Russkaja pravda

Russkaja pravda (russ., „Russisches Recht“)

Das sog. Russische Recht ist die älteste ostslawische Rechtskodifikation, deren zentrale Teile auf das 11. Jh. zurückgehen. Mit Ausnahme des kirchlichen Bereichs regelte sie das gesamte Rechtsleben in der Kiewer Rus und beeinflusste später die Gesetzgebung der Moskauer Rus (Gerichtsbuch – ›Sudebnik‹ – von 1497) und des Großfürstentums Litauen (Statute des 16. Jh.). Zu jener Zeit implizierte das Wort ›pravda‹ die Bedeutung einer Einheit von rechtlichen, sozialen sowie moralischen Normen und hatte somit Rechts- und Gesetzescharakter. In der modernen russischen Sprache bedeutet ›pravda‹ nur noch „Wahrheit“, während „das Recht“ mit dem Begriff ›pravo‹ wiedergegeben wird.

Der Text ist in über 300 Abschriften aus dem 13.–18. Jh. in der Kanzleisprache der Kiewer Rus überliefert. Diese Abschriften befinden sich in Chroniken Novgoroder, Kiewer und Vladimir-Suzdalʹer Klöster und weiteren Rechtskodifikationen, wie dem sog. Steuermannsbuch (›Kormčaja kniga‹). Die erste Abschrift wurde in der „Ersten Novgoroder Chronik“ (›Novgorodskaja pervaja letopisʹ‹) 1738 von dem russischen Historiker Vasilij N. Tatiščev entdeckt. Die im Laufe der Zeit gefundenen weiteren Handschriften unterscheiden sich im Alter, den Überschriften, der Vollständigkeit der Texte und der thematischen Anordnung. Daher geht man davon aus, dass insgesamt drei Redaktionen existierten.

1) Die sog. kurze Redaktion („Kurzes Recht“, ›Kratkaja pravda‹) ist in Abschriften aus dem 15. Jh. überliefert. Sie beinhaltet 43 Artikel und geht zeitlich auf die Herrschaft Jaroslavs des Weisen (1016/19–54) und die seiner Söhne (Izjaslav, Svjatoslav und Vsevolod (bis 1093) zurück. Die ersten 18 Artikel stellen das „Recht des Jaroslav“ (›Pravda Jaroslava‹) dar, das die kurzgefassten Strafnormen des ostslawischen Gewohnheitsrechts enthält. Die Artikel 19–43 basieren auf dem „Recht der Söhne Jaroslavs“ (›Pravda Jaroslavičej‹) und der Hinzufügung eines „Wergeldkataloges“ (›pokon virnyj‹) und einer Vorschrift für Brückenobleute (›urok mostnikom‹). Die Darstellungen referieren gesetzgeberische und richterliche Unterscheidungen. Daher ist diese Redaktion eher als eine Rechtssammlung denn als Rechtskodex zu verstehen.
2.) Die sog. erweiterte/ausführliche Redaktion („Erweitertes/Ausführliches Recht“, ›Prostrannaja pravda‹) geht inhaltlich auf das „Recht des Jaroslav“ und das Statut Vladimir Monomachs (1113–25) zurück. In den 121 Artikeln sind v. a. zivil-, familien- und erbrechtliche Streitfragen ausführlich dargestellt. Sie spiegelt das Bild einer vom Fürsten geregelten Justiz und die rechtlichen Beziehungen der Oberschicht in den Handelsstädten (Kiew, Novgorod) wider.
3.) Die sog. verkürzte Redaktion („Verkürztes Recht“, ›Sokraščennaja pravda‹) entstand erst im 15. Jh. und ist wahrscheinlich eine gekürzte Fassung des „Erweiterten Rechts“. Die 50 Artikel zeigen eine Anpassung der alten gesetzlichen Richtlinien an die neuen Begebenheiten der Moskauer Rus.

Es existieren zahlreiche Theorien über die Herkunft und Entstehung des „Russischen Rechts“, das sowohl Elemente skandinavischer Rechtsvorschriften, des byzantinischen Rechts als auch des ostslawischen Gewohnheitsrechts enthält. Anzunehmen ist, dass letzteres grundlegend war und nach der Berufung der Warägerfürsten (862) durch skandinavische Rechtsbestandteile und nach der sog. Taufe der Rus (988) durch byzantinisches Kirchenrecht ergänzt wurde. Kiew gilt als Entstehungsort des Kodexes, der wohl den Status eines amtlichen fürstlichen und nicht nur den eines „privaten“ richterlichen Gesetzbuches hatte.

