Osmanisches Reich

Osmanisches Reich

Inhaltsverzeichnis

1 Definition

Osmanen nennt man 1. die herrschende Dynastie bzw. 2. die herrschende Schicht im O. R.; 3. die kleinasiatischen Türken als besondere Gruppe unter den Turkvölkern. Die erste Bedeutung ist die gebräuchlichste. Die Bezeichnung wird vom Reichsgründer ʿOs̲mān I. (1258–1326) abgeleitet. Die Begriffe „Türkisches Reich“ und „Türkei“ waren lediglich im Westen sehr verbreitet. Die Osmanen machten offiziell nie Gebrauch davon.

2 Entstehung und Anfänge

Die Zuwanderung turksprachiger Nomaden nach Anatolien hatte schon gegen Ende des 11. Jh. begonnen. Nach dem Zerfall des Sultanats der kleinasiatischen Seldschuken entstand unter mongolischer Oberherrschaft eine Anzahl von Emiraten, darunter auch jenes von Erṭuġrul, dem Vorgänger Osmans, im Nordwesten an der Grenze zum Byzantinischen Reich. Es war auf Eroberung ausgerichtet und daher militärisch organisiert. Diese Krieger (ġāzī) waren als Stammesverbände organisiert; daneben gab es auch Kampfverbände, die flexibel genug waren, auch Nichtstammesmitglieder zu integrieren. Die Beute war ihr Lohn. Die Bezeichnung „Glaubenskämpfer“ ist allerdings eine Erfindung der früheren osmanischen Historiographie; ursprünglich waren die Gefolgsleute ʿOs̲māns eher Abenteurer und Glücksritter als bewusste Glaubenskämpfer.

Das Emirat (beglik) der Osmanen war anfangs von den mongolischen Il-Khanen abhängig; als aber später das Reich unter Murād I. (1360–89) bereits weite Gebiete des Balkans und Kleinasiens umfasste, wurde der osmanische Herrscher 1383 zum ersten Mal als Sultan und damit unabhängiger Machthaber erwähnt. Murāds Sohn Bāyezīd I. (1389–1402) wurde angeblich durch den Kalifen in Kairo als solcher auch offiziell anerkannt. Mit Ausnahme der Regierungszeit des strenggläubigen Bāyezīd II. (1481–1512) war das sozialpolitische Gefüge des Reiches bis etwa 1530 nicht sehr tief von islamischen Prinzipien durchdrungen. Dem nichtmuslimischen Adel sowie den einfachen Untertanen gegenüber wurde eine Politik der „Anpassung“ (istiʿmālet) angewandt, indem man erstere in das osmanische Heer eingliederte und dem Bauerntum eine relativ günstige Steuerlast auferlegte.

Bis in die erste Hälfte des 15. Jh. gründete die Militärmacht der Osmanen hauptsächlich auf einem beuteorientierten Nomadenkriegertum. Dieses bestand aus dem sog. „Fußvolk“ (yaya) und der Kavallerie (müsellem). Zwischen 1326 und 1402 war es unter den Sultanen Orḫān, Murād I. und Bāyezīd I. imstande, die Heere der Balkanreiche zu zerschlagen, auch ein Kreuzfahrerheer wurde bei Nikopolis (heute bulg. Nikopol) 1396 besiegt. In Kleinasien vermochten die Osmanen bis 1466 die rivalisierenden Fürstentümer zu unterwerfen. Gegen Großmächte jedoch konnte mit einem solchen Nomadenheer kein erfolgreicher Krieg geführt werden. Der Kern der neuen Heeresorganisation bestand aus professionell ausgebildeten Kavalleristen, die nicht direkt besoldet, sondern aus dem Nutzgenuss an Pfründen (tīmār) versorgt wurden. Diese Einkünften aus Grund und Boden wurden als „Lebensmittel” oder Sold (dirlik) bezeichnet. Tatsächlich handelte es sich dabei in vielen Fällen eher um Zulagen als um eine adäquate Besoldung, da die berittenen Kämpfer samt ihren Familien und Gefolgsleuten nicht davon leben konnten. Daher blieb die Kriegsbeute Teil der Einkünfte von Kavalleristen. Infolge der rasch wachsenden Rolle der Infanterie, des Einsatzes von Feuerwaffen sowie der finanziellen Nöte des Herrscherhauses wurde dieses System seit dem Ende des 16. Jh. obsolet (offiziell wurde es allerdings erst 1831 abgeschafft).

