Litauer (Überblick)
Litauer (litau. Lietuviai)
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1 Definition
Die L. sind ein zur baltischen Gruppe der Indoeuropäer zählendes Volk, das die absolute Mehrheit der Bevölkerung der heutigen Republik Litauen bildet. 2001 waren von den insgesamt rd. 3,48 Mio. Einwohnern der Republik 83,45 %, d. h. 2,91 Mio. ethnische L. Laut Zensus von 1991 waren es noch 2,98 Mio. L. gewesen, rückläufige Geburtenziffern und Emigration führten seither zu negativen Wachstumsraten der ethnischen Gruppe, wie auch der Gesamtbevölkerung (2005: 3.403.284; 1991: 3.706.299). Insgesamt lässt sich die Zahl der L. in der Welt auf rd. 4 Mio. beziffern.
Die litauische Sprache, geschrieben im lateinischen Alphabet mit diakritischen Zusätzen, ist offizielle Staatssprache der Republik. Die L. und die benachbarten Letten sind die einzigen Völker (und Sprachgemeinschaften) von den einst zahlreichen baltischen Stämmen (u. a. Kuren, Prußen, Semgaller, Sudauer), welche die Geschichte überdauert haben und heute eigene Staaten bilden.
2 Geschichte
2.1 Herkunft und Siedlungsgebiet
Ein präzise Datierung der Ethnogenese der L. ist bisher nicht möglich. Für den Zeitraum um 2500 v. Chr. sind Ackerbauern und Viehzüchter, Angehörige der Bandkeramik-Kultur, in dem Raum nachweisbar, der ungefähr der Fläche der gegenwärtigen Staaten Lettland und Litauen entspricht. Aus dieser zentralbaltischen Bevölkerung dürften die späteren litauischen Stämme hervorgegangen sein, die sich in Spätantike und frühem Mittelalter unter den Bedingungen skandinavischen Drucks von Westen und slawischer Wanderung im Osten bildeten. Sie siedelten bereits im 4. Jh. n. Chr. in den Stromgebieten von Memel und Neris, errichteten Wallburgen auf Anhöhen und führten die Brandbestattung in Hügelgräbern ein. Ausgrabungen wiesen in der Nähe von Kretinga in Westlitauen eine Burganlage aus dem 9. Jh. nach, bei der sich eine bedeutende Siedlung auf einer Fläche von mehr als 50.000 m² befand. Für diese Zeit ist – auch auf der Basis schriftlicher Quellen zu den westbaltischen Stämmen der Prußen und Kuren – ein entwickeltes Feudalsystem unter den L.n anzunehmen.
Die Bezeichnung „Litauen“, in der Form des lateinischen Genitivs Singular ›Lituae‹, ist erstmals in den „Quedlinburger Annalen“ (Annales Quedlinburgenses) aus dem Jahr 1009 überliefert. In russischen Chroniken des 11. und 12. Jh. wird mehrfach das Land ›Litva‹ erwähnt. Wenig später sind die beiden großen ethnischen Untergruppen der L. – Aukštaiten im Osten und Žemaiten im Westen des heutigen Siedlungsraumes – nachweisbar.
Unter den Theorien zur Etymologie der Bezeichnungen ›Lietuviai‹ („Litauer“) und ›Lietuva‹ („Litauen“) hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass sie auf das Hydronym ›Lietauka‹ (ein kleiner Zufluss der Neris, ursprünglich wohl ›Lietava‹) zurückzuführen seien. Das Gewässer durchläuft das Kerngebiet litauischer Besiedlung unweit des ersten Herrschaftssitzes, Kernavė, des sich im 12. und 13. Jh. formierenden Großfürstentums. Das Vordringen slawischer Stämme seit dem 6. Jh. n. Chr. in ostbaltisch besiedelte Regionen, im 10. Jh. schließlich bis zum Oberlauf des Dnjepr, führte nicht nur zur allmählichen Assimilation der ursprünglich baltischen Bewohner, sondern zunächst zu gegenseitigen kulturellen Innovationen, nicht zuletzt zum Austausch sprachlicher Elemente. Von diesen Vorgängen waren die L. am östlichen und südöstlichen Rand ihres Siedlungsgebietes ebenfalls betroffen. Andererseits führten deutsche und skandinavische Kolonisationsversuche an den Ostseeküsten und das Vordringen der Ritterorden seit dem 13. Jh. aus Westen und Nordwesten zur Aufnahme und Assimilation westbaltischer Stämme (Kuren, Semgaller, Sudauer u. a.) in den litauischen Subethnos der Žemaiten.
