Timişoara
Timişoara (rumän.; dt. Temeswar, Temeschwar, Temesvar, Temeschburg; serb. Tamišvar; ungar. Temesvár)
Inhaltsverzeichnis |
1 Geographie
T., die Hauptstadt der historischen Region Banat, liegt im Südosten des Pannonischen Beckens im Schnittpunkt dreier alter Fernverkehrstrassen: von West und Nord (Adria, Mitteleuropa, Ostseeraum) nach Ost und Süd (Schwarzmeerraum, Vorderer Orient, Ägäis). Heute ist T. das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zentrum Westrumäniens, verwaltungsmäßig aber auf die Kreisstadtfunktion (Judeţ Timiş, 8697 km², 658.837 Einwohner 2005) beschränkt. Ausnahmen hiervon bilden nur einige Sonderverwaltungen (z. B. Eisenbahn) und der Sitz der rumänischen Entwicklungsregion ›Regiunea V Vest‹, die vier Kreise umfasst. Von der rumänischen Hauptstadt ist T. rd. 550 km entfernt, von Belgrad 170 km, Budapest 290 km und von Wien, dem städtebaulichen Vorbild, 550 km.
Lage und Naturraum
Topographisch liegt T. am Nordrand einer bis ins 18. Jh. amphibischen, 30 km breiten Auenlandschaft des „Temesch-Bega-Systems“, Teil der „niederen Ebene“, in 85-95 m. ü. d. M. Die Stadt beherrscht eine der wenigen Furten über dieses System und wurde in der Schutzlage der Sümpfe angelegt. Ihre Fläche beträgt 100,6 km², von denen 37,5 km² als eigentliche Siedlungsfläche genutzt sind. Die Stadt sitzt auf einem 1740 m mächtigen Sedimentpaket, das sich immer noch absenkt. Diese tektonische Beanspruchung ruft im näheren Umland des Öfteren Erdbeben hervor, die aber die Stufe 6 der Richter-Skala selten überschreiten, und führt Mineral-Thermalwässer in Oberflächennähe, wie sie bereits 1894 in 405 m Teufe (24,5 °C) oder 1965 in 1200 m Teufe (52 °C) erbohrt wurden.
Das Klima hat Übergangscharakter mit maritimen und kontinentalen Elementen und mediterranen Einflüssen. Es weist lange warme Sommer und kurze, manchmal kalte Winter auf. Die mittleren Temperaturen betragen im Jahr 10,6 °C, im Januar –1,6° C und im Juli 21,1 °C. Die Niederschläge sind mit 591,9 mm/Jahr relativ gering, haben aber ein günstiges Frühsommermaximum. Heute liegt T. am Bega-Kanal (1726–46 gebaut), dem Kernstück der Trockenlegungsmaßnahmen, mit denen das Gewirr von Temescharmen zurückgedrängt wurde. Am Ende des 19. Jh. waren dadurch fast alle Wasserflächen in der Stadt und mit ihnen die Waldvegetation verschwunden. Nur im Nordosten gibt es mit dem „Jagdwald“ noch ein größeres Waldstück, dafür zeichnet sich die weitläufig angelegte Stadt auch heute noch durch umfangreiche Grünanlagen aus.
Bevölkerung
T. hat 303.640 Einwohner (Mitte 2005) und konzentriert damit fast 40 % der Bevölkerung des Kreises auf sich. Ähnliches gilt für die Zahlen der Erwerbstätigen. 1997 waren von 103.000 Erwerbstätigen rund 50 % in der Industrie tätig und 30 % im Dienstleistungssektor beschäftigt. Seither dürften die Zahlen allgemein, wie auch in den beiden genannten Sektoren gestiegen sein. Die Stadt wuchs bis Mitte der 1990er Jahre v.a. durch Zuzug, seither macht sich auch hier der Bevölkerungsrückgang und die Abwanderung in Rumänien bemerkbar, die Einwohnerzahl sinkt trotz wirtschaftlichem Aufschwung.