Früh schufen die Sultane daneben ganz auf sie selbst eingeschworene zivile und militärische Funktionäre, die als Kinder in der christlichen Bevölkerung rekrutiert wurden – durch die sog. „Knabenlese“ (devşirme). Zum Islam bekehrt, bildeten sie u. a. die Elitetruppe der Janitscharen oder „Neue Truppe” (yeni čeri). Die Begabtesten durchliefen die Serail-Schule, dienten am Sultanshof und stiegen in höchste Staatsstellungen auf. Aus der „Knabenlese“ gingen bedeutende Großwesire hervor, zu Anfang griechischer, im 16. Jh. v. a. bosnischer und serbischer (z. B. Meḥmed Sokollu bzw. Mehmed Sokolović), zuletzt in der zweiten Hälfte des 17. Jh. auch albanischer Herkunft (z. B. die Familie der Köprülü).
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3 Osmanisches Weltreich

Unter Selīm I. (1512–20), der die persischen Safawiden und ihre Anhänger in Kleinasien besiegte und 1514–17 Syrien und Ägypten eroberte, hat das O. R. den Status einer Weltmacht erreicht, der auch in den militärischen Erfolgen Süleymāns I. (1520–66) in Mesopotamien und Ungarn (Mohács 1526) deutlich wurde.

Die bewährte Politik der sozialen und religiösen Toleranz im europäischen Teil des Reiches wurde nun größtenteils aufgegeben. Die wichtigsten Bereiche der Staatsordnung wurden zunehmend „islamisiert“, nicht zuletzt unter dem Einfluss eines starken Zustroms arabischer Verwaltungsbeamter in die Hauptstadt. Bis auf Syrien wurde in den arabischen Ländern das vorosmanische System beibehalten: Das Steuerwesen aus der vorosmanischen Zeit blieb meist unverändert, das System der Militärpfründen wurde nicht eingeführt, und die lokalen Eliten (Mamelucken, Korsarenoberhäupte) büßten kaum Macht ein.

Die Epoche Süleymāns I. galt den nachfolgenden Herrschern als Maß und Ziel. Ohne sich selbst die letzte Entscheidung zu nehmen, hatten die Sultane ihre durch das religiöse Recht begrenzte Machtfülle an die Großwesire delegiert. Diese saßen der Regierung (dīvān, „Rat“) vor, die sich v. a. mit den Finanzen, dem Militär- und dem Justizwesen befasste. Jeder dieser Bereiche verfügte über eine hochbürokratisierte Verwaltung. Zu Süleymāns Zeit wurde ein umfangreiches Gesetzeswerk entwickelt. Tausende Registerbücher bildeten eine der Grundlagen des Finanzwesens und wurden noch Generationen danach benutzt.

Steuerwesen und Marktwirtschaft waren sehr wichtige Merkmale der osmanischen Wirtschaft. Im Gegensatz zur Entwicklung im westlichen Europa war der Staat jedoch bis zum 18. Jh. nicht an der Förderung des einheimischen Handels und Gewerbes interessiert. Daher wurden großzügige Konzessionen gegenüber fremden Handelsunternehmern üblich (sog. Kapitulationen, seit 1532). Zunächst von Vorteil verhinderte dies jedoch die Entwicklung einer autochthonen Unternehmerschicht. Vom internationalen Fern- und Transithandel abgesehen, war das Reich ökonomisch ein relativ autarkes, aus verschiedenen wirtschaftlichen Zonen zusammengesetztes Gebiet. Nur die Randgebiete im Norden, wie Zentralungarn und die autonomen Donaufürstentümer, betrieben mit den mittel- und westeuropäischen Städten (v. a. Nahrungsmittel) Im- und Export. Die Staatsausgaben galten hauptsächlich der Hofhaltung, der Reichsverwaltung, den besoldeten Truppen und dem Kriegsmaterial sowie dem Festungs- und Flottenbau. Gegen Ende des 16. Jh. erforderte Geldmangel eine Kommerzialisierung des Pfründenwesens, die von einer administrativen Dezentralisierung begleitet wurde. All das hat in den osmanischen Chroniken des 17. Jh. düstere Bilder von der Zeit des Verfalls der „Süleymānischen“ Tugenden hervorgebracht.