Überdies bildeten sich dank dieser Prozesse zwei weitere Untergruppen der L., die bis in die Gegenwart durch Besonderheiten in Dialekt und Volkskultur ethnographisch zu identifizieren sind: Dzūkai („Dzuken“) im Südosten des heutigen Litauen und Suvalkiečiai („Suwalken“) westlich des Mittellaufes der Memel.
Die endgültige Formierung des litauischen Volkes im Sinne einer ethnisch spezifischen Einheit und dann auch einer Nation vollzog sich im Zeitraum zwischen der ersten Staatsgründung des Königs Mindaugas (1253–63) im 13. und der Christianisierung des Großfürstentums im frühen 15. Jh. Sein Siedlungsraum reichte jetzt von der Ostseeküste im Westen bis in die heutigen Grenzregionen Weißrusslands und das gegenwärtige Nordpolen (Gegend um Suwałki und Augustów im nördlichen Podlachien).
Obwohl zur Zeit der größten Ausdehnung des Reiches unter Großfürst Vytautas (1392–1430) bis an die Schwarzmeerküste alle seine Bewohner als L. bezeichnet werden konnten, blieb der Staat doch multiethnisch und vielsprachig. Die relativ kleine Gruppe der ethnischen L. – sie wird für das 15. Jh. auf max. 500.000 Köpfe geschätzt – vermochte das riesige Gebiet kulturell und sprachlich nicht zu assimilieren. Mangels einer eigenen Schriftsprache bediente sich die Hofkanzlei des Altweißrussischen für den inneren Schriftverkehr, des Lateinischen für die Kommunikation mit dem europäischen Westen, mitunter auch des Deutschen im Kontakt mit dem Deutschen Orden.
Auf Wanderungsbewegungen des frühen Mittelalters und politische Entwicklungen in Hoch- und Spätmittelalter ist die Existenz autochthoner litauischer Minderheiten in den heutigen Nachbarstaaten, v. a. Polen (5846) und Weißrussland 6400 (2004) zurückzuführen. Ebenso aber auch die Präsenz slawischer Minderheiten, insbesondere im Osten und Südosten Litauens. Ferner beeinflusste innovative und politisch gewollte Zuwanderung im 15. und 16. Jh. die Bevölkerungsstruktur der litauischen Kerngebiete. Tataren und Karäer (litau. Karaimai) wurden als Handwerker und Krieger, Deutsche als Bauern und Kaufleute ins Land gezogen. V. a. gewährten die Großfürsten den aus Westeuropa vertriebenen Juden, ähnlich wie Polens Könige, bereitwillig Zuzug und besondere Privilegien samt Selbstverwaltung. So wurden schließlich Juden zur – neben den Polen – bedeutendsten Minderheit innerhalb der litauischen Bevölkerung.
2.2 Klein- oder Preußisch-Litauer
Die bis 1945 im nordöstlichen ehemaligen Ostpreußen und Memelland ansässigen Preußisch-Litauer, durch gemeinsame Sprache und Kulturelemente den L. verbunden, stellten einen durch andere politische und religiöse Sozialisation geprägten litauischen Subethnos dar, der als Folge des Zweiten Weltkrieges unterging.
siehe: Preußisch-Litauer
2.3 Emigration, Flucht und Deportation
Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen emigrierten L. seit der ersten Hälfte des 19. Jh. in mehreren größeren Wellen nach Westeuropa und Übersee. Die missglückten polnisch-litauischen Aufstände gegen das russische Regime 1830/31 und 1863 zwangen v. a. zahlreiche Angehörige des bei der Rebellion führenden Kleinadels zur Flucht ins Exil, bevorzugt nach Frankreich. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Zarenreich 1861 und als Folge der damit einhergehenden Kapitalisierung in der Landwirtschaft sahen sich große Teile der nun ohne Landbesitz zurückgebliebenen unterbäuerlichen Schichten zur Auswanderung genötigt, deren gefragtestes Ziel die „Neue Welt“, insbesondere die USA waren.
