen Küsten der O. werden von Schilfröhricht gesäumt. Vergleichbares lässt sich sonst nur am Ufer von Süßwasserseen feststellen. Dies alles trägt zur unverkennbaren Identität der Länder an der O. bei. Man trifft auf veränderliche Küsten eines „Beinahe-Sees“, der in Wirklichkeit doch ein Meer ist.

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2 Entstehungsgeschichte

Vor 13.000 Jahren lagen Gletscher, die sich aus Skandinavien und Finnland nach Süden ausgebreitet hatten, über dem gesamten O.raum. Als es wärmer wurde und das Eis taute, bildete sich ein Schmelzwassersee. Aus diesem sogenannten Baltischen Eisstausee wurde später die O. Zugleich ließ der enorme Druck des Eises auf die Landoberflächen Skandinaviens und Finnlands nach. Unter der Last der Gletscher war die Oberfläche Nordeuropas weit in den zähflüssigen Untergrund der Erde gedrückt worden. Nun konnte das skandinavische Gebirge wieder allmählich empor tauchen. Im Gegenzug begann das Land im Süden der O. abzusinken, denn dorthin war die Magma während der Eiszeit gepresst worden; sie bewegte sich wieder zurück nach Norden, als dort der Eisdruck nachließ.

Das Abschmelzen der eiszeitlichen Gletscher war nach einigen Jahrtausenden abgeschlossen, aber noch nicht die Hebungen und Senkungen der Landoberflächen: Sie dauern bis heute an. Noch immer tauchen im Norden des O.raumes kahle Felsinseln, die Schären, aus dem Wasser auf. Sie verbinden sich miteinander, werden dabei zu Hügeln oder gar zu Bergen. Buchten zwischen ihnen fallen trocken, Häfen werden unbrauchbar, im Norden Skandinavien so schnell, dass Menschen dies während ihres Lebens beobachten können; noch immer hebt sich dort das Land um mehrere Meter pro Jahrhundert.

Aber auch noch immer sinkt das Land im Süden, allerdings erheblich langsamer. Die Küsten, die überwiegend aus dem weichen Schutt der Gletscher, den Moränen, bestehen, zerbröseln unter der Wirkung von O.wasser, aber auch durch die Wirkung von Wind und Wetter. Der Sand aus den abbrechenden Küsten wird vom Wasser transportiert; daraus entstehen Haken und Nehrungen, die in den Gebieten neben den Steilküsten ganze Uferseen vom Meer abschnüren können. Diese Gewässer werden Haff und Bodden genannt. Nur dort, wo Steilküsten abbrechen und der Sand aus dem zerbröselnden Gletscherschutt vom Wasser ausgespült wird, können sich Strände mit feinem Sand bilden, und durch Einwirken des Windes entstehen Dünen.

Hebungen und Senkungen charakterisieren die O.küsten in der gesamten Zeit ihres Bestehens. Zunächst ließ das viele Schmelzwasser den Wasserspiegel des Eisstausees so lange steigen, bis der See überlief. Mit einer gewaltigen Strömung schuf sich das Wasser in Mittelschweden, wo sich heute die großen Seen befinden, eine Abflussbahn zur Nordsee. Dort lag das Land damals am niedrigsten. Die Strömung des ausfließenden Baltischen Eisstausees riss dort eine Runse in die Erdoberfläche. Durch sie floss anschließend in einem breiten Schwall Salzwasser in die O. In kurzer Zeit wurde aus dem Süßwassersee ein Meer mit salzigem Wasser.

Das Land in Mittelschweden hob sich, die Wasserverbindung zwischen Nord- und O. ging verloren. Das Wasser der O. süßte aus, so dass sich dort erneut ein See bildete. Sein Wasser floss in einem Fluss ab, der sich in den weichen Gletscherschutt zwischen den heutigen dänischen Inseln einschnitt. Weil dort das Land absank und der Wasserspiegel der Weltmeere anstieg, drang mit der Zeit immer mehr Wasser aus der Nordsee in den Fluss ein. Es erreichte schließlich das Gebiet der O. Vor etwa 8000 Jahren versank besonders viel Land in den Fluten, und seitdem kam es immer wieder zu neuen Überflutungen von immer weiteren Landflächen; die Steilküsten am Südrand des Meeres wurden sukzessive abgebaut.

