Wilna (Stadt)

Wilna (litau. Vilnius; jidd. Vilne, poln. hist. [1919-39] Wilno, russ. hist. Vilʹnjus, weißruss. hist. Vilʹnja)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die Hauptstadt Litauens liegt im Südosten des Landes, ca. 30 km von der litauisch-weißrussischen Grenze entfernt zwischen den Flüssen Vilnia und Neris. Umgeben ist sie von mehreren Hügeln, die z. T. mit Wald bedeckt sind. Klimatisch wird W. sowohl maritim als auch kontinental beeinflusst, die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 6,5 °C, (im Mittel der letzten zehn Jahre Januar: –5,9 °C, Juli 18,7 °C), die Niederschlagsmenge beträgt 646 mm im Jahresmittel.

W. hat 541.284 Einwohner (2005) und nimmt eine Fläche von 392 km² ein, damit ist die Hauptstadt die größte Stadt des Landes, gefolgt von Kaunas und Klaipeda. Sie ist gleichzeitig Hauptstadt des Bezirks W. (Vilniaus Apskritis). Die Bevölkerung der Stadt besteht zu 57,8 % aus Litauern, 18,7 % sind Polen, 14,0 % Russen, 4,0 % Weißrussen und 1,3 % Ukrainer.

Verkehrsmäßig ist W. durch Autobahnen mit der Hafenstadt Klaipeda (312 km), mit Kaunas (102 km), Šiauliai (214 km) und Panevėžys (135 km) verbunden. Die Stadt liegt an den Eisenbahnlinien St. Petersburg–W.–Hrodna–Warschau und Moskau-Minsk-Kaliningrad. Über Šiauliai ist W. mit dem Hafen Klaipeda verbunden. Darüber hinaus verfügt W. über einen internationalen Flughafen, am südlichen Stadtrand (ca. 7 km vom Stadtzentrum entfernt) gelegen. Der Flughafen hatte 2005 1.281.872 Passagiere, die meisten europäischen Hauptstädte sind von hier aus zu erreichen. Im Sommer starten 320 Flüge pro Woche im Liniendienst.

W. ist das nicht nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Litauens. Insgesamt hat die Stadt sieben öffentliche Hochschulen: Neben der Universität W. sind dies die Mykolas-Romeris-Universität für Rechtswissenschaften und öffentliche Verwaltung, die Pädagogische und die Technische Universität, die Akademien für Kunst, Musik und Theater, Recht sowie Militärwissenschaften. Daneben gibt es drei private Hochschulen (eine kirchliche, eine für Wirtschaftsrecht und eine für Ökonomie).

Zahlreiche Galerien und zehn große Museen (wie z. B. die Gemäldegalerie, das Nationalmuseum, das Museum für Kunsthandwerk und die Galerie für zeitgenössische Kunst, das jüdische Museum) eine Philharmonie, ein Schauspielhaus und ein Opernhaus bereichern das kulturelle Leben der Stadt. Jedes Jahr finden das Straßenfestival ›Vilniaus dienos‹ („W.er Tage“) und das Folklorefest ›Skamba, skamba kankliai‹ („Es klingen und klingen die Kankliai [litauische Zither]“) statt. Drei große Bibliotheken haben ihren Sitz in der Stadt: die Martynas-Mažvydas-Nationalbibliothek, die Bibliothek der Universität W. und die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften. Insgesamt verfügen sie zusammen mit den kleinen wissenschaftlichen Bibliotheken über einen Bestand von ca. 19 Mio. Büchern.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt lässt sich daraus ableiten, dass die 18 % der Einwohner Litauens, welche in der Stadt W. und in ihrem näheren Umland leben, 35 % des BIP des Landes erwirtschaften. W. ist Sitz zahlreicher Wirtschaftsunternehmen, mehr als 17.000 (2006) sind in der Stadt registriert. Auch für ausländische Unternehmen ist W. attraktiv, mehr als 60 % der ausländischen Direktinvestitionen werden in der Stadt getätigt. Die größten ausländischen Investoren sind Firmen aus Schweden, Dänemark, Estland, Deutschland, Finnland, Großbritannien und den USA. Dabei erfolgen die meisten Investitionen im tertiären Sektor – Kommunikation, Handel und Finanzdienstleistungen.