Da es eigentlich keine Regelung weltlicher und geistlicher Zuständigkeitsbereiche in Kultur, Erziehung, Sozial- und Kommunalpolitik gab, waren diese in der Praxis weitestgehend religiösen Institutionen überlassen. Religiöse Stiftungen (vaqıf, Pl. evqāf) von Einzelpersonen – darunter natürlich Sultane und Wesire – schufen jene Baukomplexe aus Moscheen, Medressen (Koranschulen), Schulen, Bibliotheken, Krankenhäusern, Bädern und Armenküchen, die der osmanischen Stadt ihre charakteristische Silhouette verliehen. Verwaltet wurden diese Einrichtungen v. a. von den geistlichen Rechtsgelehrten (ʿulemāʾ) die das Erziehungs- und Rechtswesen betreuten. Sie trugen Verantwortung für die Einhaltung der hanafitischen Lehre, die das Reich streng, aber nicht fanatisch islamisch prägte. Auch für die christlichen Untertanen gab es im Kultur- und Erziehungsbereich kaum zuständige Institutionen oder Regelungen von weltlich-staatlicher Seite. Es engagierten sich hier mangels adliger und großbürgerlicher Mäzene v. a. Geistliche und Kaufleute.

Dem osmanischen Staat war die Gleichstellung der Untertanen fremd. Aufgrund der verbreiteten Einstellung der Osmanen, nichtislamischen Glaubensgruppen Befugnisse in der Selbstverwaltung nach eigenen religiös-rechtlichen Vorschriften einzuräumen, hatten die unterworfenen Völker aber prinzipiell die Möglichkeit, Religion, Sprache und Identität zu bewahren. Der westeuropäische Einfluss auf die inneren Angelegenheiten der Balkanchristen zu Beginn des 17. Jh. führte allmählich zur Entwicklung einer systematischen Gleichbehandlung aller Nichtmuslime (ausgedrückt durch die Definition verschiedener Religionsgemeinschaften, millet) – allerdings nicht zu einer Gleichbehandlung mit der muslimischen Reichsbevölkerung.

Die relative Stabilität des frühen und des „klassischen“ O. R., die relativ geringen Belastungen für die bäuerliche Bevölkerung, daneben die Praxis, vorosmanische Praktiken beizubehalten und Probleme nicht grundsätzlich-allgemein, sondern fallweise zu lösen, waren wichtige Faktoren für die Ausdehnung des Reiches und den Frieden im Inneren.

Allerdings führte v. a. die den Nichtmuslimen auferlegte Steuerlast schon seit dem frühen 16. Jh. dazu, dass in ärmeren Gebieten breite Bevölkerungsteile zum Islam übertraten (in Bosnien, später auch in Albanien und in der Rhodopenregion), sich Räuberbanden anschlossen oder ihre angestammten Siedlungsgebiete verließen (so z. B. in Zentralgriechenland).

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4 Verlust der Großmachtstellung

Nach Süleymān I. setzte langsam der machtpolitische Niedergang des O. R. ein. Das Reich war zu groß, die militärischen Versorgungswege zu lang, und die habsburgische „Türkenabwehr“ wirksamer geworden. Auch die Vormachtstellung im Mittelmeer nach dem osmanischen Sieg bei Preveza (1538) ging nach der Schlacht bei Lepanto (1571) verloren. Auf die massive Anwendung von kleineren Feuerwaffen gerade im sog. Langen Krieg in Ungarn (1591–1606) vermochten die Osmanen nur begrenzt zu reagieren, mussten sie doch einen großen Teil der „veralteten“ Kavallerie beibehalten, die zur Beherrschung der Ebenen nördlich des Schwarzen Meeres benötigt wurde.

Kriege gegen Österreich, Venedig, Polen-Litauen, Persien und Russland konnten zwar noch ohne große Verluste bestanden werden, hatten aber ernste soziale und wirtschaftliche Auswirkungen. Da die Erträge aus dem staatlichen Boden immer stärker zur Versorgung von Haremsdamen und Höflingen diente bzw. Staatsland verschenkt wurde, gingen nicht nur die staatlichen Einkünfte zurück, es sank auch die Stärke des pfründenfinanzierten militärischen Aufgebotes. Dieses musste durch zu besoldete Truppen, die zudem nun auch mit Feuerwaffen auszurüsten waren, ersetzt werden. Steuererhöhungen, Landflucht und Räuberwesen (u. a. Verbände entlassener Soldaten) waren die Folge. Besonders schwer wurde Kleinasien, v. a. die kilikische Ebene getroffen, wo die Dorfbewohner ökonomisch und finanziell ohnehin schwerer belastet waren als diejenigen im europäischen Teil des Reiches.