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3 Kulturgeschichte

Menschen, die sich damals bereits an den Küsten der O. niedergelassen hatten, erlebten diese Katastrophe mit. Sicher ertranken viele Menschen in den Fluten, als ganze Landstriche versanken. Die überlebenden Menschen konnten das Unglück nicht erklären; aber sie erzählten fortan von sagenhaften Städten und Schlössern auf dem Meeresgrund, so von der untergegangenen Stadt Vineta und dem Schloss der "Kleinen Meerjungfrau", über die Hans Christian Andersen sein berühmtes Märchen schrieb.

Zum Teil drang das O.wasser in die Täler von Flüssen vor, die in das Meer münden. Es bildeten sich trichterförmige Flussmündungen, beispielsweise an der Trave, der Warnow und der Oder. Vor die Meeresarme legten sich aber wieder Sandbarrieren, so dass die im Meer ertrunkenen Flussunterläufe nur über schmale Verbindungen mit der O. verbunden sind. Weil der Meeresspiegel steigt, nimmt das Gefälle der in die O. mündenden Flüsse ab. Das Wasser wird gestaut, der mitgeführte Sand und Ton wird in den Mündungsbereichen abgelagert, und dort werden auch viele Schadstoffe deponiert. Wenn es zu Hochwasser in den Flüssen kommt und eine stärkere Strömung entsteht, gelangen die dort zuvor abgelagerten Stoffe (auch die Schadstoffe) in die O.; nach dem Oderhochwasser von 1997 stellte man an der schwedischen O.küste einen erhöhten Schadstoffgehalt fest.

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3.1 Kultur und Wirtschaftsgeschichte

Bereits in vorgeschichtlicher Zeit wurde Bernstein von der Ostseeküste nach Südeuropa transportiert und dort, neben v. a. Fellen und Pelzen, gegen Keramikwaren, Wein und Öl getauscht. An jedem Küstenstrich der O. gab es unterschiedliche Handelsgüter, die an anderen Küstenabschnitten fehlten. Deren Austausch war die Voraussetzung für die Herausbildung stabiler Lebensverhältnisse der O.anrainer in den letzten Jahrhunderten. Der Aufbau der Handelsnetze seit den Zeiten der Wikinger, besonders aber durch die Kaufleute der Hanse wurde dadurch begünstigt, dass es in der O. kaum Bohrmuscheln gibt; diese im Salzwasser lebenden Organismen zerstören Schiffsrümpfe. Unbehelligt davon konnten im Mittelalter in relativ großen Schiffen Eichenholz in den Norden, Nadelholz in den Süden, Erz aus Schweden, Teer aus den Nadelholzgebieten des Nordens und Ostens, Korn von den Südküsten des Meeres in die anderen Teile des O.raums gebracht werden.

Nur dort, wo alle Handelsgüter durch einen stabilen wirtschaftlichen Austausch vorhanden waren, konnten Menschen im O.raum permanent leben. Auf Dauer feste Siedlungen oder gar Städte gibt es an der O. erst seit dem Zeitpunkt, zu dem ein permanenter Handel begann. Zuvor hatten auch schon Siedlungen bestanden, aber sie mussten von Zeit zu Zeit verlagert werden, wenn eine Voraussetzung für ihren Weiterbestand nicht mehr gegeben war, etwa dann, wenn die Erträge des Bodens nachließen und zu wenig Getreide vorhanden war oder wenn es an Ort und Stelle kein Bauholz mehr gab.