Für die künftige Stadtentwicklung werden v. a. folgende Schwerpunkte gesehen: Weiteres Anwachsen des tertiären Sektors, Rekonstruktion der historischen Altstadt, Erneuerung und Verbesserung der technischen und Transportinfrastruktur, Schaffung eines modernen Gewerbeparks und Bau von Wohnungen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auch der Fortführung der modernen Bebauung des nördlichen Neris-Ufers (neues Stadtzentrum) mit ca. 200 ha Größe und der Umgestaltung des Stadtteils Šnipiškės gewidmet. In den modernen Um- und Neubau am nördlichen Neris-Ufer fließen nicht nur öffentliche Gelder, sondern auch unfangreiche private Investitionen (2003 waren es 50 Mio. Euro). Seit Januar 2002 hat W. eines der größten Shoppingzentren der baltischen Staaten mit mehr als 50.000 m² Verkaufsfläche.

Eine Besonderheit ist der Stadtteil Užupis, der nach 1991 zu einem bevorzugten Wohngebiet für Künstler aller Genres wurde. Er befindet sich am Vilnia-Ufer und war das erste Stadtviertel außerhalb der Altstadt. Einmal im Jahr (1. April) wird der Tag der unabhängigen Republik Užupis gefeiert. Symbol der Künstlerkolonie ist die Skulptur eines großen Engels auf einer Säule. Ein interessantes Denkmal steht in der Kalinausko-Straße. Es ist die Büste des Musikers Frank Zappa. Obwohl er nicht mit der Stadt verbunden ist, fanden seine Anhänger, dass ein solches Denkmal seine Berechtigung hat.

Zur Strategie der Stadtentwicklung gehört auch, die nahe gelegene Stadt Kaunas in gemeinsame Projekte einzubeziehen und somit die Wettbewerbsfähigkeit beider Städte unter dem Motto ›The power of two‹ zu erhöhen. Hierbei geht es v. a. darum, den Übergang zu einer Wissensgesellschaft zu vollziehen und das geistige Potenzial entsprechend zu vermarkten.

Anfang

2 Kulturgeschichte

Das Gebiet um die Einmündung des Flusses Vilnia in den Neris ist ein altes Siedlungsgebiet und war bereits in der Altsteinzeit bewohnt. Die eigentliche Entwicklung zur späteren Stadt erfolgte v. a. in der Herrschaftszeit von Gediminas (1316–41), der das Großfürstentum Litauen zu einem einheitlichen Staat zusammenfasste und zielstrebig nach Osten expandierte. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Stadt war ein Schreiben des Gediminas, welches er im Jahre 1323 aus W. an deutsche Städte und Klöster versandte. Er fordert darin Kaufleute, Handwerker und Geistliche auf, nach W. zu kommen und sich hier niederzulassen. Gediminas war bestrebt, durch eine Politik der Toleranz und Öffnung sein Großfürstentum und auch die Hauptstadt W. zu einem gleichwertigen Mitglied der europäischen Staaten jener Zeit werden zu lassen.

Die Zeit des Aufschwungs setzte sich auch nach dem Tod Gediminas’ fort, denn seine Söhne Algirdas (1345–77) und Kęstutis (bis 1382) regierten in gutem Einvernehmen: Algirdas hatte seinen Sitz in W. und war für die Ostpolitik des Landes zuständig, während Kęstutis in Trakai residierte und v. a. die Angriffe des Deutschen Ordens abwehren musste. Einschneidend für die weitere Entwicklung war, dass nach Algirdas Tod ein Machtkampf zwischen dessen Sohn Jogaila (* um 1350) und dem Sohn des Kęstutis, Vytautas (*1350), entbrannte. In diese Wirren fiel das Angebot des polnischen Hochadels an Jogaila, die Herrschaft über Polen zu übernehmen und die Thronerbin Jadwiga zu heiraten. Damit verbunden war die Verpflichtung, den christlichen Glauben anzunehmen, Litauen auf ewig an Polen anzugliedern und dafür zu sorgen, dass die gesamte litauische Bevölkerung den römisch-katholischen Glauben annimmt.

