Tirana

Tirana (alban. T./Tiranë)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

T. ist seit 1920 die Hauptstadt und zugleich größte Stadt Albaniens. Zuvor war sie eine Stadt durchschnittlicher Bedeutung an der osmanischen Peripherie gewesen. Bei der letzten Volkszählung (März 2001) hatte T. 343.048 Einwohner, doch die Anzahl der in der Stadt registrierten Bevölkerung ergab für das Jahresende 478.424 Personen. Ende 2006 waren es bereits 600.339. „Großtirana.“ (Tirana e Madhe), die direkte Stadtumgebung, die dem Kreis T. entspricht, hatte 2004 offiziell 677.871 Einwohner (das heißt über ein Fünftel der 3,1 Mio. Bürger des Landes). Somit gehört T. zu den Städten mit höchstem Bevölkerungswachstum in Europa. Die Fläche der Stadt beträgt 31 km².mu

T. befindet sich in Zentralalbanien auf einer Höhe von etwa 110 m ü. d. M., am Fuß des Berges Dajti (1612 m) und ist etwas weniger als 40 km vom Hafen von Durrës und vom Adriatischen Meer entfernt. Die Stadt durchfließt der Fluss Lana, ein Zufluss vom Lumi i Tiranës. In T. herrscht Mittelmeerklima mit einer durchschnittlichen Januartemperatur von 6,7 ℃ (im Juli steigt sie auf 24,4 ℃) und reichem Niederschlag im Herbst und Winter (1297 mm pro Jahr). Mit Durrës bildet T. heute den demographischen, wirtschaftlichen, administrativen und politischen Mittelpunkt des Landes.

An Stelle der alten Industrieruinen entstanden entlang der Straße nach Durrës und des Hafens neue Industrieanlagen. Die stärksten Industriezweige sind die Textil-, Metall-, Zement-, Papier-, Leder- und Nahrungsmittelindustrie. Seit 1957 hat T. einen internationalen Flughafen (jetzt Aeroporti Nënë Tereza [Mutter-Teresa-Flughafen]) in Rinas, ca. 25 km vom Zentrum T. entfernt) mit 784.640 Fluggästen (2005). In T. gibt es 5 staatliche und 4 private Universitäten und Hochschulen mit insgesamt 32.018 Studierenden (13.284 an der Universiteti i Tiranës).

Anfang

2 Kulturgeschichte

T. ist eine ziemlich junge Stadt, die erst zu Beginn des 17. Jh., unter osmanischer Zeit, gegründet wurde. Man nimmt als Gründungsdatum das Jahr 1614 an, als – veranlasst durch den lokalen Herrscher Sulejman Pasha (Bargjini) – eine Moschee erbaut wurde. Diese war Kern eines Komplexes, der Gebäude wie einen Ofen, han, ein Bad und Geschäfte umfasste. Der Name T. kommt von einem zuvor an dieser Stelle liegenden Dorf und nicht vom persischen Teheran, wie es eine Legende am Ende der osmanischen Zeit überliefert. Die Gründung der Stadt T., die in der Küstenebene an der Kreuzung verschiedener Handelsstraßen lag, stand im Zusammenhang mit der Entwicklung des Handwerkes, der Wirtschaft (Tierzucht, Landwirtschaft) und des Handels (auch mit Venedig und Triest). Mit den Jahren vergrößerte sich die Agglomeration und wurde eine kleine Verwaltungsstelle unter der Herrschaft der Nachkommen von Sulejman Pasha innerhalb des Sandschaks von Ohrid.

Von der Mitte des 18. Jh. an, in einer Zeit, als die lokalen Mächte eine größere Autonomie im Osmanischen Reich beanspruchten, war T. Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen der Familie Bargjinolli, die bis dahin die Stadt und ihre Region politisch und wirtschaftlich kontrollierte, und anderen Bej-Familien der albanischen Peripherie. Diese Auseinandersetzungen dauerten mehrere Jahrzehnte an, bis die osmanischen Behörden in den Jahren 1820–30 wieder die Kontrolle übernahmen. 1831, als die osmanische Armee gegen Mustafa Pasha Bushatli marschierte, wurde T. an den Bej Abdurrahman Toptani gegeben, wodurch die Familie Toptani von Kruja seine Machtansprüche legitimiert sah.

