Stalingrad (Schlacht)

Stalingrad, Schlacht um (1942/43; russ. Stalingradskaja Bitva, 1955–64 v. a. „Schlacht an der Wolga“, russ. Bitva na Volge).

Die Schlacht um S. (heute Wolgograd) gehört zu den bekanntesten, wenn auch nicht opfer- und materialreichsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Sie gilt allgemein als Wendepunkt des Krieges. Wie „Auschwitz“ für den Holocaust und „Hiroshima“ für den Atomkrieg ist „S.“ zur Chiffre für einen hybriden konventionellen Angriffskrieg geworden.

Unter dem Kodenamen „Blau“ legte Adolf Hitler am 5.4.1942 die Grundzüge der Sommeroffensive des Jahres 1942 an der Ostfront fest: Die Heeresgruppe Süd sollte in gestaffelten Teiloperationen Voronež und die Gebiete westlich des Don einnehmen und in einem dritten Schritt S. erreichen und als Rüstungs- und Verkehrsknotenpunkt ausschalten. Anschließend sollte sie sich dem eigentlichen Operationsziel zuwenden: der Einnahme des Kaukasus mit seinen kriegswichtigen Erdölfeldern. S. spielte in diesen Planungen nur eine untergeordnete Rolle, eine Eroberung der Stadt war zunächst nicht beabsichtigt. In Abkehr davon verfügte Hitler jedoch am 23.7., die ursprünglich nacheinander vorgesehenen Operationen parallel durchzuführen. Da Stalin mit einem erneuten deutschen Angriff auf Moskau gerechnet und seine Truppen dort konzentriert hatte, gelangen der Wehrmacht in kurzer Zeit große Gebietsgewinne. Am 23./24.8. flog die deutsche Luftwaffe schwere Bombenangriffe gegen S., die es weitgehend zerstörten und ca. 40.000 Todesopfer unter der Zivilbevölkerung forderten. Um den Kampfeswillen seiner Armee zu stärken, hatte Stalin eine Evakuierung S.s zuvor untersagt. Bereits am 28.7. hatte er den berüchtigten Befehl Nr. 227 erlassen, der von den Soldaten bedingungslosen Einsatz abverlangte und jeden unerlaubten Rückzug mit der Todesstrafe zu ahnden drohte („Kein Schritt zurück!“ russ. Ni šagu nazad!). Aufgrund dieses Befehls wurden allein im Raum S. hinter der Frontlinie 41 Sperreinheiten aufgestellt. Die genauen Opferzahlen lassen sich nicht mehr ermitteln. Einem NKWD-Bericht zufolge sind bei S. vom 1.8.-15.10.1942 51.748 Rotarmisten aufgegriffen worden, von denen 711 erschossen, 980 verhaftet und 1349 an Strafkompanien überstellt wurden.

Bis Anfang November konnte die Wehrmacht 80 % der Stadt erobern, jedoch verwickelte die 62. Armee unter General Vasilij Čujkov die deutschen Truppen ohne Rücksicht auf die eigenen hohen Verluste in einen blutigen Häuserkampf. Am 19.11. begann die sowjetische Gegenoffensive, drei Tage später war die 6. Armee unter General Friedrich Paulus eingekesselt. Vorschläge für einen Ausbruch aus dem Kessel lehnte Hitler, der bereits am 9.11. die Eroberung der Stadt öffentlich verkündet hatte, rigoros ab. Dabei spielten weniger militärische Erwägungen als die symbolische Bedeutung von S. eine Rolle, zumal Hermann Göring zugesagt hatte, die 6. Armee über eine Luftbrücke zu versorgen, was jedoch zu keiner Zeit im nötigen Umfang einfolgte. Am 21.12. scheiterte ein Entsatzangriff der 4. Panzerarmee unter General Hermann Hoth. Der Mangel an Nahrung, Ausrüstung und Munition ließ einen weiteren Kampf aussichtslos erscheinen, doch Hitler untersagte eine Kapitulation strikt. Wider besserer Einsicht folgten die verantwortlichen Generäle diesem Befehl, der Zehntausenden von Menschen auf beiden Seiten das Leben kostete. Denn der Roten Armee gelang es erst Ende Januar 1943, den Widerstand der 6. Armee zu brechen. Am 2.2. kapitulierte Paulus, den Hitler nur wenige Stunden zuvor in der Erwartung zum Generalfeldmarschall befördert hatte, dass er einen Freitod der sowjetischen Gefangenschaft vorzieht.