Trotz der Etablierung des Handels und des dadurch erreichten Austausches von Gütern blieben Unterschiede der Lebensweisen bestehen. Das lässt sich unter anderem an den ländlichen Siedlungen im O.raum erkennen. Überall dort, wo Nadelholz natürlicherweise vorkommt, konnte man Gebäude allein aus Holz errichten: in Schweden und Finnland, im Baltikum und an den pommerschen Küsten. Stets lassen sich in Nadelwäldern nämlich Bäume finden, die gerade in die Höhe gewachsen sind. Aus ihrem Holz lassen sich gerade Bohlen, Balken und Bretter herstellen, die exakt aneinander stoßen. In Laubwäldern liegen die Verhältnisse anders, besonders dann, wenn sie regelmäßig genutzt werden. Aus den Baumstümpfen wachsen krumme Sekundärtriebe nach, aus denen man keine massiven Holzhäuser bauen kann. In den Laubwaldgebieten errichtet man Fachwerkbauten; die Ungleichmäßigkeiten im Holz können beim Füllen der Gefache mit Lehm oder Ziegeln ausgeglichen werden. Diese Fachwerkbauten findet man in Schonen, Dänemark und am größten Teil der deutschen O.küste. Das Importholz war knapp und teuer. Die rote Farbe der Backsteinbauten des Südens galt im Norden als „vornehm“. Daher ist der rote Anstrich der Holzhäuser in Skandinavien so weit verbreitet, besonders in Schweden. Erst später merkte man, dass die rote Farbe der Holzhäuser das Holz auch noch besonders gut imprägniert.

Eine stabile oder nachhaltige Wirtschaft mit Warenaustausch und Handel konnte sich nur im Verein mit anderen Merkmalen von Kultur ausbreiten. Staatliche Strukturen hatten Sicherheit für den Handel zu gewährleisten. Nur durch den Einsatz der Schrift war es möglich, die Arbeiten der am Handel beteiligten Menschen aufeinander abzustimmen.

V. a. an den nördlichen Küsten der O. bestand noch ein weiteres Problem der natürlichen Bedingungen, das gelöst werden musste, um stabile Lebensbedingungen für die Menschen zu ermöglichen. Darauf muss besonders hingewiesen werden, denn nirgends sonst auf der Welt wurde dieses Problem früher und besser gelöst als im O.raum; nirgends sonst drang die Zivilisation bereits während des Mittelalters derart weit nach Norden vor. Die Länge der Tage schwankt dort im Jahreslauf erheblich. Im Norden des Bottnischen Meerbusens, der bis dicht an den Polarkreis reicht, wird es im Sommer nie dunkel, und im Winter erhebt sich die Sonne nur für ganz kurze Zeit über den Horizont. Anders als im Süden lässt sich im Norden aus dem Sonnenstand nur schwer ablesen, wann die tägliche Arbeit auf dem Feld oder mit dem Vieh, im Bergwerk oder im Wald zu beginnen hat und wann sie endet. Es war notwendig, den Tag nicht durch die Helligkeit, sondern durch die Zeit zu definieren. Die christliche Kirche wirkte in dieser Hinsicht stark disziplinierend auf die Gemeinschaften der Menschen. Von einem zentralen Bau, am besten vom Kirchturm aus, wurde der Tag strukturiert. Morgens, mittags und abends wurde zum Gebet gerufen, schon im Mittelalter durch eine Kirchenglocke, später auch durch die Uhr hoch am Kirchturm. Kirchtürme wurden überdies zu wichtigen Landmarken und Seezeichen, die sich aus der Ferne erblicken ließen. Wetterfahnen und Wetterhähne auf ihrem Dach bewegen sich im Wind und verändern dabei ihre Stellung zum stabilen Kreuz. Daraus und aus der Beobachtung des Himmels lässt sich von den Bauern auf den Feldern ablesen, wie sich das Wetter in den kommenden Stunden entwickeln wird.

Es zeigt sich hierbei, dass es ohne das Christentum wohl kaum zur Herausbildung stabiler Lebensverhältnisse im O.raum gekommen wäre. Wo sich stabile Lebensverhältnisse ausbreiteten, profitierten die Menschen davon. Dies lässt sich an den Denkmälern ablesen, den Bauten, die rings um die O. entstanden: prächtige Rathäuser, mächtige Burgen, aufwendige Häfen und berühmte Kirchen. Als sich im Süden der O. der Reichtum entwickelte, geschah dies auch im Norden: Stockholm wuchs zur gleichen Zeit wie Lübeck, Riga, Danzig, Åbo (Turku), Reval (Tallinn), Visby und Stralsund.