Die Zahlen der frühen Emigration bis 1898 sind nicht zuverlässig zu ermitteln, da bei den Einwanderungsbehörden nicht zwischen L.n und Polen unterschieden wurde, man geht für die Zeit von 1868–98 von rd. 100.000 L.n und litauischen Juden aus. Die größten litauischen Kolonien bildeten sich um die Kohlengruben in Pennsylvania, wo sich heute 78.330 Personen zur litauischen Herkunft bekennen (11,9 % aller L. in den USA). Zur Massenbewegung wurde die Emigration aus Litauen in den Jahren 1899–1914. Bevölkerungswachstum und mangelnde Industrialisierung trieben 252.600 L. allein in die USA, wo sie sich in den Großstädten wie Boston, Chicago, Philadelphia und New York niederließen. Weitere Ziele waren Industriegebiete im damaligen Russland, wie St. Petersburg oder Riga sowie England, Kanada, Lateinamerika, Südafrika und – in geringerem Ausmaß – das deutsche Ruhrgebiet. Auch die Gründung der Republik Litauen konnte die Auswanderung nicht beenden. Zwischen 1918 und 1939 verließen 82.700 L. ihre Heimat, v. a. nach Argentinien (17.000) und Brasilien (30.000). Die große Fluchtwelle beim Vormarsch der Sowjetarmee im Sommer 1944 führte weitere geschätzte 100.000 L. außer Landes, u. a. große Teile der Intelligenz.
Sie trafen nach Kriegsende in Deutschland als sog. DPs (Displaced Persons) in Lagern mit zahlreichen ehemaligen litauischen Zwangsarbeitern und -innen sowie in die KZs Verschleppten zusammen. Nur wenige von ihnen kehrten in die Litauische SSR zurück, 10–15.000 verblieben in Deutschland, der weitaus größte Teil übersiedelte bis Anfang der 50er Jahre in die USA, nach Kanada und Australien. Einen beträchtlichen Verlust stellten die sowjetischen Deportationen dar.
Kurz vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden in einer Blitzaktion des NKWD als „politisch unzuverlässig“ geltende Familien in die UdSSR deportiert, insgesamt etwa 18.000 Personen. Während der Repressionsjahre in der Stalinära von 1946–53, die außerdem zahlreiche Todesopfer im litauischen Widerstand forderten, wurden mindestens weitere 150.000 Menschen in die Tiefen Sibiriens verschleppt.
Während die L. in den kleineren Emigrationsgemeinden sich vergleichsweise schnell assimilierten, so z. B. in Südafrika oder Lateinamerika, integrierten sie sich in den Zentren Nordamerikas oder Australiens zwar rasch gesellschaftlich, wussten jedoch ihre kulturelle und nationale Identität sowie lebhafte Kontakte zum Heimatland ausdauernd zu bewahren. Kennzeichnend dafür sind die zahlreichen litauischen Verbände, Vereine, Kirchengemeinden, Presseorgane und kulturellen Einrichtungen z. B. in den USA, darunter Auslandssektionen politischer Parteien und das einflussreiche, 1943 noch gegen die deutsche Besatzung gegründete, „Leitende Komitee zur Befreiung Litauens“ (litau. Vyriausias Lietuvos Išlaisvinimo Komitetas, Abk. VLIK), das seit 1955 eine rege lobbyistische und publizistische Tätigkeit von New York aus entfaltete und bis 1990 arbeitete. In den USA wurden 1990 nach Selbstzuordnung 526.089 Personen mit litauischer Abstammung registriert, die Zahl dürfte inzwischen durch legale und illegale Zuwanderung wesentlich gewachsen sein.
Die Gesamtzahl der im Ausland lebenden Personen litauischer Herkunft oder Nationalität wird gegenwärtig – genaue Zahlen sind kaum zu erheben – auf rd. 1 Mio. geschätzt, etwa 80 % davon sollen sich in den USA befinden. Litauische Auslandsorganisationen (Volksgemeinschaften, Kulturvereine etc.) gibt es inzwischen in 35 Ländern. Größere Gruppen von L.n gibt es auch in Russland (2000: 45.569), Lettland (2004: 31.717) und Deutschland (2005 ca. 17.000). Besonders stark wächst z. Zt. ihre Zahl in Irland (seit 2004 wurden 35.497 Arbeitserlaubnisse für litauische Staatsangehörige ausgestellt), was v. a. mit den attraktiven Arbeitsmarktbedingungen für Staatsangehörige der neuen EU-Mitglieder zusammenhängt.
