Memel (Fluss)

Memel (litau. Nemunas, russ. Neman, weißruss. Nëman; poln. hist. Niemen); Fluss auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland und Litauens.

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die M. hat eine Länge von 937 km und entwässert eine Fläche von 98.200 km². Sie fließt von der Quelle südwestlich von Minsk zunächst in südliche Richtung in gewundenem Flussbett durch die Memelniederung. Beim Durchschneiden des Baltischen Landrückens bildet der Fluss große Schleifen und Stromschnellen. Auf der ganzen Strecke des Flusses gibt es viele Sandbänke und Furten. Im unteren Flusslauf in Litauen und nahe der Küste windet sich die M. durch ein breites Tal, im Flussbett befinden sich hier zahlreiche Inseln. Die M. mündet in einem Delta ins Kurische Haff. Im Einflussgebiet der M. gibt es viele, flache Seen. Der mittlere Wasserabfluss beträgt 678 m³/sek. Die Frühlingshochwasser dauern von Mitte März bis Ende Mai; der sommerliche mittlere Wasserstand wird von Regenfluten unterbrochen. In der Flussmündung ist der Wasserstand abhängig vom an- bzw. ablandigen Wind. Der herbstliche Eisgang setzt etwa Ende November ein. Die M. friert gewöhnlich im Dezember zu, aber während des Winters kann es zur zeitweiligen Schmelze mit Eisgang kommen. In der Regel setzt die Schmelze Ende März ein.

Die wichtigsten Nebenarme sind links des Hauptarms: Matrosovka (russ., dt. hist. Gilge) und Rusnė (litau.) rechts des Hauptarms. Die Hauptnebenflüsse sind rechtsseitig: Merkys (litau.), Nėris (litau., weißruss. Vilija), Nevėžis (litau.), Minija (litau.); linksseitig: Ščara (russ., weißruss.) und Šešupė (litau., russ. Šešupe) und Tylʹža (russ., dt. hist. Tilse, poln. hist. Tylża). Die M. ist flößbar und regulär schiffbar von Birštonas an.

Sie ist über den Ogiński-Kanal (russ./weißruss. kanal Oginskogo) mit dem Dnjepr und über den Augustów-Kanal mit der Weichsel verbunden. Die wichtigsten Städte am Fluss sind: Stoŭbcy (weißruss., russ. Stolbcy), Masty (weißruss., russ. Mosty), Hrodna (weißruss., russ. Grodno), Druskininkai, Alytus, Kaunas, Jurbarkas, Neman, Sovetsk und Rusnė. Bei Kaunas befindet sich ein Wasserkraftwerk, außerdem ein Staubecken. Eine Folge der Wasserschmutzung, die v. a. durch Betriebe der Baustoff-, Chemie- und Papierindustrie und insbesondere Industriebrachen entlang der M. verursacht wird, ist die zunehmende Gefährdung der Trinkwasserversorgung und des ökologischen Gleichgewichtes sowie nicht zuletzt der Nationalparklandschaft ›Dzūkijos Nacionalinis Parkas‹ im Bereich des Zusammenflusses von M. und Merkys.

Anfang

2 Kulturgeschichte

Im Einzugsgebiet der M. siedelten im frühen Mittelalter am Oberlauf slawische und am Unterlauf baltische Völker (u. a. Kuren). Die M. war seit dem 9./ 10. Jh. Teil der von der Ostsee zum Schwarzen Meer führenden Handelswege. Im Zuge der deutschen Ostkolonisation und dem Ausgreifen des Schwertbrüderordens und nachfolgend des Deutschen Ordens auf die Süd- und Ostküste der Ostsee geriet der Unterlauf der M. unter deutschen Einfluss. Davon künden zahlreiche Burggründungen, die meist den Kern späterer Städte bildeten, z. B. M. (dt. hist., heute litau. Klaipėda) 1252, Tilsit (dt. hist., heute russ. Sovetsk) und Ragnit (dt. hist., heute russ. Neman) 1288, Bayerburg 1337. Grodno erhielt 1391, Kaunas 1408 Magdeburger Recht.

Die bis Anfang des 15. Jh. strittige Grenze zwischen dem Ordensland und dem Großfürstentum Litauen verlief im Norden etwa entlang der unteren M., im Osten an der mittleren M., durch das dünn besiedelte Gebiet der sog. Großen Wildnis. Nach den Festlegungen des Friedens von Melnosee 1422 wurde der Unterlauf der M. einschließlich der Stadt M. Teil des Ordenslandes (später Herzogtum Preußen bzw. Ostpreußen), während der Mittel- und Oberlauf zum Großfürstentum Litauen, nach den Teilungen Polen-Litauens Ende des 18. Jh. zu Preußen bzw. Russland gehörten. Der Mittellauf von Grodno nordwärts bildete von 1793–1807 (Frieden von Tilsit) die Ostgrenze Preußens. Bis 1815 verlief hier anschließend die Grenze des Herzogtums Warschau zu Russland, bis 1918 innerhalb des Russischen Reiches die Ostgrenze des Königreiches Polen. Mit dem Überschreiten der M. durch die ›Grand Armée‹ bei Kaunas am 23.6.1812 begann der Angriff Napoleons auf Russland, der mit der Rückkehr der Reste der französischen Truppen ebenda im Dezember 1812 endete. Die M. war in beiden Weltkriegen umkämpft. 1919 entstand nordöstlich der unteren M. das von 1924 bis 1939 zum litauischen Staat gehörende autonome Memelgebiet. 1920 fand am Oberlauf eine der entscheidenden Schlachten des polnisch-sowjetischen Krieges, in Folge derer das polnisch besetzte Minsk an die Sowjetunion fiel, statt. 1945–1992 bildete der Unterlauf der M. erneut eine Grenze, die zwischen der RSFSR und der Litauischen SSR. Seit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten ist dieser Flussabschnitt Staatsgrenze zwischen Russland (Kaliningradskaja oblastʹ, dem früheren nördlichen Ostpreußen) und Litauen, seit dem 1. Mai 2004 Außengrenze der EU. Die M. hat heute kaum noch handelspolitische, hingegen wachsende touristische Bedeutung.

Bekanntheit erlangte sie durch Nennung in der ersten Strophe des 1841 von Hoffmann von Fallersleben geschriebenen Deutschlandliedes (ursprünglich: „Das Lied der Deutschen“ ) als Ostgrenze eines zukünftigen deutschen Einheitsstaates („von der Maas bis an die Memel“). Die M. ist Schauplatz der Handlung in Eliza Orzeszkowas Roman über die polnische Adelsgesellschaft „An der Memel“ (poln. Nad Niemnem) von 1887. Auch der in Tilsit geborene Schriftsteller Johannes Bobrowski machte die M. zum Sujet seiner Dichtung, so z. B. im Gedicht „Die Memel“ von 1959.

Domanickij A. P., Dubrovina R. G., Isaeva A. I.: Reki i ozera Sovetskogo Sojuza, Leningrad 1971.

(Olaf Haselhorst)

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