Das auf der O. sich entwickelnde Handelsnetz war unabdingbar notwendig, um die dauerhafte Besiedlung des nördlichen O.raumes zu ermöglichen; es unterscheidet sich darin vom Handelsnetz auf dem Mittelmeer, das sich entwickelte, als große Teile des Mittelmeergebietes bereits besiedelt waren. Das mittelalterliche O.handelsnetz ist daher ein wichtiger Vorläufer der Welthandelsnetze der Neuzeit.

Viele Konflikte im O.raum entstanden um die Herrschaft über das Handelsnetz. Die Hauptkontrahenten waren die Länder westlich und östlich der O., v. a. Schweden und Russland. Obwohl deutsche Kaufleute überall auf der O. präsent waren, hatten die Deutschen dagegen nur geringes politisches Interesse am O.raum. Sie profitierten zwar von den Holz- und Erzlieferungen aus dem Norden, brauchten die Handelsgüter des O.raumes aber nicht unbedingt zum Überleben; dies sah in Schweden, Finnland und Russland anders aus, wo man stets Getreide aus dem Süden einführen musste, um dauerhaft überleben zu können.

In der Zeit, die auf die Epoche der Hanse folgte, herrschten v. a. die Schweden über den O.raum. Das Meer sollte das „protestantische Meer des Nordens“ werden. Das Ziel wurde nicht erreicht, weil weiterhin die Katholiken Polens und Litauens an der O. siedelten und an der Wende vom 17. zum 18. Jh. die orthodoxen Russen an die O. vorstießen. Für sie hatte das Erreichen des Handelsraumes erhebliche Bedeutung; wie groß dieser Triumph war, lässt sich noch heute an den prachtvollen Bauten Sankt Petersburgs ablesen. Unter anderem deshalb, weil der Hafen von Sankt Petersburg häufig im Winter vereist ist, gibt es allerdings bis heute Probleme, diese Großstadt zu versorgen.

Natürliche Dynamik sowie kulturelles und ökonomisches Eintreten für Stabilität und Nachhaltigkeit führten zur Herausbildung unterschiedlicher Identitäten von Kultur und Landschaft an den verschiedenen Küsten der O. Alle Landstriche an dessen Küsten werden seit dem Mittelalter und bis auf den heutigen Tag mehr und mehr vom globalen Handel und vom allgemeinen Weltgeschehen erreicht. Damit werden immer ähnlichere Lebensverhältnisse für die Menschen hergestellt, gemäß den Maximen der Französischen Revolution; Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind wichtige Ziele, für die man sich intensiv einsetzen muss. Sehr interessant ist aber in diesem Zusammenhang, dass gerade an der O. und gerade im Zeitalter der Französischen Revolution auch Gedanken entwickelt wurden, die dem alleinigen Streben nach Gleichheit in der Revolution widersprechen. Johann Gottfried Herder entwickelte im O.raum seine Ideen von der unterschiedlichen kulturellen Identität der Völker und ihrer Kulturen. Nicht nur das, auf das Herder hinwies, nämlich die „Stimmen der Völker“, ihre Sprachen, Lieder, Sagen und Märchen, Siedlungen und Baudenkmäler, sind beachtenswerte Zeugnisse der jeweils unterschiedlichen kulturellen Identität, sondern auch die unterschiedlichen Landschaften, die sich durch natürliche Entwicklungen und die Reaktionen der Menschen, die daraus Kulturland machten, herausbildeten; die unterschiedlichen Ausprägungsformen der Landschaften sind mutmaßlich sogar eine wichtige Ursache dafür, dass sich die kulturellen Identitäten an den verschiedenen Küsten der O. in unterschiedlicher Weise entwickelten.

