Marmarameer
Marmarameer (griech. Propontis, türk. Marmara Denizi).
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1 Geographie
Das M. ist ein kleines Binnenmeer zwischen dem Schwarzen und dem Ägäischen Meer. Seinen Namen erhielt es von den reichhaltigen Marmorvorkommen auf der Marmara-Insel (türk. Maramara Adası, altgriech. Prokonnēsos). Es bildet einen Abschnitt der Grenze zwischen Europa und Asien. Trotz seiner klaren reliefbedingten Trennung wird das M. als ein Teil des Mittelmeeres angesehen. Im Westen verbinden es die Dardanellen mit dem Ägäischen Meer, während im Osten der Bosporus die Verbindung mit dem Schwarzen Meer gewährleistet.
Das Meer erstreckt sich mit einer Fläche von 11.655 km² (max. Länge 282 km, max. Breite 80 km) von Gelibolu bis İzmit. Im Osten und Südosten hat das Meer golfartige Buchten geformt (Golf von Izmit und Golf von Mudanya). Es erreicht Tiefen von 50 m in Küstennähe und bis 1355 m in seiner Mitte. 182 km² der Fläche entfallen auf Inseln. Die Marmara-Insel, auf der der griechische Philosoph Aristeas (7. Jh. v. Chr.) lebte, liegt mit einer Fläche von 117 km² im westlichen M. und erhebt sich bis zu einer Höhe von 607 m. Im Osten des Meeres liegen die Prinzeninseln (türk. Kızıl Adalar), bestehend aus neun kleinen Inseln, deren größte Büyükada ist. Sie dienten mehrfach als Verbannungsort und erhielten ihren Namen, da auch byzantinische und osmanische Prinzen unter den Verbannten waren.
Das Meer ist im Frühquartär während einer Hebung der Halbinsel Gelibolu durch das Eindringen großer Wassermengen in ein Senkungsfeld entstanden. Der platte Meeresboden war eine Landoberfläche, die in 200 m Tiefe absank. Er wird durch einen Graben zerschnitten, der sich im Golf von İzmit fortsetzt. Die Umgebung des M.es wird häufig von Erdbeben heimgesucht; zuletzt lag 1999 ein Epizentrum um Gölcük.
Das M. dient als eine Art Regulator des Schwarzen Meeres, welches von vielen mächtigen Strömen gespeist wird und Wassermengen beständig zum Mittelmeer hin abgibt. Der Oberflächenströmung des stark salzhaltigen Wassers geht ein Unterstrom entgegen. Die Strömung wird durch die Enge des Wasserweges beschleunigt: Die Dardanellen zwischen der europäischen Halbinsel Gelibolu und dem asiatischen Nordwest-Anatolien erreichen bei einer Länge von 65 km nur eine Breite zwischen 1,3 und 6 km und Tiefen um 50 m. Der 30 km lange Bosporus ist an seiner engsten Stelle zwischen Anadolu Hisarı und Rumeli Hisarı lediglich 660 m breit.
Die Küste besteht vielerorts aus Mergel, Mergelkalkstein und Sandstein und weist daher gelbliche Färbung auf. Das Küstenland des M. besteht aus Flach- und Hügelländern mit einigen Steilküsten. Südwestlich von Tekirdağ steigt die Küste auf fast 1000 m, im Süden auf der gebirgigen Halbinsel Kapı Dağı bis zu 782 m. Während die Nordküste wasserarm ist, münden von Süden zahlreiche Flüsse wie Biga, Gönen und Simav in das Meer. Erst durch Verschüttung der Meerenge beim antiken Kyzikos im Süden des M.es wurde die Insel Arktonnēsos zur Halbinsel Kapı Dağı. Ein Teil der Ufer des Bosporus wird von der Stadt Istanbul eingenommen.
Das Klima ist eine Übergangsform vom mediterranen zum pontischen Klima. Der oft stürmische Wind kommt überwiegend aus Nord und Nordost und wird, wie im Ägäischen Meer, ›meltem‹ genannt. Nicht selten bringen die Winde Regen und Schnee im Winter. Im Westen und Süden ähnelt der Bewuchs dem Mittelmeer (Macchien, Hartlaubwälder), im Norden und Osten ist er eher balkanisch bis kontinental-europäisch (Kiefern- und Eichenwälder). Der Manyas-See (türk. Kuş Gölü) südlich des Meeres ist ein bekanntes Brut- und Durchzugsgebiet für zahlreiche seltene Vogelarten, darunter Pelikane.
Die europäische Küste des M. ist arm an Häfen, während die anatolische Küste reicher gegliedert ist und es zur Ausbildung guter Häfen wie denjenigen von Bandırma (Endpunkt der Erdöl-Pipeline von Antalya), Mudanya, Gemlik und İzmit kommen konnte. Da das M. den einzigen Zugang vom Mittelmeer ins Schwarze Meer darstellt, herrscht starker Durchgangsverkehr. Die Küsten des Meeres, v. a. aber die Prinzeninseln, auf denen neben lieblichen Küsten zahlreiche Villen und Klosterbauten locken, sind heute ein beliebtes Erholungsgebiet der Bewohner Istanbuls. Starke touristische Erschließung erfuhren die Strände um Silivri, westlich von Tekirdağ und um die Halbinsel Kapı Dağı.