Im Jahre 1386 fand die „Krakauer Hochzeit“ statt und die Litauer, das letzte heidnische Volk in Europa, wurden getauft. Die Vereinigung Polens und Litauens und die Öffnung des Landes für die römisch-katholische Kirche prägten die Kulturgeschichte von W. in hohem Maße. Im Jahre 1387 erhielt W. das Magdeburger Stadtrecht, im gleichen Jahr wurden die heidnischen Kultstätten in der Stadt zerstört, ein Bistum eingerichtet und eine Kathedrale erbaut ((an deren Stelle bereits eine erste hölzerne, um 1251 vom getauften König Mindaugas errichtet, gestanden hatte).

Nachdem sich Jogaila und Vytautas geeinigt hatten, zog Jogaila nach Krakau, um von dort aus den Doppelstaat zu regieren, Vytautas blieb in W., damit brach für die Stadt eine Blütezeit an, v. a. als nach 1410 der Deutsche Orden endgültig geschlagen waren, wuchs die Stadt kontinuierlich an und gehörte zu den größten Städten Europas, eine regelmäßige Postverbindung von W. über Krakau und Wien nach Venedig wurde eingerichtet.

Dem Schutz der Stadt dienten die obere und untere Burg sowie eine mächtige Stadtmauer. Von dieser Mauer sind nur einige wenige Reste sowie das „Tor der Morgenröte“ (litau. Aušros Vartai, poln. Ostra Brama) erhalten. Dieses Tor wurde nicht wie die anderen Tore Ende des 18. Jh. abgetragen, da sich in ihm ein Bild der Madonna befindet, dem wundertätige Kräfte zugeschrieben werden. Noch heute ist die Kapelle das Ziel vieler Pilger.

Innerhalb der Mauern entwickelte sich die Altstadt, schmale Gassen, deren Häuser oft mit Bögen verbunden waren, bestimmten das Bild. Die Einwohner stammten aus verschiedenen Ländern Europas und gehörten unterschiedlichen Religionen an, die tolerante Politik von Vytautas ermöglichte den Bau von Gotteshäusern der verschiedenen Glaubensrichtungen. Der 1432–40 regierende Bruder von Vytautas, Sigismund (Žygimantas I.), ordnete zudem an, dass v. a. die russisch-orthodoxe Stadtbevölkerung an der Stadtverwaltung beteiligen sei und so stellten sie bald die Hälfte des Stadtrates.

Nach Sigismund regierte Jogailas Sohn Kasimir (Kazimieras I.), der auch König von Polen wurde. Seine Herrschaft dauerte 52 Jahre und bedeutete für W. einen weiteren Aufschwung. So fanden z. B. ab 1440 zweimal im Jahr internationale Jahrmärkte statt, die den Ruf der Stadt festigten. Unter der Herrschaft der Nachkommen Kasimirs, Sigismund des Alten (Žygimantas II. Senasis), 1506–48, und Sigismund August (Žygimantas III. Augustas), 1548–72, fortsetzte. V. a. die Heirat Sigismunds des Alten mit der italienischen Fürstentochter Bona Sforza führte dazu, dass sich viele italienische Künstler in W. niederließen und das Bild der Stadt entscheidend prägten. Die untere Burg wurde ausgebaut und erhielt u. a. eine reichhaltige Bibliothek, ein Theater und eine Gemäldegalerie.

Anfang

Seit 1568 gibt es schriftliche Quellen, welche eine nennenswerte jüdische Gemeinde in W. erwähnen, 1572 besaß W. nachweislich eine Synagoge. Die sehr zahlreiche jüdische Bevölkerungsgruppe lebte in einem eigenen Stadtteil im Zentrum der Altstadt. Man nannte W., das bis zu 105 Synagogen zählte auch das „Jerusalem des Nordens“, der Talmud-Gelehrte Elijah ben Solomon (Gaon von W.), der von 1720–97 hier lebte, war weit über die Grenzen seiner Vaterstadt hinaus bekannt. Bis zu ihrer nahezu vollständigen Vernichtung im Zweiten Weltkrieg galt die jüdische Gemeinde W.s als die weltweit bedeutendste, W. als eines der herausragenden judaistischen Zentren, im 18. Jh. v.a. eines des Anti-Chassidismus (Haskala).

