Sowjetisches Wirtschaftssystem

Sowjetisches Wirtschaftssystem; Grundtypus einer sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft mit den konstitutiven Ordnungselementen zentrale Wirtschaftsplanung und gesellschaftliches, vorherrschend staatliches Eigentum an den Produktionsmitteln.

Die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen unmittelbar nach der Revolution von 1917 (Kriegskommunismus) und in den 20er Jahren (Neue Ökonomische Politik), v. a. aber das Fehlen einer Theorie der zentralen Planung, zwangen mehrfach zum ordnungspolitischen Kurswechsel. Ab 1928 wurden unter Stalin die Grundzüge des S. W. ausgeformt: Alle Bereiche der Volkswirtschaft wurden verstaatlicht und zentraler Lenkung unterstellt, die Landwirtschaft wurde zwangskollektiviert, das System der Fünfjahres- und Jahresvolkswirtschaftspläne entwickelt und der Außenhandel staatlich monopolisiert; der Aufbau der Industrie erhielt absoluten Vorrang.

Nach Stalins Tod (1953) wurde mehrfach versucht, den straffen Planzentralismus zu reformieren und den Lenkungsapparat zu reorganisieren (insbesondere 1965 und 1979), ohne jedoch die grundlegenden Ordnungselemente des zentralverwaltungswirtschaftlichen Systems zu verändern. Bis etwa 1989 war dieses System durch folgende institutionelle Regelungen geprägt: Die politische und wirtschaftliche Führung oblag den Zentralorganen der kommunistischen Staatspartei (KPdSU), die über Ziele und Mittel für die Wirtschaft und alle gesellschaftlichen Bereiche entschieden. Oberstes perspektivisches Ziel war der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft.

Ziele und Entscheidungsstruktur waren determiniert durch das Primat der Politik über die Ökonomie sowie das Prinzip des demokratischen Zentralismus Der Ministerrat war oberstes Vollzugs- und Verfügungsorgan der Staatsgewalt. Die ihm untergeordneten Staatsorgane, v. a. das Staatliche Planungskomitee (Gosplan), hatten die von der Parteispitze festgelegten Ziele in konkrete Planaufgaben umzusetzen. Wichtige Wirtschaftszweige wurden ressortorientiert (Allunionsministerien), die Wirtschaft der 15 Republiken territorialorientiert durch Republikministerien geleitet.

Die Betriebe waren nahezu vollständig in staatlichem Eigentum; nur in der Landwirtschaft überwogen kollektivwirtschaftliche (Kolchosen) und staatsgenossenschaftliche (Sowchosen) Organisations- und Eigentumsformen. Ein Rest rechtlich erlaubter Privatwirtschaft existierte in Form der sog. „Nebenwirtschaft“ der Kolchosbauern (0,5 ha pro Familie). Von diesen Parzellen, die ca. 0,4-0,5 % des gesamten landwirtschaftlich genutzten Bodens darstellten, stammten ca. 30 % der Versorgung der Bevölkerung mit Frischgemüse und Produkten aus Kleintierhaltung.

Wichtigstes volkswirtschaftliches Lenkungsinstrument war der Fünfjahresplan; er wurde vom Obersten Sowjet als Gesetz beschlossen. Hiernach hatten die Betriebe über 60 quantitative Kennziffern und ökonomische Normative als Plandirektiven zu berücksichtigen. Hauptkennziffer war die Nettoproduktion; ökonomische Normative wie der Ausnutzungsgrad der betrieblichen Fonds, die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die Senkung der Produktionskosten, Abführungen an den Staatshaushalt u. a. sollten als „ökonomische Hebel“ die wirtschaftliche Tätigkeit der Betriebe plangerecht stimulieren.