3 Ethnologie
3.1 Mythologie und Religion
Obwohl die L. erst 1387 – als letztes Volk Europas und vorerst nur offiziell – das Christentum annahmen, sind, als Folge der schriftlosen Kultur, über ihre vorausgehende heidnische Religion nur wenige Einzelheiten bekannt. Diese verbinden sie eng mit den ebenso dürftig dokumentierten religiösen Anschauungen der übrigen baltischen Stämme, v. a. der Prußen. Die wesentlichen Nachrichten über Gottheiten und Bräuche der Balten wurden ausschließlich von Außenstehenden, christlichen Missionaren, Reisenden, in slawischen Chroniken und von Angehörigen des Deutschen Ordens überliefert und müssen entsprechend kritisch gelesen werden. So berichtete Peter von Dusburg in seiner 1326 abgeschlossenen Chronik von einem Oberpriester ›Criwe‹, der als „Papst“ verehrt worden sei und Prußen wie L. und andere baltische Stämme gelenkt und das „ewige Feuer“ gehütet habe. Er schilderte animistische Praktiken der Prußen, bei denen nicht nur Sonne, Mond und Sterne, sondern auch Vögel, vierfüßige Tiere und besonders Kröten als „göttlich“ verehrt worden seien.
Solche und ähnliche Mitteilungen geben erst gemeinsam mit der Auswertung archäologischer Befunde und der Untersuchung der reichen Folklore der L. ein einigermaßen zutreffendes Bild der heidnischen Religion. Demnach setzte sich der mythologische Kosmos der L. aus einer vor- und gemein-indoeuropäischen, einer gemeinsam baltischen und einer jüngeren, nur litauischen Schicht zusammen. Er bestand im wesentlichen aus einigen erstrangigen Göttern und einer Vielzahl zweitrangiger göttlicher Wesen, die als Feld- und Hausgeister meist wenig individualisiert, teilweise mythisierte Menschen oder Tiere, z. B. Kröten und Nattern, waren.
Oberste Gottheit war ›Dievas‹ (vgl. latein. deus, griech. Zeus) oder ›Nunadievis‹, Hüter des Himmels, Lenker menschlichen Geschickes und zuständig für das Recht. Sein Name wurde später zur Bezeichnung des christlichen Gottes, der auch seine Funktion in der mündlich überlieferten Volksliteratur übernahm. Ihm zunächst stand der offenbar ungleich populärere ›Perkūnas‹, Gott des Donners und Blitzes sowie des Krieges. Eine bedeutende Rolle fiel ›Teliavelis‹ zu, der, oft als Schmied gedacht, die Sonne bearbeitete. Als unterirdische Gottheit fiel ihm die Verantwortung für Magie, Zauberei, Viehzucht, Handel und v. a. das Totenreich zu. In der Folklore wurde er unter dem Namen ›Velnias‹ später zur beliebtesten mythischen Wesenheit und mutierte nach der christlichen Überformung der mythologischen Anschauungen zum Teufel. Ferner nennen die Quellen die Waldgöttin ›Medeina‹ und eine Göttin ›Žvorūnė‹, deren Funktionen auf den Gebieten Ackerbau und Jagd gelegen zu haben scheinen. Beide dürften aus der ältesten Schicht einer vor-indoeuropäischen, matriarchal gestalteten Weltanschauung stammen. Das vorchristliche Weltbild der L., konkretisiert in ihren mythologischen Vorstellungen, hatte den Kosmos vertikal in drei Sphären unterteilt: eine unterirdische, eine irdische und eine des Himmels.