Von großer Bedeutung für die Stadt ist die 1579 gegründete Universität W., die älteste Universität im baltischen Raum, mit großem Einfluss auf das wissenschaftliche Leben jener Zeit. Ihr Vorläufer war das 1570 gegründete Jesuitenkolleg, ihr erster Rektor der polnische Prediger und führende Vertreter der Gegenreformation in Polen-Litauen, Piotr Skarga (1536–1612). Die Universitätsgebäude nehmen ein nicht unbedeutendes Areal in der Altstadt ein, die zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Gebäude sind um 13 Höfe gruppiert. Als einen der interessantesten Teile der Universität kann man wohl die Bibliothek ansehen. Sie besitzt mehrere Säle, von denen der älteste der in der ersten Hälfte des 17. Jh. gebaute Smuglevičiaus-Saal ist. Zur Universität gehört die Kirche St. Johannes (Šv. Jono, 1387–1426 erbaut, 1571 fügten die Jesuiten einen breiten gotischen Chorraum mit neuem Altarumgang an, 1738–49 Umbau im spätbarocken Stil), in der W.er Theologen predigten und Studenten und Professoren sich versammelten. Die zu Sowjetzeiten geschlossene Kirche wurde 1991 den Gläubigen zurückgegeben.

Eine bedeutende Leistung der spätmittelalterlichen Baukunst um 1500 stellt das „gotische Ensemble“ (auch „gotischer Winkel“ genannt) dar. Es besteht aus der zierlichen St. Annen-Kirche (Šv. Onos) und der etwas behäbiger wirkenden Bernhardinerkirche (Bernardinų baznyčių) Unweit befindet sich auch die russisch-orthodoxe Muttergottes-Kirche (Skaisčiausios Dievo Motinos cerkvė), ursprünglich erbaut für die (weiß)-russische Ehefrau des Großfürsten Algirdas, 1511–22 grundlegend erneuert.

Nach seiner feudalen Blütezeit verlor W. gegen Ende des 16. Jh. an Bedeutung. Durch die 1569 erfolgte Union von Lublin rückten Polen und Litauen noch enger zusammen (und bildeten fortan einen gemeinsamen, Rzeczpospolita genannten Staat), dabei nahm der Einfluss des polnischen Adels zu, Warschau wurde mehr und mehr zum Mittelpunkt.

Dennoch entstanden auch in W. bedeutende Bauwerke – sowohl Wohnhäuser der reichen Familien als auch Kirchen und Klöster. Besonders hervorzuheben ist die Kirche St. Peter und Paul (Šv. Petro ir Pavilo, erbaut 1668–75 vom Krakauer Architekten Jan Zaor). Die über 2000 Figuren im Innenraum gestalteten die italienischen Stuckateure Pietro Per[et]ti (1648–1714) und Giovanni Maria Galli (?). Auch St. Kasimir (Šv. Kazimieras, erbaut 1604–18, 1961–89 Atheismusmuseum) und St. Theresia (Šv. Teresės, erbaut 1633–50) spiegeln die Baukunst des Barock eindrucksvoll wider. An vielen Kirchen befanden sich Klöster, die im Leben der Stadt bedeutungsvoll waren, sowohl für die Entwicklung von Wissenschaft und Kunst als auch für die Alten- und Krankenpflege.

Die Kathedrale der Stadt steht an einem Platz, der bereits in heidnischer Zeit eine Kultstätte war, wo dem Donnergott Perkūnas gehuldigt wurde. Nachdem mehrere Vorgängerbauten abgebrannt waren, erhielt die Kathedrale ihre heute klassizistische Außengestaltung vom polnisch-litauischen Architekten Wawrzyniec Gucewicz (litau. Laurynas Stuoka-Gucevičius, 1753–98). Im Inneren der Kathedrale befindet sich die barocke Kapelle des Hl. Kasimir, des Schutzpatrons Litauens.

