Wolgograd (Stadt)

Wolgograd (russ. Volgograd, bis 1925 Caricyn, 1925–61 Stalingrad).

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

W. ist die Hauptstadt des W.er Gebiets, Verkehrsknotenpunkt, Industrie- und Handelszentrum an der unteren Wolga. Das Stadtzentrum befindet sich am Zufluss des Flusses Carica, dessen Name sich auch in der ursprünglichen Ortsbezeichnung Caricyn wiederfindet. Er leitet sich wahrscheinlich vom tatarischen ›Sari-su‹ („gelbes Wasser“) oder ›Sari-čin‹ („gelbe Insel“) ab. Die Stadt erstreckt sich heute über eine Länge von ca. 90 km entlang des westlichen Wolgaufers und hat eine Fläche von 421 km². W. ist im Westen ca. 70 km vom Don, im Osten ca. 150 km von der Grenze Kasachstans entfernt. Die Entfernung nach Moskau beträgt 1073 km. Nördlich der Stadt ist die Wolga für die Stromgewinnung in den Jahren 1958 bis 1961 zum W.er Stausee (Volgogradskoe vodochranilišče) aufgestaut worden. Er hat eine Länge von 540 km, eine Fläche von 3117 km² und ein Fassungsvermögen von 31,5 km³. Im Süden der Stadt befindet sich der Endpunkt des zwischen 1948 und 1952 erbauten Wolga-Don-Kanals (›Volgo-Donskoj-Sudochodnyj kanal imeni V. I. Lenina‹), der eine Länge von 101 km hat und für Schiffe bis 5000 t befahrbar ist.
Heute ist W. ein Zentrum der Metall-, Holz-, Chemie- und Ölindustrie sowie des Maschinenbaus. W. verfügt über einen Flughafen, eine Universität, mehrere Hochschulen und Forschungsinstitute, mehrere Theater und eine Philharmonie.

W. liegt 41 m ü. d. M. Es herrscht kontinentales Klima. Die Durchschnittstemperaturen betragen im Januar –9,6 °C und im Juli 24,2 °C. Die Niederschlagsmenge beträgt durchschnittlich 330 mm im Jahr.
Bevölkerungsentwicklung: 1728: 408, 1806: 1361, 1830: 5253, 1897: 55.186, 1913: 131.732, 1938: 445.312, 1958: 447.000, 1985: 981.000 und 2005: 991.600. Charakteristisch für die Stadt ist ein hoher Frauenüberschuss: auf 1000 Männer kommen 1169 Frauen.

W. gliedert sich in sieben Stadtbezirke. Die verwaltungsmäßige Zuordnung von W. hat häufig gewechselt: Nach 1708 gehörte Caricyn zum Kasaner, nach 1717 zum Astrachaner, nach 1782 zum Saratover, nach 1796 wieder zum Astrachaner Gouvernement. 1798 wurde es Kreisstadt. Nach 1925 war es Hauptstadt des neugebildeten Gouvernements Caricyn, das 1928 in dem Territorialbezirk „Untere Wolga“ (Niže-Volžskij kraj) aufging, dessen Verwaltung zunächst in Saratov, ab 1932 jedoch in Stalingrad angesiedelt war. 1934 wurde der Territorialbezirk in die Bezirke Saratov und Stalingrad geteilt. Die Verfassung der UdSSR von 1936 bildete aus dem autonomen Gebiet der Kalmücken die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Kalmückien und gliederte sie aus dem Stalingrader Bezirk aus. Gleichzeitig wurde der Territorialbezirk zum Stalingrader Gebiet, das 1961 in W.er Gebiet umbenannt wurde.

2 Kulturgeschichte

Die Gegend um W. war aufgrund ihrer geographischen Lage an der Landenge zwischen Wolga und Don schon in der Antike eine wichtige Handelsroute. Laut Herodot siedelten hier im 5. Jh. v. Chr. Skythen. Im 8. und 9. Jh. gehörte das Gebiet zum Reich der Chasaren, im 11. und 12. Jh. hielten sich hier verschiedene Stämme auf, u. a. die Polovcer. Mit dem Mongolensturm im 13. Jh. kam es unter die Herrschaft der Goldenen Horde, die ca. 50 km östlich von W., am Fluss Achtuba, mit der Stadt „Neu-Sarāy“ (arab./pers. Sarāy al-Ǧedid) eines ihrer Zentren errichtete. Zu dieser Zeit gab es auch auf dem Gebiet des heutigen W. eine mongolische Siedlung. Hierher zog sich der Emir Mamay zurück, nachdem er 1380 von Dmitrij Donskoj geschlagen worden war. Nach Mamay ist noch heute die höchste Erhebung W.s benannt (Mamaev-Kurgan, „Mamaj-Hügel“).