Über die Zahl der Todesopfer auf beiden Seiten gibt es keine verlässlichen Angaben. Nach neuesten Schätzungen befanden sich im Kessel von S. rd. 250.000 Angehörige der Wehrmacht, zu denen etwa 5000 rumänische, 900 kroatische und 30 italienische Soldaten zählten. Dazu gehörten auch etwa 1100 deutsche und ausländische Angehörige der „Organisation Todt“ sowie rd. 50.000 „Hilfswillige“ unterschiedlicher Nationalität, v. a. Ukrainer und Russen. Von diesen Eingeschlossenen fielen bis Anfang Februar 1943 rd. 60.000 Deutsche und 2000 Rumänen, 25.000 Deutsche wurden aus dem Kessel ausgeflogen, rd. 110.000 Deutsche und 3000 Rumänen gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, von denen bereits in den ersten Wochen ein Großteil an Hunger und Entkräftung starb. Nur etwa 5000 Wehrmachtssoldaten konnten nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehren. Über das Schicksal der Hilfswilligen ist ebenso wenig wie über das der rd. 90.000 sowjetischen Kriegsgefangenen bekannt. Wahrscheinlich ist die Mehrzahl derer, die die Schlacht überlebt haben, als „Vaterlandsverräter“ hingerichtet worden. Auf sowjetischer Seite sind bei S. rd. 479.000 Soldaten gefallen und 651.000 verwundet worden.

Die Schlacht um S. rief unmittelbar nach ihrem Ausgang weltweit ein großes Echo hervor. Sie wurde als Sinnbild des Kampfes der beiden Diktatoren Hitler und Stalin wahrgenommen. Unter dem Eindruck des sowjetischen Sieges wurden am 21.2.1943, zum Tag der Roten Armee, in London an öffentlichen Gebäuden die rote Fahne gehisst. In Frankreich und Belgien tragen noch immer Straßen, Plätze und Bahnhöfe den Namen S. Bis heute wird die Schlacht um S. allgemein als Kriegswende angesehen, obwohl unter militärischen Gesichtspunkten den eigentlichen Wendepunkt bereits das Scheitern des deutschen Blitzkriegskonzepts vor Moskau und der Kriegseintritt der USA im Winter 1941 markierte. Die Schlacht um S. bildet jedoch insofern eine wichtige Zäsur, als dass hier der deutsche Vormarsch nach Osten endgültig gestoppt wurde. Der anhaltend hohe Bekanntheitsgrad der Schlacht liegt aber weniger in ihrer militärischen Bedeutung als in dem hohen Symbolwert, der ihr von der jeweiligen Kriegspropaganda zugeschrieben wurde. Deren Wirkung reicht in modifizierter Form bis in die Gegenwart hinein.

Die NS-Propaganda versuchte den Untergang der 6. Armee in Anspielung an die antike und deutsche Mythologie als Heldenepos zu deuten und die Bevölkerung zur äußersten Kraftanstrengung zu motivieren. So etwa am 18.2.1943, als f Reichspropagandaminister Josef Goebbels zum „totalen Krieg“ aufrief. In der Bundesrepublik Deutschland wurde in der Nachkriegszeit der „Opfergang“ der Soldaten der 6. Armee betont, die von Hitler verraten worden sei. Dabei blieb jedoch unberücksichtigt, dass gerade die 6. Armee auf ihrem Vormarsch an schwersten Kriegsverbrechen (u. a. im September 1941 an der Erschießung von über 33.000 Kiewer Juden in Babyn Jar) beteiligt war. In der DDR wurde die kathartische Bedeutung der Schlacht um S. in den Vordergrund gestellt, die sich in der Gründung des „Nationalkomitees freies Deutschenland“ (Juli 1943) und des „Bundes deutscher Offiziere“ (September 1943) manifestiert hatte. Beide Organisationen waren von zahlreichen bei S. in Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten getragen worden, von denen einige in der DDR führende Positionen einnahmen.