Entsprechend der multiethnischen Zusammensetzung der Stadtbevölkerung wurden viele Sprachen gesprochen, die wichtigsten waren Latein, Litauisch, Polnisch, Altweißrussisch, Ruthenisch. Viele Schriftsteller jener Zeit waren mehrsprachig, besonders häufig war die Kombination litauisch/polnisch. Erst im 18. Jh. wurde die polnische Sprache immer dominanter und das Litauische marginalisiert.

Für die Stadt W. bedeutete das 18. Jh. eine Folge von Zerstörungen durch Stadtbrände, Epidemien und nicht zuletzt durch den Großen Nordischen Krieg 1700–1721. Die zweite Hälfte des 18. Jh. stand aber auch für den Aufschwung der Universität, welche nach der Auflösung des Jesuitenordens staatlich wurde und nunmehr einer neu geschaffenen „Nationalen Erziehungskommission“ (poln. Komisja Edukacji Narodowej) unterstand.

Anfang

An der Universität lehrten namhafte Gelehrte, wie z. B. der Schriftsteller und Sprachwissenschaftler Konstantinas Sirvydas (1579–1631), der ein dreisprachiges (polnisch-lateinisch-litauisch) Wörterbuch herausgab, und studierten der spätere Astronom Martynas Počobutas (poln. Marcin Poczobut-Odlanicki, 1728–1810) sowie der Botaniker Johann Georg Adam Forster (1754–94), der James Cook auf seiner zweiten Entdeckungsreise begleitete. Die 1782–88 erneuerte Sternwarte konnte mit den Observatorien von Greenwich und Paris konkurrieren. In dieser Zeit erschienen in W. die ersten Zeitungen in polnischer Sprache (z. B. Kurier Litewski). Aus der W.er Kunstschule gingen die Maler Franciszek Smuglewicz (litau. Pranciškus Smuglevičius, 1745–1807) und Jan Rustem (Jonas Rustemas, 1762–1835) sowie der Architekt W. Gucewicz (L. Stuoka-Gucevičius) hervor. Am Stadttheater, 1785 von dem polnischen Künstler Wojciech Bogusławski (1757–1829) gegründet, kamen neben den Werken deutscher und französischer Dramatiker auch Werke polnisch-litauischer Autoren zur Aufführung.

Nach der zweiten Teilung Polen-Litauens (1793) regte sich Widerstand gegen die russische Besatzung und im Frühjahr 1794 griff diese Bewegung auch auf W. über (Kościuszko-Aufstand), jedoch war dieser auch hier – angeführt von General Jakub Jasiński (1761–94) – kein Erfolg beschieden.

Im Ergebnis der dritten Teilung fiel Litauen 1795 an Russland und wurde zu einem russischen Gouvernement, W. fiel von einer Hauptstadt in den Rang einer Provinzstadt zurück. Dies äußerte sich u. a. in einem Rückgang der Einwohnerzahlen: waren es im 16. Jh. bereits 30.000, so zählte man 1795 auf Grund von Seuchen, kriegerischen Ereignissen und Abwanderung nur noch 17.690 Einwohner.

Die Zarenherrschaft begann zunächst nicht sehr drückend. Insbesondere die Universität konnte sich gut weiter entwickeln. Die Unterrichtssprache war, nachdem in den 1770er Jahren auch litauisch eingeführt worden war, ab 1803 nur noch polnisch. Es studierten hier u. a. die Romantiker Adam Mickiewicz (litau. Adomas Mickevičius, 1798–1855) und Juliusz Słowacki (1809–49), beide gleichermaßen für Polen und Litauer bedeutsam. In den Jahren 1817–23 wurde die W.er Universität zu einem Zentrum studentischer Untergrundverbindungen, wie der „Filomaten“ („Wissenschaftsfreunde“, litau. Filomatai, poln. Filomaci) und „Filareten“ („Tugendfreunde”, litau. Filaratai, poln. Filareci). Aus ihren Reihen gingen u. a. die Schriftsteller und Historiker Simonas Daukantas (1793–1864) und Simonas Stanevičius (1799–1848) hervor, die in litauischer Sprache schrieben und zu Wegbereitern einer „philologischen“ Revolution wurden, die zur Entstehung einer litauischen Presse- und Literaturlandschaft führte und die nationale Wiedergeburt einleitete.