Münzverschlechterungen, die zusammen mit der Einfuhr von billigem Silber aus Europa den Geldwert deutlich minderten, brachten zusätzliche Schwierigkeiten. Eine Wirtschaftspolitik existierte nicht einmal ansatzweise. Gegen die wachsende Unsicherheit fanden sich in vielen Provinzen einflussreiche Männer, die mit ihrer Gefolgschaft neue Machtzentren bildeten und regional für eine gewisse, oft tyrannische und antistaatliche, Ordnung sorgten. Die zunehmende Praxis der lebenslangen Verpachtung (mālikāne) der wichtigsten Staatseinkünfte verstärkte solche Tendenzen. Deren Privatarmeen waren jedoch für die staatliche Kriegführung unentbehrlich. All diese Missstände haben jedoch nicht, wie oft vermutet, zu einer „demographischen Katastrophe“ im Sinne eines starken Bevölkerungsrückgangs auf dem Balkan geführt. Die sehr niedrigen Zahlen der Kopf- und Sondersteuereinheiten in den Registern der zentralen Finanzverwaltung, die darauf hinzudeuten scheinen, waren durch technische Änderungen in der Praxis der Steuereinhebung und Buchführung und nicht real bedingt.

Nach den sehr schweren Verlusten im Krieg gegen die „Heilige Liga“ (1683–99) konnte das Reich seine Machtstellung sowie innere Ordnung und wirtschaftliche Unabhängigkeit noch für ein halbes Jahrhundert bewahren. Statt tiefgreifender Reformen nach westlichen Mustern begnügte man sich aber mit oberflächlichen Systemänderungen und Anpassungen, die keine Aufgabe der althergebrachten Regierungsprinzipien erforderten.

Das geistige Leben, beherrscht von konservativen, orthodoxen geistlichen Rechtsgelehrten, beschränkte sich auf Wiederholung und Bewahrung des längst und endgültig Erarbeiteten in den islamischen Wissenschaften: Neuerungen wurden als Wegweiser des Niederganges interpretiert und abgewehrt; die Naturwissenschaften führten ein Schattendasein.

Durch die Dezentralisierung des Steuereintreibens wurde der Druck auf die steuerzahlende Bevölkerung größer. Da die muslimischen Untertanen wegen der häufigen Mobilmachungen nicht mehr in fronbauernähnlicher Stellung (raʿiyyet) gehalten werden konnten und sie diese nicht mehr akzeptieren wollten, verschärften sich auch die interkonfessionellen Spannungen, eine der Vorbedingungen zum Erwachen der sog. Balkannationalismen. Die Konflikte wurden dabei später in ideologisch gefärbter Form auf die Zeit der osmanischen Eroberung des Balkans im 15.–16. Jh. zurückprojiziert.

Als um die Mitte des 18. Jh. das Reich endgültig in die Lage eines wirtschaftlich von westeuropäischen Mächten abhängigen Gebietes geriet und noch dazu von Russland militärisch entscheidend geschlagen wurde (mit der Folge des Friedens von Küçük Kaynarca 1774), setzte der eigentliche Zerfall der alten Institutionen ein. Davon profitierten wirtschaftlich die nichtmuslimischen Großhandelsunternehmer sowie Emporkömmlinge aus der Klasse der Staatsdiener, die ihren Landbesitz vermehrten und auf den exportorientierten Anbau von Monokulturen ausrichteten. Zahlreiche Bauern wurden zu Landarbeitern auf den so neu entstandenen Gütern. Nur mehr die Interessengegensätze unter den Großmächten ermöglichten das territorial-politische Überleben. Die „Orientalische Frage“ und „der kranke Mann am Bosporus“ wurden zu Schlagworten in der europäischen Politik.