Ein Weltenbaum – vergleichbar der altnordischen Esche ›Yggdrasil‹ – als ›imago mundi‹, dessen Wurzeln die unterirdische, dessen Stamm die irdische und dessen Krone die himmlische Sphäre bildeten, machte diese Vorstellung anschaulich. Für die kultische Praxis kannten die L. heilige Plätze in Wäldern und aus Holz gebaute Tempelbezirke auf Anhöhen. Solche ließen sich durch Grabungen im ostbaltischen Gebiet nachweisen. Gegenwärtig in Litauen noch geläufige Ortsbezeichnungen, in denen die Wurzel *ram oder *rom, d. h. „Ruhe“ oder „Schweigen“, aufscheint, verweisen auf solche einstigen Sakralbezirke. So z. B. der Hügel ›Rambynas‹ am Nordufer der unteren Memel unweit von Tilsit. In den chronikalischen Quellen werden Wald- und Feuerkulte hervorgehoben, Magier hätten ein heiliges Feuer unterhalten und dort die Zukunft gedeutet – das berichtete jedenfalls Jan Długosz in seiner ›Historia Polonica‹ (bis 1480). Bedeutender für die einfache bäuerliche Bevölkerung dürfte die Vielzahl der in ihrer unmittelbaren Nähe praktizierbaren Kulte um Bäume, Steine, Quellen und beim und im Hause gewesen sein. Die gesamte umgebende Natur dachte man sich – darin slawischen Vorstellungen sehr ähnlich – von Geistwesen belebt, die für Fruchtbarkeit der Felder, Mensch und Vieh verantwortlich sein konnten und denen regelmäßig geopfert werden musste.
Es waren diese privaten Kulthandlungen und die mit ihnen verbundenen Gottheiten – z. B. die Erdgöttin ›Žemyna‹ oder ›Laimė‹, Göttin der Geburt und des menschlichen Lebens – welche die Christianisierung der L. seit Ende des 14. Jh. weit überdauerten. So berichteten in Wilna tätige Jesuiten in ihren Tagebüchern zu Anfang des 17. Jh. von Opfergaben, die Frauen vor Steinen niederlegten, die der Göttin ›Laimė‹ geweiht waren. Žemaitijas Bischof Petras Parčevskis forderte im 17. Jh. mit einem Rundschreiben die Bauern auf, endlich die Tonschalen aus ihren Häusern zu werfen, in denen, verborgen unter Gerümpel in einer Stubenecke, einer Hausgöttin Speisen geopfert wurden. Zu den ersten Maßnahmen der kirchlichen Obrigkeit nach der Annahme des lutherischen Glaubens im Herzogtum Preußen gehörte ein Erlass, der den preußischen L. das Ritual des Bocksopfers untersagte und 1540 wiederholt werden musste. Visitationsberichte protestantischer Pfarrer in den litauischen Gegenden Ostpreußens beklagten noch im 18. Jh. versteckte Opferstellen auf den Gehöften ihrer Pfarrkinder.
Mit der offiziellen Annahme des römisch-katholischen Christentums – 1387 in Aukštaitija, 1413 in Žemaitija – begann also für die breite Masse der L. eine Jahrhunderte währende Übergangszeit des religiösen Synkretismus, dessen deutliche Spuren schließlich noch in agrarischen Bräuchen des frühen 20. Jh. – etwa beim ersten Austrieb des Viehs im Frühjahr – zu finden waren. Zwischen der Taufe der L. und dem Beginn der Reformationsbewegung in Deutschland lag nur wenig mehr als ein Jahrhundert. Das evangelische Bekenntnis erreichte die L. im wesentlichen wiederum, wie schon der römisch-katholische Glaube, vom Königreich Polen aus. Gleichwohl waren es deutsche Kaufleute und Handwerker in Wilna, – begünstigt durch die Wendung zur Reformation im früheren Ordensstaat Preußen – die als erste die protestantische Lehre Luthers aufnahmen und weitergaben. 1540 predigten Franziskaner in der „St. Annen-Kirche“ (Šv. Onos) in Wilna die neue Lehre. Obwohl König Sigismund August (1548–72) weitgehende religiöse Freiheit ermöglichte, scheint sich unter der Masse der Landbevölkerung im Großfürstentum die Reformation kaum wirklich durchgesetzt zu haben. Der bald in Litauen wie in Polen dominierende Calvinismus fand seine Anhängerschaft hauptsächlich im städtischen Milieu und im Adel, mithin unter den gesellschaftlich aktivsten und gebildeten Schichten.