Nach kurzer Zeit der Konsolidierung – W. wuchs nach Moskau und St. Petersburg zu einer der größten Städte des Zarenreiches – gab es wiederum einen Rückschlag für die Stadt: die Truppen Napoleons zogen 1812 auf dem Weg nach Moskau und auch auf dem Rückweg zweimal plündernd durch W. Die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage führte zu Aufständen in den Jahren 1830/31 und 1863/64, alle wurden jedoch blutig niedergeschlagen. Der Druck der Zarenregierung verstärkte sich und eine massive Russifizierungspolitik wurde betrieben. Folgerichtig schloss man im Jahre 1832 die Universität, als Hort des intellektuellen Widerstandes, 1864 wurde die lateinische Schrift verboten. Auch das polnische Theater und die polnische Zeitung fielen der Schließung anheim.

In diese Zeit fällt die Periode der nationalen Wiedergeburt, die zwar v. a. in Kaunas und den westlich liegenden Regionen verwurzelt war, dennoch spielte W. für alle Litauer eine besondere Rolle. Auch die Polen sahen in W. eine besondere, jedoch polnische Stadt.

Das 19. Jh. brachte für W. außer der rigiden Zarenherrschaft auch den industriellen Fortschritt. Die Stadt erhielt mit der damaligen „Georg-Straße“ (Šv.Jurgio prospektas, heute Gediminas-Prospekt) eine moderne Einkaufs- und Verkehrsachse, die Neustadt entstand. 1860 erfolgte der Eisenbahn Anschluss an Königsberg, Berlin, Paris, Warschau und St. Petersburg. Industriebetriebe entstanden, wie z. B. die Metallfabrik Petras Vileišis’ (1851–1926), Webereien, Möbelfabriken, Gas- und Elektrizitätswerke.

Auch in dieser schweren Zeit war W. nach wie vor ein Zentrum der jüdischen Kultur, es gab eine große jüdische Druckerei (›Gebrider Rom‹) und das einzige jüdische Lehrerseminar im Russischen Reich. Ende des 19. Jh. wurde W. zudem eines der Zentren der jüdischen Arbeiterbewegung (›Der Bund‹ wurde 1897 in W. gegründet), mit Beginn des 20. Jh. des Zionismus. Das 1925 entstandene YIVO-Institut (Yidisher Visnshaftlekher Institut) zur Erforschung der jiddischen Sprache und Kultur hatte seinen Sitz bis 1940 in W. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung W.s betrug um 1905 nahezu 50 % (80.000 von 161.904 Einwohnern).

Nachdem über viele Jahre hinweg litauische Bücher nur im Ausland gedruckt werden konnten (v. a. in Königsberg) und über die Memel nach Litauen geschmuggelt wurden („Bücherträger“, litau. Knygnešiai), gelang es 1904, die Aufhebung des Druckverbots zu erwirken. Im Ergebnis der Revolution von 1905 konnte sich die litauische Kultur weitestgehend frei entfalten, Tageszeitungen auf polnisch, litauisch, russisch und weißrussisch erschienen, auch fünf jüdische Zeitungen waren auf dem Markt. Unter der Führung des Malers und Musikers Mikolajus K. Čiurlionis (1875–1911) nahm ein litauischer Kunstverein seine Tätigkeit auf und die erste litauische Oper von Mikas Petrauskas (1871–1937, Musik) und Gabrielius Landsbergis-Žemkalnis (1852–1916, Text), ›Birutė‹, hatte 1906 ihre Premiere. Es entstand weiterhin der litauische Wissenschaftsverein ›Lietuvių Mokslo draugija‹, dessen Leitung der Historiker und Publizist Jonas Basanavičius (1851–1927) innehatte. Er war auch der Herausgeber der bedeutenden litauischen Zeitung ›Aušra‹ („Morgenröte“). Auch wenn die Vielzahl von Publikationen und Vereinstätigkeiten in den unterschiedlichen Sprachen nebeneinander existierten, war v. a. das Verhältnis von Polen und Litauern nicht immer frei von Konflikten, da für beide W. entweder eine polnische bzw. eine litauische Stadt verkörperte (W.frage). Für die Stadtentwicklung bedeutete diese Zeit v. a. Industriearchitektur und russische Garnisonbauweise, demgegenüber findet man im Gegensatz z. B. zu Riga kaum Jugendstilgebäude.