Selīm III. (1789–1807) versuchte, Reformen im Sinne einer bescheidenen Annäherung an westliche Modelle durchzuführen (hauptsächlich im militärischen Bereich), wurde aber bald getötet. Maḥmūd II. (1808–39) gelang es 1826, die Janitscharenherrschaft, die als quasi entstellte Verkörperung der alten Ordnung den Weg für Reformen versperrte, gewaltsam zu beenden. Die Autonomie bzw. Unabhängigkeit der Balkanländer (Serbien bzw. Griechenland 1830) konnte er jedoch nicht verhindern. Inzwischen verselbständigte sich Ägypten unter Muḥammaḏ ʿAlī (1805–48) beinahe völlig. Unter dem Druck der Großmächte modernisierten notwendige einschneidende Reformen (bekannt geworden als türk. Tanzimat, 1839–76) die Armee, die Verwaltung, das Schul- und das Rechtswesen. Die nichtmuslimischen Untertanen wurden zumindest prinzipiell besser gestellt. Die Kehrseite der „Modernisierung von oben“ war die rasch steigende Abhängigkeit von fremdem Kapital, der Verfall der Staatsfinanzen und das weitere Absinken in einen halbkolonialen Status. ʿAbdülḥamīd II. (1876–1909) verkündete 1876 eine Verfassung, doch das Parlament und dessen sehr beschränkten Rechte wurden bald wieder aufgehoben. Die schwere Niederlage im Krieg gegen Russland (1877) brachte neue Gebiets- und Souveränitätsverluste. Die Unabhängigkeit Serbiens und Montenegros wurde auf dem Berliner Kongress (1878) endgültig anerkannt, Bulgarien erhielt die Autonomie. Gegen das reformerische, aber diktatorische Regime des Sultans erhob sich Widerstand bei den zerstrittenen Nationalitäten und liberalen Intellektuellen, die sich in Geheimgesellschaften organisierten und auch auf das Offizierscorps übergriffen. Das kulturelle Leben wurde immer stärker von westlichen künstlerischen und politischen Strömungen geprägt. Die aufkommende Bezeichnung „Türkiye“ selbst ist ein Fremdwort, aus dem westlichen Wortschatz entlehnt (ital. „Turchia“, vom neugriech. Tourkia = Türkei).

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5 Das Ende des Osmanischen Reiches

Im Jahre 1908 übernahmen die sog. Jungtürken – eine Oppositionsgruppe gegen den Herrschaftsstil ʿAbdülḥamīds II. – die Macht. Doch auch die jungtürkische Herrschaft (Triumvirat 1908–18) konnte das Auseinanderstreben der Nationalitäten nicht aufhalten. Ihr Bemühen, ein archaisches, ethnisch und konfessionell sehr heterogenes Staatsgebilde in einen modernen, national-türkischen Staat umzuwandeln, hatte von Beginn an wenig realistische Erfolgschancen. Die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens 1908, dem außerdem Ostrumelien angegliedert wurde, die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn sowie Kretas durch Griechenland im selben Jahr setzten den Niedergang des Reiches in Europa fort. Während der Balkankriege (1912, 1913) gingen Thrakien, Makedonien und die Ägäischen Inseln verloren. Im Ersten Weltkrieg kämpfte das O. R. auf der Seite der Zentralmächte. Trotz einiger militärischer Erfolge (Al-Kūt 1915, Gallipoli 1916) war das Schicksal des Reiches besiegelt. Chaotische Zustände, doppelte Befehlsketten sowie Elend, Hass und Misstrauen verursachten das Leiden und Sterben von Millionen Armeniern, Türken, Griechen und anderen Völker. Mit der Niederlage drohte dann die gänzliche Auflösung des Reiches (Entente-Besatzung ab 1918, Frieden von Sèvres 1920, Intervention Griechenlands in Kleinasien). Der nationalistischen Gegenregierung unter Muṣṭafā Kemāl Paşa (später genannt Atatürk) gelang es in dieser Situation, sich militärisch und diplomatisch dennoch zu behaupten, das Sultanat (1922), dann das Kalifat (1924) abzuschaffen und in der neuen Türkischen Republik tief greifende Reformen durchzuführen.

İnalcık H. 1973: The Ottoman Empire. The Classical Age 1300–1600. London. İnalcık H., Quataert D. (Hg.) 1994: The Economic and Social History of the Ottoman Empire, 1300–1914. 2 Bd., Cambridge. Majer H. G. 1974: Osmanen. Kreiser K. (Hg.): Lexikon der Islamischen Welt III. Stuttgart, 24–28.

(Nenad Moačanin)

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