Das prägende Charakteristikum ist die ethnische und religiöse Vielfalt, die seit der Wiederbesiedlung nach 1718 durchgehend belegt ist. Von den 334.115 Einwohnern des Jahres 1992 waren 274.511 Rumänen, 31.785 Ungarn, 13.206 Deutsche, 7841 Serben/Kroaten, 2668 Roma, 1314 Bulgaren. 2497 Einwohner entfielen auf neun weitere namentlich genannte Minderheiten, sowie 267 auf andere Nationalitäten; 26 waren unbekannter Zugehörigkeit. Im religiösen Bereich dominieren selbstverständlich rumänisch-orthodoxe Einwohner, gefolgt von den ethnisch stark gemischten römisch-katholischen (Ungarn, Deutsche, Bulgaren, Slowaken, Kroaten u. a.); dazu die serbisch-orthodoxe und einige protestantische Kirchen. Dies drückt sich im Stadtbild aus: Im Zentrum liegen auf weniger als einem Kilometer Distanz eine lutherische Kirche, der römisch-katholische Dom mit Bischofssitz, der serbisch-orthodoxe Dom mit Bischofssitz, die – ungenutzte – Synagoge, eine reformierte Kirche und die rumänisch-orthodoxe Metropolitenkirche des Banats. Auch die Straßennamen, Tür- und Reklameschilder, die lokalen Zeitungen und Zeitschriften in vielen Sprachen oder das dreisprachige Staatstheater spiegeln die in fast drei Jahrhunderten gewachsene Multikulturalität wieder.
Der Siedlungsaufbau T.s ist bemerkenswert, da das Festungsstatut bis 1892 galt. Daher sind der barocken „Festung“, also dem Zentrum, vier barocke Vorstädte im Abstand der Schussfeldtiefe (etwa 1 km) vorgelagert. Dieser innerstädtische Gürtel wächst erst seit etwa 1900 zu, bot aber auch viel Raum für ausgedehnte Grünzonen. Im Bereich der städtischen Infrastruktur gehört T. seit jeher zu den Pionierstädten. Auch heute werden diese Infrastrukturnetze (Trinkwasser und Straßenbahn) vorrangig modernisiert.
Wirtschaft
Obwohl T. ein hochrangiger zentraler Ort ist, kann er nach wie vor als Industriestadt gelten. Die Nahrungsmittel- (Brauerei ab 1718), Leder- (Manufaktur ab 1726) und Textilindustrie (mehrere Sparten ab den 1720er Jahren) sind durchgehend wichtige Zweige gewesen. Später kamen Maschinenbau und sehr früh die chemische und Elektroindustrie dazu, zwei Branchen, die seit rund 100 Jahren als innovative Dominanten der T.er Industrie gelten können. Die große Diversität der Industrie v. a. im Konsumgüter- und Leichtindustriesektor bildet heute die Basis für den Zustrom hoher ausländischer Direktinvestitionen in arbeitsintensive Produktionen, v. a. der Textil-, Elektro-, Maschinenbau- und Autozulieferbranche. Hauptherkunftsländer sind Italien, Deutschland, Österreich, Ungarn u. a. Auch in den Dienstleistungssektor fließen solche Mittel. Hier ist allerdings nach der kommunistischen Periode ein Wiederaufbau ganzer Branchen (Banken, Versicherungen, Immobilienwesen etc.) nötig, die nach Bukarest gerade in T. einen zentralen Standort für Rumänien, aber auch Südosteuropa finden.
2 Kulturgeschichte
Die materielle Geschichte des heutigen T. beginnt 1718; aus der Zeit davor sind im Grunde nur verstreute Kleinrelikte und Teile des Baukörpers des so genannten „Hunyadi-Schlosses“ aus dem frühen 15. Jh. übrig. Aus dieser Zeit haben Sedimentierung, gelegentliche Erdbeben und häufige Kriege bereits viel zerstört, aber der völlige Stadtumbau und die Anlage einer Vauban-Festung in der Mitte des 18. Jh. beseitigten praktisch alle Spuren der älteren Epochen. So ist bis zur ersten schriftlichen Nennung eher die doppelte Siedlungsgunst (Furt, Schutzlage) Beweis für frühere Niederlassungen.
Funde reichen in die Jungsteinzeit, belegen Bronze- und Eisenzeit und die Anwesenheit der Römer, die im Wallsystem zwischen Mureş und Donau an dieser Stelle sicher eine Befestigung hatten. Sie wurde offensichtlich in der Völkerwanderungszeit weiter genutzt, zum Teil sogar als Herrschaftssitz. Dies war T. in jedem Fall sehr schnell nach Beginn der ungarischen Zeit um 1030, denn bei der ersten sicheren Nennung 1266 wird es bereits als Festung und Komitatssitz bezeichnet. 1315–22 residierte der ungarische König Karl Robert von Anjou und von 1441 bis zu seinem Tod nach der Schlacht von Belgrad (1456; katholisches Mittagsgeläut) Johannes Hunyadi in der Stadt.
Mit dieser Schlacht endete die erste Phase der Türkenbedrohung seit 1394. Erst nach Mohács (1526) setzte sie wieder ein, doch die starke Festung überstand mehrere Angriffe und Belagerungen, bis sie am 30.7.1552 für 164 Jahre an die Osmanen fiel.