Seit dem 4. Jh. wird am M. Marmor abgebaut; es ist seither von Bedeutung für die lokale Wirtschaft. Östlich von Bursa wird Tabak angebaut, südlich von Mudanya Oliven. Rings um das Meer werden Mais und Früchte (v. a. Pfirsiche) sowie Wein, Getreide und Oliven kultiviert. Auf dem Schwemmland zwischen Manyas und dem Apolyont-See (türk. Uluabat Gölü) werden Sonnenblumen, Zucker, Gemüse, Mais und Pfeffer angebaut. Das Becken von Bursa und Bandırma war eines der Hauptgebiete türkischer Seidenraupenzucht, wichtige Verarbeitungsbetriebe lagen in Bursa. Lokal wird Viehzucht betrieben, insbesondere Rinder- und Schafzucht, vereinzelt werden Wasserbüffel gehalten. An der Südküste um İzmit und Alapazarı befindet sich eine Industrieregion mit Klein- und Mittelindustrie, darunter große Zementwerke sowie Fabriken zur Herstellung von Konserven und Saft. Innerhalb der Türkei ist die Uferregion des M. ein agrarisches Vorzugsgebiet ersten Ranges. Verstädterungsprozess und Industrialisierung haben besonders die Beckenlandschaften der Südküste zu Ballungsräumen mit über 100 Einwohnern pro km² werden lassen. Der Raum um das M. zählt zu einem der am stärksten industrialisierten und modernisierten Gebieten des Landes.
Bedeutendste Stadt am M. nach Istanbul ist heute durch ihren industriellen Schwerpunkt mit rund 200.000 Einwohnern (2006) die Küstenstadt İzmit. Weitere wichtige Städte sind Gelibolu, Şarköy, Tekirdağ, Silivri, Yalova, Mudanya, Bandırma und Çanakkale sowie auch die Istanbuler Vororte. Um das M. herum liegt die Verwaltungseinheit Marmara Bölgesi („Marmara-Gebiet“), die rund 8,6 % des türkischen Staatsterritoriums darstellt.
2 Kulturgeschichte
Südwestlich des M.es lag die bronzezeitliche Siedlung und antike Stadt Troja (heute Truva), von welcher der Eingang in das M. hervorragend eingesehen werden konnte. Die Einwohner kontrollierten den Zugang zum M. und erreichten durch Wegzoll großen Reichtum. Im Zuge der griechischen Kolonisation im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. wurden die Küsten des M.es besiedelt. Nach den Perserkriegen gerieten die Dardanellen und damit das M. ganz unter die Kontrolle Athens, das mehr als andere griechische Städte von Getreideimporten aus dem Schwarzmeergebiet abhängig war. Es kam zu Gründungen bedeutender Städte wie Nikomēdeia (İzmit, 264 v. Chr. vom bithynischen Kaiser Nikomēdēs I. gegründet).
Rund 200 Jahre später kam sie unter römische Herrschaft. Große Namen wie Plinius d. J., der während der römischen Hoheit zeitweise Statthalter von Nikomēdia war, Konstantin der Große, der am Hof bei Kaiser Diokletian in Nikomēdia erzogen worden war und die Hl. Barbara (Märtyrerin), die im 3. Jh. lebte, zeichnen die frühe Geschichte der Stadt. Kyzikos war eine griechische Kolonie an der Südküste des M.es in der heutigen Provinz Balıkesir. Sie wurde im 7. Jahrhundert v. Chr. gegründet und 25 n. Chr. römisch. 544 wurde die Kolonie durch ein Erdbeben zerstört. Die Stadt und der befestigte Hafen waren durch einen Tunnel verbunden, der heute noch teilweise erhalten ist. Die weitere Geschichte der Küsten des M.es ist eng mit Byzanz verbunden.
Seit 1331 wurden die Städte am M. von den Osmanen erobert. Die türkische Besetzung der Dardanellen 1354 am M. war die Voraussetzung für die Eroberung der Balkanländer und die Isolierung Konstantinopels. Nach dem Dardanellen-Vertrag von 1841 war es nur türkischen Kriegsschiffen gestattet, diese Meerenge zu passieren. Während des Ersten Weltkriegs waren die Dardanellen wegen ihrer strategischen Lage Schauplatz des Gallipoli-Feldzuges mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Die Küsten und zum großen Teil auch das Hinterland waren bis zum griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch 1921–23 sehr stark griechisch besiedelt, wovon in zahlreichen Ortschaften bis heute griechische Architektur mit mehrstöckigen Holzbauten zeugt. Früher wurde allein die Marmara-Insel von über 10.000 griechischen Einwohnern bewohnt.
Der Dardanellen-Vertrag wurde 1936 durch das Meerengen-Abkommen abgelöst, welches seitdem die Durchfahrtsrechte regelt. Die 1970 gebaute Hängebrücke zwischen Ortaköy auf europäischem Territorium und Beylerbey auf asiatischem Boden wurde zur längsten Hängebrücke Europas.
Hütteroth W.-D., Höhfeld V. 2002: Türkei. Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik. Darmstadt. Louis H. 1985: Landeskunde der Türkei, vornehmliche aufgrund eigener Reisen. Stuttgart (= Geographische Zeitschrift, Beiheft Erdkundliches Wissen 73).