Dies mag auch eine Voraussetzung für den aufkommenden übersteigerten Nationalismus im 19. und 20. Jh. gewesen sein, unter dem der O.raum ganz besonders stark litt. Doch nach den dadurch ausgelösten verheerenden Kriegen, der Vertreibung ganzer Völker und der überwundenen Blockbildung im Kalten Krieg (5.000 Bürger aus der DDR versuchten, über die streng bewachte Ostsee in den Westen zu fliehen; nur etwa 600 von ihnen gelang die Flucht) gilt es heute, an die alten Traditionen im O.raum anzuknüpfen. Die Natur des O.raumes wird sich auch in Zukunft nicht im eigentlichen Sinne nachhaltig, sondern sehr dynamisch entwickeln. Dadurch wird es auch weiterhin zu Veränderungen der Küsten und der einzelnen Teile des Meeres kommen. Die kulturellen Identitäten und die Wirtschaft des O.raumes werden auch in Zukunft davon beeinflusst werden. Aber die jeweils unterschiedliche Kultur der Länder an der O., die einen gemeinsamen Kulturraum voller Gegensätze entstehen ließ, gilt es nachhaltig zu achten. Zur beachtenswerten Kultur gehören nicht nur die Baudenkmäler und Sprachen, sondern auch die unter dem Einfluss von Natur und Mensch entstandenen Landschaften mit ihren jeweils ganz besonderen Eigenarten. Wir haben es in unseren kulturell und wirtschaftlich agierenden Händen, in welcher Weise sich Nachhaltigkeit an der O. durchsetzen lässt, eine Nachhaltigkeit, die trotz der zu begrüßenden Globalisierung der Märkte und Lebensbedingungen die kulturelle Eigenheit jedes Küsten- und Landstriches berücksichtigen und auf diese Weise ein echtes Miteinander der Menschen und ihrer Umwelt ermöglichen sollte.

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3.2 Tourismus, Handel, Wirtschaft

Die nördlichen und südlichen Teile der O. sind aus unterschiedlichen Gründen sehr beliebte Reiseziele. Nur dort, wo das Land allmählich absinkt und Sand verlagert wird, bildeten sich ausgedehnte Strände: im Süden des O.raumes. Der Sand wird immer wieder neu vom Wasser verlagert, die Sandkörner werden dabei nach Größen sortiert. Daher sind nicht nur beliebte Badestrände im südlichen O.raum zu finden; vor allen an der Südostküste von Bornholm gewann man den weithin besten Sand für Sanduhren. Auch der Norden des O.raumes ist bei Touristen beliebt: An den schwedischen und finnischen Küsten kann man vielerorts Ferienhäuser mieten, sogar Hütten, die allein auf einzelnen Inseln liegen.

Der Handel auf der O. nimmt erheblich zu. Da die größten Schiffe von den Weltmeeren aus die O. nicht erreichen können, wird die Ladung der Ozeanriesen im Nordseeraum in sogenannte Feeder-Schiffe umgeladen. Diese kleineren Schiffe transportieren v. a. Container zu den Bestimmungshäfen im O.raum. An Bedeutung nimmt auch der Transport von Erdöl und Erdölprodukten aus Russland zu. Für den Erdöltransport entstanden und entstehen neue Terminals (z.B. Primorsk bei Sankt Petersburg). Geplant ist der Bau einer Pipeline unter der O. von Russland nach Deutschland; die baltischen Staaten und Polen protestieren dagegen, weil sie Umweltschäden befürchten und nicht von der neuen Form der Ölversorgung profitieren.

Seit dem Mittelalter hat die Werftindustrie an der O. große Bedeutung. Ursprünglich war es wichtig, sowohl das haltbare Eichenholz (für die Spanten und Rümpfe) als auch das leichtere Nadelholz (für die Masten und Planken) an alle Orte zu bringen. Die heutigen stählernen Schiffe werden an vielen der traditionellen Werftenstandorte an der O. gebaut. Weltberühmt sind die in Finnland gebauten Eisbrecher.

V. a. in Schweden gibt es Stahlindustrie. An den Küsten Schwedens und Finnlands liegen zahlreiche Holz verarbeitende Betriebe: Sägewerke, Papier- und Zellstofffabriken. Durch Abwässer der Zellstoffwerke wurde in früheren Jahrzehnten das Wasser zahlreicher Flüsse und der O. verunreinigt. Die damit zusammenhängenden Umweltprobleme sind aber nun weitgehend gelöst.

Burkhardt A. (Hrsg.) 1990: Vineta. Sagen und Märchen vom O.strand. Rostock. Küster H. 2004: Die Ostsee. Eine Natur- und Kulturgeschichte. Küster H. 2004: Der Ostseeraum: Natur, Kultur, Identität. In: Heling A. (Hrsg.): Aufbruch zu einer neuen Wasserethik und Wasserpolitik in Europa, S. 12-21.

(Hansjörg Küster)

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