Vergleichbar mit der heutigen Rechtsordnung weist das „Russische Recht“ eine Systematisierung nach Strafrecht, Strafprozessrecht, Zivilrecht, Handelsrecht und Erbrecht auf.
Das Strafrecht umfasst Tötungsdelikte, Körperverletzungen und Eigentumsvergehen und setzt Schadensersatzleistungen in Form von Geldstrafen fest. Diese sind für die einzelnen sozialen Schichten: fürstliche Gefolgsleute, Edelleute, Bauern, Schuldknechte und Sklaven unterschiedlich geregelt. Die Söhne Jaroslavs ersetzten die Blutrache bei Tötungsdelikten durch die Zahlung von Wergeld. Die Eigentumsvergehen behandeln v. a. Diebstähle von Handelswaren: Honig, Biberfelle, Haus- und Jagdtiere (Falke, Habicht). Für Pferdediebe und Brandstifter ist die höchste Strafe – Verbannung – vorgesehen. Im Bereich des Strafprozessrechts nahmen die Fürsten großen Einfluss und minimierten somit die Rolle von Gemeindegerichten. Während eines gerichtlichen Ermittlungsverfahrens wurden sowohl Zeugen vernommen als auch Gottesgerichte mit Eisen- und Wasserproben durchgeführt. Das Zivilrecht beinhaltet Bestimmungen über die Schulden und Strafmaßnahmen bei unterlassener Zinsrückzahlung. Die Gesetze über die Kreditzinsen gehen auf Vladimir Monomach zurück und legen den Zinssatz bei Jahreskrediten auf ein Drittel der Summe fest. Ein in Abhängigkeit geratener Schuldknecht bleibt vor dem Gesetz weiterhin ein freier Mensch. Sklaven dagegen fungieren offiziell als Sache und haben somit keine Rechte. Die handelsrechtlichen Bestimmungen listen Rechte, Pflichten und Strafmaßnahmen für entstandene Schäden auf. Das Erbrecht basiert auf dem ostslawischen Gewohnheitsrecht mit einigen Entlehnungen aus dem byzantinischen Recht. Erbschaftsangelegenheiten sind nach der Zugehörigkeit zu sozialer Schicht und Geschlecht geregelt. Bekannt ist auch das schriftliche und mündliche Testament, das jedoch nur für die Privilegierten der Gesellschaft gilt.

Seit mehr als 250 Jahren weckt das „Russische Recht“ das wissenschaftliche Interesse von Historikern, Rechtsgelehrten, Archäologen und Linguisten. Die in den Rechtsvorschriften zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen politischen, ideologischen und sozialökonomischen Bedingungen sowie die damit verbundenen dualistischen Theorien machen den Kodex zu einem wichtigen Element des ostslawischen Kulturgutes. Zu seinen bedeutendsten Erforschern zählen neben Tatiščev Nikolaj M. Karamzin (1766–1826), Vasilij O. Ključevskij (1841–1911), Boris D. Grekov (1882–1953), außerhalb Russlands Leopold Karl Goetz (1868–1931), Henrik Birnbaum (1925–2002), Jan T. Knoph und Boris Unbegaun. Auch die zahlreichen Editionen unterstreichen die Bedeutung des Rechtstextes, die wohl wichtigste ist die erste akademische Ausgabe des „Russischen Rechts“ von 1940–63.
R. p. ist das älteste und wichtigste slawische Rechtsdenkmal, das der Nachwelt. Einblick in die gesellschaftliche Entwicklung der Kiewer Rus vom Gewohnheitsrecht hin zu einer kodifizierten Rechtsordnung, wenn auch noch ohne rechtswissenschaftliche Fundierung, gibt.

Grekov B. M. (Hg.) 1940: Pravda Russkaja. Teksty I. Leningrad. Knoph J. T. 1994: Den Rosʹka Rättens Rötter. En historiografisk studie av åsikterna om den ryska rättens ursprung. Uppsala. Latynin L. A. 2003: Russkaja Pravda. Tomsk.

(Elena Jochim)

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