Die staatlich festgesetzten Preise hatten lediglich planrechnerische Hilfsfunktion; die ebenso staatlich festgesetzten Löhne waren wichtigstes Instrument zur Lenkung des Arbeitskräftepotentials. Die Ausarbeitung und Kontrolle der finanziellen Teilpläne, die Abstimmung von Kauf- und Warenfonds, oblagen funktionalen Zentralorganen wie dem Finanzministerium, der Staatsbank (Gosbank) und dem Staatlichen Preiskomitee (Goskomcen). Von den insgesamt ca. 12 Mio. Gütern wurden durch Gosplan, Allunions- und Republikministerien rd. 40.000 volkswirtschaftlich wichtige Produkte direkt geplant, womit jedoch nur rd. 70 % der wertmäßigen Gesamtproduktion erfasst wurden. Etwa 30 % wurden auf zentraler Ebene in aggregierten Güterbündeln geplant, die von den jeweils untergeordneten Staatsorganen auf die Wirtschaftseinheiten (Kombinate, seit 1973 die Produktionsvereinigungen) aufzuschlüsseln waren.

Als „ökonomische Zelle“ der Volkswirtschaft galten die rd. 4000 Industrie- und Produktionsvereinigungen, in denen rd. 18.000 Betriebe zusammengefasst waren, davon 43 % mit juristischer Selbständigkeit (Unternehmen), d. h. auch mit eigener wirtschaftlicher Rechnungsführung (Chozrasčët). Die Direktoren wurden von übergeordneten staatlichen Instanzen eingesetzt und leiteten die Betriebe nach dem Direktorialprinzip; der „sozialistische Wettbewerb“ bei der Planerfüllung galt als „wichtigste Massenform“ betrieblicher Mitbestimmung der Arbeitskollektive. Die Gewerkschaften hatten v. a. die Funktion, als „Transmissionsriemen“ der Partei zur Durchsetzung der zentralen wirtschaftlichen Entscheidungen in den Betrieben zu dienen.

Die Funktionsweise des S. W. war durch erhebliche systemimmanente Informations- und Motivationsprobleme bei der Planung und Planverwirklichung geprägt, die sich v. a. aus der (ideologisch bestrittenen, aber tatsächlich realen) Divergenz der Interessen zwischen politischer Führung einerseits, Unternehmensleitungen und den arbeitenden Menschen andererseits ergaben und in Fehlinformationen über die tatsächlichen Produktionskapazitäten der Betriebe („weiche Pläne“), in niedriger Arbeitsmotivation und Arbeitsdisziplin zum Ausdruck kamen.

Diese Funktionsmängel konnten weder durch politische Massenbeeinflussung noch durch bürokratische („gesellschaftliche“) Kontrollorgane beseitigt werden. Auch die wiederholten Reformen zur „Vervollkommnung“ (russ. soveršenstvovanie) dieses Wirtschaftsmechanismus in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz hatten nur einen sehr begrenzten Erfolg. Der hiermit verbundene Ausbau zu einem komplexeren Lenkungssystem hat lediglich bewirkt, dass neue Widersprüche zwischen der Vielzahl von wirtschaftlichen Zielen und den dafür eingesetzten Instrumenten entstanden. Der Leistungsgrad des S. W. konnte zwar bei speziellen (von der politischen Führung präferierten) Zielen verbessert werden, nicht aber die generellen Funktionsprobleme beseitigen. Als hierdurch bedingt ab etwa 1980 das Wirtschaftswachstum stagnierte und die Versorgungsengpässe zunahmen, entschloss sich die Parteiführung nach dem Amtsantritt von Gorbatschow (1985) zu einer „tiefgreifenden“ Umgestaltung des Wirtschaftssystems (Perestroika). Der Grundtypus der staatssozialistischen Planwirtschaft sollte durch eine sozialistische Marktwirtschaft ersetzt werden, deren ordnungspolitische Systemhaftigkeit jedoch nicht erkennbar wurde.

Haffner F. 1984: Sowjetunion: Wirtschaftspolitik im sowjetischen Sozialismus. Cassel D. (Hg.): Wirtschaftspolitik im Systemvergleich. München, 263–280. Nove A. 1980: Das sowjetische Wirtschaftssystem. Baden-Baden. Gregory P., Stuart R. C. 1981: Soviet Economic Structure and Performance. New York. Peterhoff R. 2002: Sowjetisches Wirtschaftssystem. Schüller A., Krüsselberg H. G. (Hg.): Grundbegriffe zur Ordnungstheorie und Politischen Ökonomik. Marburg.

(Reinhard Peterhoff)

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