In der Türkenzeit war T. eine blühende Stadt, die im Rang als Vorort eines Paschaliks Belgrad und Ofen gleichgestellt und eine Festung mit 200 Kanonen und über 10.000 Mann Besatzung war. Sie trotzte allen habsburgischen Angriffen im 17. Jh., sodass T. mit dem Banat im Frieden von Karlowitz (heute Sremski Karlovci) 1699 als einzige Provinz nördlich der „nassen Grenze an Donau und Save“ bei den Osmanen verblieb. In den folgenden zwei Jahrzehnten blutete die Stadt aufgrund der Frontsituation und der Kleinkriege völlig aus. Am 12.10.1716 konnte Prinz Eugen sie trotz einer Besatzung von 18.000 Mann erobern. Mit ihr fiel das Banat im Friede von Passarowitz (heute Požarevac) 1718 für genau 60 Jahre an das Haus Habsburg.
1718–78 bauten die absolutistischen Kaiser in T. eine völlig neue Festungsstadt von der doppelten Größe der mittelalterlich-osmanischen Vorläufer. Das Straßengewirr wich einem klaren Schachbrettgrundriss, die alten Mauern einer Vauban-Festung mit drei Mauerringen. Die Gräben wurden zugeschüttet und teils in die neue Stadt einbezogen. Auf Schussfeldtiefe (etwa 1 km) von der Stadt entfernt errichtete man neue Vorstädte, darunter im Osten die Fabrikstadt mit der Brauerei und anderen Manufakturen. So erhielt die Gesamtstadt ihre Struktur und das Zentrum sein barockes Gesicht.
1778 fiel T. mit dem Banat an die ungarische Krone zurück und wurde zum Komitatsvorort herabgestuft, 1781 aber zur „Königlichen Freistadt“ erhoben, in der 1809 die Reichsinsignien vor Napoleon in Sicherheit gebracht wurden. 1849 wurde die Stadt 104 Tage von separatistischen ungarischen Honvéd-Truppen belagert. Nach deren Niederlage unterstand T. als Hauptstadt der „Vojvodina und des Temescher Banats“ bis 1860 wieder direkt Wien, fiel dann wieder an Ungarn und erlebte in den folgenden fünfzig ungarischen Jahren einen enormen wirtschaftlichen Boom. Aus Handwerk und Manufakturwesen wuchs eine breit aufgestellte Industrie. Der Handel blühte, v. a. mit land- und montanwirtschaftlichen Erzeugnissen. Er profitierte von der Einbindung der Stadt in neue Kommunikationsnetze: 1857 Anschluss ans europäische Eisenbahnnetz, Schiffsverkehr über den Fluss Bega zur Donau, 1881 Telefonnetz. In der Stadt entstanden neue Infrastrukturen: Pflasterstraßen, Wasser- und Gasanschlüsse, Kanalisation, am 8.7.1869 die fünfte Straßenbahn der Welt, am 12.11.1884 die erste elektrische Straßenbeleuchtung Europas, dazu Volksbad, Volkspark und andere Gemeinschaftseinrichtungen. Um die vorletzte Jahrhundertwende war die Stadt auf einem Niveau mit allen vergleichbaren Städten Mitteleuropas.
Trotz des Nationalismus (Magyarisierung) stellten die Deutschen laut den ungarischen Volkszählungen 1880 bis 1900 mehr als die Hälfte der Einwohner, erst 1910 fielen sie wegen des starken Wachstums der Stadt auf 43 %. Die Ungarn nahmen von 22 % (1880) über 32 % (1900) auf 40 % (1910) zu, während Rumänen bei 10 % und Serben bei etwa 5 % stagnierten.
Im Ersten Weltkrieg blieb T. von Kampfhandlungen verschont. Danach geriet es aber in die Auseinandersetzungen zwischen Serben und Rumänen, denen die Alliierten jeweils das gesamte Banat vertraglich zugesichert hatten. Erst besetzten serbische Truppen am 14.11.1918 die Stadt. Am 3.8.1919 wurden sie von rumänischen Truppen vertrieben, nachdem die Teilung des Banats beschlossen und am 4.6.1920 im Vertrag von Trianon besiegelt worden war. Dadurch verlor T. einen Teil seines Umlandes und die staatliche, aber auch infrastrukturelle Bindung an den mitteleuropäischen Raum. Diese Umorientierung führte zusammen mit den Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit zur wirtschaftlichen Stagnation, die nur Ende der 1920er und Ende der 1930er Jahre von Erholungen abgelöst wurde. Das ethnische Spektrum änderte sich etwas: 1930 hatten Deutsche und Ungarn je 30 %, Rumänen 26 % Anteil an der Bevölkerung.