Die Anfänge des russischen Caricyn liegen im Dunkeln. Möglicherweise hat hier schon Ivan IV., gen. der Schreckliche, nach der Eroberung des Khanats von Astrachan (1556) einen Militärstützpunkt zur Verteidigung gegen Angriffe aus der Steppe angelegt. Als offizielles Gründungsdatum gilt aber der 2.7.1589. An diesem Tag ordnete Zar Fëdor I. Ivanovič an, die Festung Caricyn zu errichten. Diese aus Holz gebaute Anlage befand sich zunächst auf einer heute nicht mehr existierenden Wolgainsel gegenüber der Mündung des Flusses Carica. Nach einem Brand wurde sie auf das rechte Wolgaufer verlegt. Das erste steinerne Gebäude entstand 1664. Im 17. und 18. Jh. wurde die bis dahin nur wenige hundert Einwohner zählende Stadt mehrfach von Aufständischen belagert und eingenommen: 1670 fiel sie in die Hände von Stepan (Stenʹka) Razin, 1707 wurde sie von Kondratij Bulavin eingenommen, 1774 kam es zu zwei erfolglosen Belagerungen durch Emelʹjan Pugačëv.

1765 entstand südlich von Caricyn die deutsche Kolonie Sarepta der Herrnhuter Brüder. Caricyn war bis 1941 ein wichtiges Zentrum der von Katharina II. geworbenen sog. Wolgadeutschen. Nach der Eroberung der Krim und des Kubanʹ-Gebietes 1783 verlor Caricyn seine militärstrategische Bedeutung und entwickelte sich allmählich zu einem Handels- und Wirtschaftszentrum. V. a. der Bau der Eisenbahnlinie nach Kalač-na-Donu 1862 und nach Grjazi 1872 führte zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und machten Caricyn zu einem Knotenpunkt der Verkehrsverbindungen vom Kaspischen und Schwarzen Meer und vom Kaukasus nach Zentralrussland. In der Folge siedelte sich hier auch Großindustrie an: Metall und Holz verarbeitende Betriebe, eine Petroleumraffinerie, mehrere Mühlen und Lederfabriken.

Nach der Oktoberrevolution war Caricyn ein Schauplatz des russischen Bürgerkrieges. Die Stadt wurde von „weißen“ Kosaken-Truppen unter General Pëtr Krasnov belagert und von Juli 1918 bis Februar 1919 besetzt. In dieser Zeit wurde Stalin Mitglied des örtlichen Militärrates. In der sowjetischen Historiographie ist Stalins Rolle bei der Verteidigung Caricyns später stark übertrieben worden. Ausdruck dieser Sicht war die Umbenennung der Stadt in ›Stalingrad‹ am 10.4.1925.

Weltweite Bekanntheit erreichte die Stadt durch die Schlacht um Stalingrad 1942/43. Im Februar 1943 lag die Stadt zu 85 % in Trümmern. Der Wiederaufbau folgte dem Konzept einer „sozialistischen Stadt“ mit breiten Prachtstraßen und Bauwerken im sog. stalinistischen Stil. Kirchen und vorrevolutionäre Gebäude verschwanden weitgehend aus dem Stadtbild. Gleichzeitig wurden auch die industriellen Anlagen wiedererrichtet. 1961 erfolgte im Zuge der Entstalinisierung die Umbenennung der Stadt in W. Für einige Jahre verschwand der Name ›Stalingrad‹ völlig aus dem offiziellen Wortschatz. Zwischen 1958 und 1967 entstand auf dem Mamaj-Hügel ein von Evgenij Vučetič entworfenes monumentales Denkmal, dessen Mittelpunkt die 85 m hohe Skulptur „Mutter Heimat ruft“ (Rodina Matʹ zovet) bildet.

Nach dem Untergang der Sowjetunion war auch W. zu Beginn der 1990er Jahre stark von der allgemeinen Wirtschaftskrise betroffen. Inzwischen hat jedoch wieder eine Erholung eingesetzt. Die Stadtverwaltung versucht v. a., die Infrastruktur zu verbessern. U. a. sind eine neue Wolgabrücke, die Erweiterung des Hafens am Wolga-Don-Kanal und der Ausbau des Flughafens v.a. hinsichtlich der internationalen Verbindungen geplant. Das Programm „W. geht an die Wolga“ (Volgograd vychodit k Volgu) sieht die Umsiedlung der Industriebetriebe weg von den Ufergebieten und den Bau neuer, der Wolga zugewandter attraktiver Stadtteile vor. Die historische Bausubstanz aus der Stalin-Ära soll erhalten bleiben und entsprechend den Anforderungen der veränderten politischen Rahmenbedingungen behutsam ergänzt werden. Im Jahr 2003 wurde auf dem zentralen „Platz der Gefallenen“ (Ploščadʹ pavšich) der Grundstein für den Wiederaufbau der 1942 zerstörten Aleksandro-Nevskij Kathedrale gelegt.

Lipjavkin A. F. 1971: Volgograd. Istoričeskij očerk. Volgograd. Vodolagin M. A. 1968: Očerki istorii Volgograda, 1589–1967. Moskva. Partijnyj archiv Volgogradskogo obkoma KPSS 1973: Naš Kraj. Chronika istorii Volgograda i oblasti. Volgograd. http://www.volgadamin.ru. [Stand 25.5.2005]. http://www.volganet.ru [Stand 25.5.2005].

(Wolfram von Scheliha)


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