Die protestantische Konversion der Fürsten Radvila (poln. Radziwiłł), Mikalojus gen. Juodasis („der Schwarze“, 1515–65) und Mikalojus gen. Rudasis („der Rote“, 1512–84), beide Großkanzler Litauens und Woiwoden von Wilna, hatte Vorbildcharakter. 1563 waren von den 18 Mitgliedern des litauischen Magnatenrates (Ponų taryba) zehn Calvinisten. Als jedoch ein anderer Radvila, Mikalojus Kristupas (1549–1616), 1567 mit einem großen Teil der Familie zum alten Glauben zurückkehrte, folgte ihm darin der Hochadel weitgehend und eröffnete der Gegenreformation alle Möglichkeiten. 1570 wurde in Wilna ein Jesuitenkolleg eröffnet. Glaubenskriege allerdings blieben Litauen erspart. Auch wenn nach der Rekatholisierung Orthodoxe und Protestanten im 18. Jh. diskriminiert wurden, blieb ihnen doch freie Religionsausübung erhalten. Eine reformierte Minderheit hielt sich im Norden Litauens in der Gegend von Biržai, protestantische Gemeinden der lutherischen Richtung blieben im Westen und Südwesten des Landes erhalten, wo ihnen nicht nur ethnische L., sondern auch Deutsche angehörten. Wenn die L. heute allgemein und auch im Selbstverständnis als römische Katholiken gelten, so bleibt doch die Vielfalt der Religionsgemeinschaften zu beachten, die, z. T. ethnisch orientiert, in der Bevölkerung traditionell verankert sind: neben Katholiken und Protestanten sind es russische Orthodoxe und priesterlose Altgläubige, Juden und Muslime.
3.2 Volkskultur
Die geographischen und politischen Verflechtungen der L. mit ihren baltischen und slawischen Nachbarvölkern führten nicht nur zu sprachlichen, sondern auch zu umfassenderen gegenseitigen kulturellen Innovationen. Das gilt sowohl für die geistigen als auch für die materiellen Produkte und die sozialen Lebensformen.
Ebenso wie ihre baltischen Nachbarn, die Letten, gelten die L. als Volk der Lieder und des Gesanges. Die Sammlungen litauischer Volkslieder (Dainos) umfassen inzwischen allein in den Archiven des „Institutes für litauische Literatur und Volksdichtung“ (Lietuvių literatūros ir tautosakos institutas) in Wilna fast 690.000 Aufzeichnungen von Texten und ihren Varianten, die meisten davon mit den zugehörigen Melodien. Diese lyrischen Schöpfungen ließen sich aus allen Gegenden des litauischen Kulturraumes gewinnen, also auch aus dem ehemaligen Preußisch-Litauen und den Siedlungsgebieten in Polen und Weißrussland. Die meisten Lieder standen und entstanden in eindeutigem funktionellen Zusammenhang. Sie dienten als Scherz- und Tanzlieder der Jugend bei der Annäherung der Geschlechter, begleiteten das Hochzeitszeremoniell von der Werbung bis zum Einzug der Braut ins Haus des Mannes, förderten als Trinklieder die Geselligkeit und begleiteten als Arbeitslieder sämtliche agrarischen Tätigkeiten, insbesondere, wenn sie, wie Roggenschnitt, Heuernte, Leinenverarbeitung u. a., kollektiv geleistet wurden. Sie propagierten insgesamt Moral und Werte der bäuerlichen Lebenswelt. In den ältesten Schichten der überlieferten Lieder finden sich Elemente der alten baltischen Mythologie, Sonne und Mond, die einstigen Zentren in den kosmologischen Vorstellungen, werden darin besungen. Das thematische Spektrum wurde im 20. Jh. noch beträchtlich erweitert, als Emigranten, nach Sibirien Verschleppte und antisowjetische Partisanen ihre Nöte oder Kampfbereitschaft in den traditionellen Formen der Dainos ausdrückten. Als privat und öffentlich gepflegte Folklore spielt das tradierte Liedgut eine bedeutende Rolle auch im gegenwärtigen kulturellen Leben der L. Es gestattet alles in allem den vielleicht tiefsten Einblick in Mentalität und historisches Gesellschaftsbild des Volkes.