Anfang

Im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg besetzten die Deutschen W., als sich jedoch ihre Niederlage abzeichnete, rief im Februar 1918 der litauische Staatsrat (Taryba) unter Führung von Antanas Smetona (1874–1944) die Wiederherstellung des litauischen Staates mit der Hauptstadt W. aus. Allerdings stieß dies v. a. auf den Widerstand seitens Polens und so besetzte es 1920 die Stadt und Teile des Umlandes (W.gebiet), die litauische Regierung musste nach Kaunas ausweichen. Für die traditionsreiche Universität bedeutete dies eine Wiedereröffnung unter polnischer Ägide, sie hieß nun Stefan-Báthory-Universität, das wissenschaftliche und kulturelle Leben spielte sich wieder in polnischer Sprache ab.

Am 19.9.1939 marschierte die Rote Armee in W. ein und im Oktober erfolgte die Rückgabe W.s an Litauen. Es wurde verkündet, dass weder Polen noch Juden Repressalien zu befürchten hätten. Dennoch wurde die Universität geschlossen, was die Polen als Angriff auf ihre kulturelle Identität werteten. Die Wiedereröffnung erfolgte 1940 unter dem Rektor Mykolas Biržiška (1882–1962) als litauische Universität. Die Sowjetunion stationierte Truppen in der Stadt, im August 1940 wurde Litauen schließlich als Sowjetrepublik in die UdSSR integriert.

Die Einwohnerzahl der Stadt war 1940 durch Flüchtlinge aus dem Westen Litauens und Zuwanderung von Litauern aus dem ländlichen Umland auf 240.000 angewachsen, der Anteil der Litauer auf 30 % angestiegen. Mitte Juni 1941 kam es zu einer landesweiten Deportationswelle. Ende Juni besetzten die Deutschen die Stadt und es kam zu schrecklichen Massakern an den jüdischen Einwohnern, denen Pogrome von litauischer Seite vorausgegangen waren. Im Verlauf der deutschen Besetzung wurde die jüdische Bevölkerung W.s (1939: 34,2 %) in zwei Gettos zusammengepfercht und kam entweder in diesen um oder wurde im nahe gelegenen Wald von Paneriai erschossen.

Im Juli 1944 marschierte erneut die Rote Armee in W. ein. Damit endete die Herrschaft der Deutschen, Litauen kwurde erneut Teil der Sowjetunion. Ende 1944 hatte W. nur noch 106.500 Einwohner, darunter 84.990 Polen und 7958 Litauer. Nur einige hundert Juden, die überlebt hatten, kehrten vorübergehend nach W. zurück, die meisten blieben jedoch nicht in der teilweise zerstörten Stadt und emigrierten ins Ausland.