Auch im Zweiter Weltkrieg erlebte T. „nur“ einen alliierten Bombenangriff, der den von Gustave Eiffel gebauten Bahnhof und die Bahnanlagen zerstörte. Wieder waren die Kriegsfolgen gravierender. Die Deutschen waren vom 15.1.1945 bis Ende 1949 von der Deportation der Arbeitsfähigen und frühen Enteignungen betroffen. 1948 war die kommunistische Herrschaft so gefestigt, dass die gesamte Industrie und weite Teile der Dienstleistungen verstaatlicht wurden. Kleinbetriebe in Handwerk und Dienstleistungssektor wurden im folgenden Jahrzehnt zu Kooperativen zusammengefasst. Damit war die Eigentumsstruktur der T. Wirtschaft völlig umgekehrt. Ab den 1960er Jahren erfolgte dann die Veränderung der Branchenstruktur. Die Konsum- und Leichtindustrie wurde zunehmend vernachlässigt, während die ideologisch bevorzugte Schwer- und Produktionsgüterindustrie aus- und aufgebaut wurde; etwa im Schwermaschinenkombinat UMT (ab 1960), das sich auf Bergwerksausrüstungen und Hebezeuge spezialisiert hatte. In den 1980er Jahren erlebte T., wie ganz Rumänien, eine dramatische Auszehrung aller wirtschaftlichen und sozialen Bereiche. In der Stadt mit der ersten elektrischen Straßenbeleuchtung Europas brannten 100 Jahre später nachts keine Lampen mehr!
Mit der Industrie wuchs die Bevölkerung der Stadt; im Wesentlichen durch Zuzug rumänischer Bevölkerung aus Ost- und Süd-Rumänien. Dagegen war in der letzten Phase des kommunistischen Regimes der Zuzug aus dem Umland verboten, was de facto auf ein Zuzugsverbot der Minderheiten hinauslief. Dies änderte die ethnische Struktur grundlegend. 1992 standen 82,1 % Rumänen, 9,5 % Ungarn, 2,4 % Serben und 3,9 % Deutsche gegenüber, deren Zahl v. a. durch eine seit den 1970er Jahren anhaltende Aussiedelung schrumpfte.
Dennoch scheint diese ethnische und damit mentale Vielfalt ein wesentlicher Hintergrund für den Ausbruch der „Revolution“ in Rumänien gewesen zu sein. Auslöser war der Widerstand der reformierten ungarischen Gemeinde der T.er Elisabethstadt gegen die Zwangsversetzung ihres Pfarrers László Tökés, gegen die am 14.12.1989 Wache gehalten wurde. Am 15.12.1989 sprang der Funke erst auf die stark gemischte T.er Studentenschaft, dann auf die gesamte Bevölkerung der Stadt über. Sie hielt den Aufstand trotz Schießbefehl und weit über 100 Toten aufrecht, bis er das ganze Land und v. a. Bukarest erfasste. Dort wurde er von einer Machtgruppe aus der kommunistischen Partei in einen Staatsstreich umgedeutet. Die Richtung wurde derart verändert, dass die T.er Aufständischen bereits am 11.03.1990 ihre Ziele in einer „Proklamation von Temeswar“ detailliert darlegten und – lange vergeblich – auf ihre Einhaltung drangen.
Nach der Wende und rd. zwei Jahren der Überwindung der Lethargie der 1980er Jahre erfolgte in T. nach einer relativ kurzen Transformationsdepression sehr rasch eine erste Erholung der wirtschaftlichen und sozialen Bereiche. Ab 1996 ist ein zunehmender Aufwärtstrend spür- und im Stadtbild auch sichtbar; nicht zuletzt, weil die Stadt für ausländische Direktinvestitionen aus dem deutschsprachigen und italienischen Raum sehr attraktiv ist. Die Bevölkerungszahl wuchs zunächst noch etwas, meist durch die Legalisierung früher erfolgter Zuzüge. Seit Mitte der 1990er Jahre sinkt sie stetig durch den Geburtenrückgang, die Abwanderung v. a. der in T. gut ausgebildeten jungen Fachkräfte des technischen und IT-Bereichs und einer langsam beginnenden Suburbanisierung in den Umlandgemeinden.
Munteanu I., Munteanu R. 2002: Timişoara. Timişoara. Rieser H.-H. 1992: Temeswar. Geographische Beschreibung der Banater Hauptstadt. Sigmaringen (= Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 1). Rieser H.-H. 2002: Temeswar – die multiethnische Hauptstadt des Banates. Kraas F., Stadelbauer J. (Hg.): Nationalitäten und Minderheiten in Mittel- und Osteuropa. Wien, 100–117 (= Ethnos 60).