Deutlicher noch als im Lied treten Gestalten und Glaubensinhalte der alten baltischen Religion in der erzählenden Volksdichtung zutage. Gewiß ist das litauische Märchen eingebunden in die Motivstrukturen des europäischen Volksmärchens, ebenso wie es dessen typisiertes Figurenaufgebot kennt. Gleichwohl gibt es als Besonderheiten die Protagonisten der einstigen mythologischen Vorstellungen: der Donnergott Perkūnas, die bösartigen Laumės und die Schicksalsgöttin Laimė bevölkern die Märchen ebenso wie die im Volksglauben bis in die Neuzeit verehrten „heiligen“ Tiere, Schwäne, Kröten und v. a. Nattern. Gleichfalls von europäischen Wandermotiven ist die litauische Sagenwelt geprägt. Aber auch in diesen der historischen und sozialen Realität näher als das Märchen stehenden Erzählungen tritt dem Menschen das numinose Personal der Mythologie gegenüber, bedrohlich oder hilfreich in der Sage, verspottet – v. a. der Teufel – in zahlreichen Schwankgeschichten. Die alltägliche Arbeitswelt der bäuerlichen Bevölkerung wird darin Schauplatz der Begegnung mit den übernatürlichen Figuren: der Acker während der Feldarbeit, die weit abseits des Dorfes liegende Hutweide oder – als Erzählstoff besonders beliebt wegen des unheimlichen Ambientes – die Nachthütung der Pferde durch die ältere Dorfjugend. Insgesamt über 192.000 solcher volksliterarischer Erzähltexte wurden in Litauens Archiven gesammelt, ergänzt durch mehr als 360.000 kürzere Texte: Anekdoten, Memorate und Volksglaubensweisheiten. Die Anzahl der aufgezeichneten Sprichwörter und Redensarten liegt jenseits der 200.000.
Ungeachtet aller Gemeinsamkeiten lassen sich doch innerhalb des litauischen Siedlungsraumes vier ethnographische Regionen unterscheiden, die annähernd mit den vier großen Dialektzonen des Landes übereinstimmen: Žemaitija (Niederlitauen) im Westen, Aukštaitija (Hochlitauen) nordöstlich daran anschließend, Dzūkija, im Südosten an Polen und Weißrussland angrenzend und Suvalkija, westlich des großen Memelbogens bis zu den Grenzen Polens und des heutigen Kaliningrader Gebietes (früher Ostpreußens) reichend. Sieht man von den Unterschieden z. B. in der Weise des Singens oder in den traditionellen Trachten und den zugehörigen Webmustern ab, fallen insbesondere die mehr oder weniger voneinander abweichenden Bau- und Siedlungsformen ins Auge. Sie waren wiederum von wirtschaftlichen Erfordernissen ebenso abhängig wie von dirigistischen Eingriffen der feudalen Grundherren und jeweiligen Regierungen. Kennzeichnend für die traditionelle Lebensweise des litauischen Dorfes ist – wie bei den slawischen und lettischen Nachbarn – eine ausgeprägte Holzkultur. Sie dominierte, angesichts des Waldreichtums der gesamten Region naheliegend, bis ins 20. Jh. hinein nicht nur den Hausbau, sondern auch die Produktion von Geräten und ästhetischen Artefakten wie Gebäudeschmuck und Skulpturen. Nicht zuletzt war sie Voraussetzung dafür, dass die bäuerlichen Gehöfte in gewisser Weise mobil blieben, mussten sie doch anlässlich wechselnder Siedlungsanforderungen mitunter versetzt werden.