Bereits im September 1944 wurde zwischen Polen und der Litauischen Sowjetrepublik ein Abkommen zur Umsiedlung (Repatriierung) der Polen aus Litauen und der Litauer aus Polen getroffen. Zwischen Herbst 1944 und 1947 mussten 89.587 Polen W. verlassen, mehrheitlich als Repatrianten, es kam jedoch auch zu Deportationen nach Sibirien. Die sowjetlitauische Regierung ging dabei nicht nur gegen die polnische Bevölkerung vor, auch Kritiker aus den Reihen der litauischen Bevölkerung sollten durch Zwangsarbeit mundtot gemacht werden. Im Zusammenhang mit den Umsiedlungsaktionen kamen nur etwa 1000 Litauer aus Polen nach Litauen. Bis zur Volkszählung 1959 lebten noch immer 20,0 % Polen in W. 96,8 % der Polen bezeichneten dabei Polnisch als Muttersprache, jedoch sei einschränkend angemerkt, dass viele Polen sich einer spezifischen, der W.er, Mundart (›gwara wileńska‹) bedienten, die litauische Einsprengsel enthält und eine Zwischenstellung zwischen dem Weißrussischen und Polnischen einnimmt. Die letzte sowjetische Volkszählung von 1989 ergab folgendes Bild der Bevölkerung W.s.: Insgesamt hatte W. 576.700 Einwohner, davon waren 50,6 % Litauer, 20,2 % Russen, 18,8 % Polen, 2 % Weißrussen und 5,2 % anderer Nationalität.

W. war wohl durch den Krieg teilweise zerstört, jedoch blieben viele historisch wertvolle Gebäude erhalten. Die Errichtung großer Betriebe der Metallverarbeitung und der Nahrungsmittelverarbeitung wurde v. a. im Südwesten der Stadt entlang der Eisenbahn fortgesetzt, im Westen entstanden nach sowjetischem Vorbild große Neubaugebiete. Einen weiteren Eingriff stellte die Schließung bzw. Zweckentfremdung vieler Kirchen der Stadt dar. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der politischen Situation äußerte sich nach Stalins Tod 1953 v. a. in Form eines mehr oder weniger verborgenen kulturellen Widerstandes – in surrealistischer Malerei, eigenwilligen Theateraufführungen und einer Kritik an der Autorität des Marxismus. Auch die Kirche stärkte im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Widerstand. 1976 entstand die litauische Helsinki–Gruppe, die sich offen für die Menschenrechte einsetzte.

1988 gründeten Bürgerrechtler die inoffizielle Vereinigung ›Sąjūdis‹ („Aufbruch“), welche die Führung im Kampf um die politische Unabhängigkeit übernahm. Nach deren Verkündigung im Januar 1991 kam es am Fernsehturm von W. zu bewaffneten Übergriffen der Sowjetarmee, bei denen 14 unbewaffnete Litauer starben. Als auch das Parlamentsgebäude angegriffen werden sollte, musste die Armee vor der riesigen Menschenmenge kapitulieren. Im August 1991 wurde Litauen als unabhängiger Staat offiziell anerkannt.

Seitdem entwickelt sich die Hauptstadt rasch, viele historische Gebäude wurden renoviert und 1994 erfolgte die Aufnahme der Altstadt in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Ein weiterer Höhepunkt wird 2009 sein, denn da wird W. ›Europäische Kulturhauptstadt‹. Unter dem Motto ›Vilnius CV – Creativity and Vitality‹ bereitet sich die Stadt mit einem umfangreichen Festprogramm darauf vor.

Auch jüdische Kultur ist wieder, wenn auch in bescheidenem Umfang, präsent in W., es gibt eine Synagoge, einen Kindergarten, eine Schule und ein Kulturzentrum sowie ein jährlich stattfindendes internationales jüdisches Musikfestival. Seit 1998 bietet das ›Vilnius Yiddish Institute‹ jedes Jahr Kurse in jiddischer Sprache an.

Sverdiolas A. (Hg.) 1997: Barockführer durch Litauen. Vilnius. Vilniaus Miesto Savivaldybė (Hg.) 2004: Acitivities of the Vilnius City Municipality for 2003-2004 (= www.vilnius.lt/PDF/municipality_RGB_lores.pdf [Stand 21.9.2006]). Vilnius. Weeks T. R. 2006: A Multi-ethnic City in Transition: Vilnius’ Stormy Decade 1939-1949. Eurasian Geography and Economics Bd. XLVII/2, 153-175.

(Elke Knappe & Vytautas Juščius)

Anfang
Views
bmu:kk