Die sowjetische Propaganda deutete den Sieg als Beleg für die geniale Kriegskunst Stalins und sah den Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht gebrochen. Der Erfolg von S. markierte nun den Ausgangspunkt des sowjetischen Marsches nach Berlin und deckte die Frage nach den Gründen für das weite Vordringen der Wehrmacht bis an die Wolga weitgehend zu. Im Zuge der 1955 von Nikita Chruschtschow eingeleiteten Entstalinisierung erfuhr das Symbol „S.“ insofern einen Bruch, als dass das Namenssignal „S.“ nach der Umbenennung der Stadt in Wolgograd 1961 aus offiziellen Verlautbarungen verschwand und die Schlacht um S. bis Chruschtschows Sturz 1964 als „Schlacht an der Wolga“ umschrieben wurde. Der Verlust des Namenssymbols sollte durch den 1958 begonnenen und 1968 fertiggestellten Bau einer großdimensionierten Denkmalanlage auf dem Wolgograder Mamaj-Hügel (russ. Mamaev Kurgan) kompensiert werden, deren zentrale Skulptur „Mutter Heimat ruft“ (russ. Matʹ Rodina zovet) mit 85 m die Freiheitsstatue von New York überragen sollte.

In den 1950er und 60er Jahren war „S.“ ein häufig verwandte Chiffre, um vor den Gefahren eines konventionellen Krieges zu warnen, doch trat sie nach 1970 in den Hintergrund. Nach 1990 fand sie wieder zunehmend Verwendung, so im Tschetschenienkrieg 1999 und im Irakkrieg (2003).

Aufgrund ihres an ein antikes Drama erinnernden Verlaufs ist die Schlacht um S. häufig künstlerisch bearbeitet worden. In Wolgograd entstand in den Jahren 1958 bis 1982 das vom Studio Mitrofan Grekov entworfene und mit einer Fläche von 2000 m² weltweit größte Panoramagemälde „Schlacht um S.“. Literarisch befassten sich mit dem Thema u. a. Konstantin Simonov („Tage und Nächte“, russ. Dni i noči, 1944), Theodor Plievier (›Stalingrad‹, 1944), Vasilij Grossman („Die Schlacht von Stalingrad“, russ. Stalingradskaja bitva, 1946; „Leben und Schicksal“, russ. Žiznʹ i sudʹba, 1960), Viktor Nekrasov („In den Schützengräben von Stalingrad“, russ. V okopach Stalingrada, 1946), Franz Fühmann (›Die Fahrt nach Stalingrad‹, 1953), Alexander Kluge (›Der Untergang der Sechsten Armee‹, 1969), Jurij Bondarev („Heißer Schnee“, russ. Gorjačij sneg, 1970). Die populären Romane von Heinz G. Konsalik (›Der Arzt von Stalingrad‹, 1956; ›Das Herz der 6. Armee‹, 1964) erzielten eine weltweite Auflage von über 75 Mio. Exemplaren. „S.“ stand auch im Mittelpunkt zahlreicher Kinofilme, so u. a. in „Die Stalingrader Schlacht“ (russ. Stalingradskaja Bitva, 1949, Regie: Vladimir Petrov), ›Man wird nicht als Soldat geboren‹ (russ. Vozmezdie, 1967, Regie: Aleksandr Stolper), ›Stalingrad‹ (1989, Regie: Jurij Ozerov), ›Stalingrad‹ (1993, Regie: Joseph Vilsmaier), ›Duell – Enemy at the Gates‹ (2001, Regie: Jean-Jacques Arnaud). Musikalisch wurde das Thema u. a. von Dimitrij Schostakowitsch (8. Symphonie, 1943) und Aram Chatschaturjan (Stalingrad Suite, 1949) bearbeitet.

Kehrig M. 1974: Stalingrad. Analysen und Dokumente einer Schlacht. Stuttgart (= Beiträge zur Militärgeschichte 15). Samsonov A. 1989: Stalingradskaja Bitva. Moskva. Žulin V. A. (Hg.) 2002: Stalingradskaja Bitva. Chronika, Fakty, Ljudi. 2 Bde. Moskva. Förster J. (Hg.) 1992: Stalingrad. Ereignis, Wirkung, Symbol. München. Jahn P. (Hg.) 2003: Stalingrad erinnern. Stalingrad im deutschen und russischen Gedächtnis. Berlin.

(Wolfram von Scheliha)


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