In Žemaitija, wo die Umsiedlung der Bauern in Straßendörfer im 16. Jh. nie flächendeckend vollzogen, die Rücksiedlung in Einzelhöfe jedoch schon früh im 19. Jh. begonnen wurde, nahmen die Hofanlagen vergleichsweise viel Raum ein. Die Einzelgebäude – Wohnhaus (troba), Ställe, Scheune, Dreschtenne, Vorratshaus (klėtis), Trockenschuppen, Badehütte und Keller – gruppierten sich meistens um zwei Innenhöfe herum: den Wirtschafts- und den „guten“ Hof. Bis ins 19. Jh. war hier noch gelegentlich eine archaische Form des Wohnhauses zu finden, ein Rauchhaus (numas) mit offener Feuerstelle in der Mitte und Rauchabzug durch das Dach. Ähnlich gestalteten sich die Siedlungsverhältnisse im südlich benachbarten Suvalkija, wo bereits während der kurzfristigen preußischen Herrschaft 1795–1807 (Neuostpreußen) mit der Separation der Dörfer in Einzelhofsiedlung begonnen worden war. Die fruchtbare Schwarzerde und frühzeitige Bauernbefreiung ließen hier relativ wohlhabende Höfe entstehen, die planmäßig inmitten ihrer jeweiligen Gewanne entlang eines Weges angelegt waren. Die Gebäude umgaben einen rechteckigen Hof, die Scheune immer dem Wohnhaus, das Vorratshaus den Ställen gegenüber. Die so entstandenen einzelhöfigen Zeilendörfer blieben nur für diese Gegend charakteristisch. Während in den fruchtbaren und eher waldarmen Ebenen im westlichen Aukštaitija die Einzelhofsiedlung vorherrschte, waren weiter östlich, im wasserreichen Hügelland Straßendörfer die Regel. Die einzelnen Wirtschaften situierten häufig ihre Gebäude beiderseits der Dorfstraße, das Wohnhaus mit Garten auf der einen, die Wirtschaftsbauten auf der anderen Seite. In den Haufendörfern der sandigen Waldgebiete von Dzūkija mit ihren gewundenen Dorfstraßen findet sich eine für diesen Landstrich eigentümliche Siedlungsweise: hinter dem ersten Wohnhaus, mit der Giebelseite zur Straße, reihen sich ein oder zwei weitere Häuser meist eines größeren Familienverbandes in die Tiefe, denen die Wirtschaftsgebäude jeweils gegenüberliegen. Mehrere miteinander verwandte Familien teilten sich so eine gemeinsame Zufahrt samt Wirtschaftshof. Die Wohnhäuser enthielten teilweise, durch einen zentralen Flur getrennt, je eine Wohnung auf beiden Giebelseiten. Diese Wohnverhältnisse verweisen auf die gerade in Dzūkija bis ins 20. Jh. ausdauernde Institution der drei Generationen umfassenden Großfamilie (draugė oder broliava) unter Leitung eines „Alten“ oder auch einer „Alten“. Gründeten mehrere herangewachsene Nachkommen eigene Familien, wurde ein weiteres Haus gebaut und die Wirtschaft gleichwohl weiter gemeinsam betrieben.
Die unterschiedlichen Siedlungsweisen wirkten sich auf die soziale Kultur im litauischen Dorf aus, die insbesondere durch die gemeinsame Bewältigung komplexer Arbeitsaufgaben bestimmt war. Zu Hausbau, Flachsverarbeitung, Schlachtung oder Dreschen bspw. wurden die Nachbarn und deren Gesinde zur ›Talka‹ gebeten – ohne Bezahlung, aber auf Gegenseitigkeit und mit großzügiger Bewirtung. Diese Bitthilfe wurde im Straßendorf intensiver gepflegt und erstreckte sich auf mehr Arbeitsvorgänge als in der Einzelhofsiedlung. Ebenso verlor die gemeinsame Hütung des Viehs eines ganzen Dorfes unter Leitung eines Oberhirten und mit Hilfe einiger Kinder – in Dzūkija bis zur Mitte des 20. Jh. üblich – dort ihre Funktion, wo die Wirtschaften separiert worden waren. Selbst wenn es noch gemeinsam zu nutzende Weideflächen gab, begannen die Höfe, ihr Vieh individuell zu hüten. Wenig berührt von der Siedlungsform blieb ein anderer Aspekt des Helfens und der wechselseitigen Verantwortung, der charakteristisch für die soziale Kultur des litauischen Dorfes war: die gemeinsame Versorgung von in Not geratenen Nachbarn – etwa Abgebrannten, auch aus anderen Dörfern – und den von Haus zu Haus ziehenden Bettlern. Alte und kranke Bettler konnten darauf hoffen, in einem der ihnen vertrauten Dörfer reihum von den einzelnen Höfen aufgenommen, versorgt und nach festgesetzter Frist zum nächsten Hof weitertransportiert zu werden.
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