Trotz dieser Kämpfe entstanden im Laufe der Jahrzehnte mehrere neue Stadtviertel um religiöse Einrichtungen herum: Moscheen – darunter die Haxhi Ethem Beu-Moschee (die sich heute im Stadtzentrum befindet und die zu Beginn des 19. Jh., neben einer Medrese und eines Uhrturms gebaut wurde) – und Derwisch-Konvente (tekke), die meistens der islamischen mystischen Bruderschaft ›Kadiriyye‹ oder ›Halvetiyye‹ gehörten. T., das Ende des 17. /Anfang des 18. Jh. 3–4000 und zu Beginn des 19. Jh. etwa 8500 Einwohner zählte, war eine hauptsächlich muslimische Stadt. Nur eine katholische Familie war zu Beginn 17. Jh. registriert. 1856 ließ Österreich, das sich als Schutzmacht der albanischen Katholiken verstand, in T. eine Kirche bauen. Weitaus zahlreicher waren die aus der umliegenden Ebene stammenden Aromunen, die orthodoxe Christen waren. Infolge des Kampfes gegen Kurt Ahmed Pascha von Berat hatten sie als Lohn für Hilfsdienste die Genehmigung erhalten, sich in der Stadt niederzulassen. Sie bekamen ein Gelände auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Lana, wo die Hl. Prokopius-Kirche gebaut wurde, die 1873/74 durch eine neue dem Zentrum nähere liegende Kirche (Kisha e vangjelismos) ersetzt wurde. Schließlich umfasste die Bevölkerung von T. ebenfalls Roma wahrscheinlich muslimischen Glaubens.

Anfang

Neben dem Wohnsitz des Statthalters (Bey), der während einiger Jahrzehnte von einer Festung geschützt wurde, bildete der Basa das Zentrum der Stadt. Im Laufe des 18. Jh. etablierte sich in T. eine jährliche Viehmesse (Shën Lleshi panair), die von der Kubati Tekke der ›Kadiriyye‹ Bruderschaft verwaltet wurde. Zwei Zünfte (esnaf) spielten eine wichtige Rolle in der Stadt: jene der Gerber (tabak) und jene der Schneider (terzi), die Brücken und Moscheen bauten.

Mit den Tanzimat-Reformen im Osmanischen Reich erfuhr T. Mitte des 19. Jh. wesentliche Änderungen. Zu nennen sind hier neben der Einrichtung einer Telegraphenstation v. a. die Gründung von Schulen und die Ernennung von nicht-lokalen Verwaltungsbeamten (kaymakam). T. wurde Zentrum eines ›kaza‹ innerhalb des Sandschaks von Durrës im Wilajet Shkodër. Die Familie Toptani, die den größten Besitz in der Umgebung besaß, stritt sich jedoch mit einigen Aga-Familien weiterhin um die Macht in T. Das durchschnittliche Bildungsniveau der etwa 15.000 Einwohner (1901, davon 600 orthodoxe Christen, 600 Roma und 23 Katholiken), die die Stadt gegen Ende des 19. Jh. zählte, blieb sehr niedrig.

Am Tag der Erklärung der albanischen Unabhängigkeit in Vlora (28.11.1912) drangen serbische Truppen in T. ein. Ab Oktober 1913 wurde die Stadt unter der Kontrolle des Senats von Zentralalbanien gesetzt, der in Durrës von Esat Pasha Toptani gebildet wurde. Kurz nach die Ankunft des Prinzen von Wied (Mai 1914), den die Großmächten zum Fürsten von Albanien ernannten, wurde T. das Zentrum eines Aufstandes gegen diesen. Dieser muslimische Aufstand hatte die Wiederherstellung der osmanischen Souveränität zum Ziel und wurde vom Mufti Musa Qazim, dann von Haxhi Qamili, einem aus einem Dorf der Region stammenden ehemaligen Soldaten der osmanischen Armee, angeführt. Im Juni 1915 besetzten serbische Truppen erneut die Stadt und die Region. Sie wurden im Januar 1916 von österreich-ungarischen Truppen ersetzt. Während der zweieinhalb Jahre dauernden Besetzung wurde T. eine Präfektur (mit einer Bevölkerung von inzwischen nur noch etwa 10.000 Einwohnern). Mit dem Rückzug der Truppen ging die Stadt in die Kontrolle der albanischen Regierung von Durrës unter dem Schutz Italiens über.

Die albanische Nationalversammlung von Lushnja (Februar 1920), die die Unabhängigkeit Albaniens bestätigte, brachte eine Wende in die Geschichte von T.: die Delegierten wählten die Stadt zur provisorischen Hauptstadt. Im Januar 1925 wurde dies von der konstituierenden Versammlung bestätigt. T. wurde Sitz der Regierung und des Herrschaftsrates (bzw. ab 1925 des Präsidenten; ab 1928 des Königs). In der Zwischenkriegzeit stieg die Bevölkerung von 10.845 (1923) auf 25.079 (1938) Einwohner. Dieser Anstieg war insbesondere auf die Aufnahme von aus Debar (eine damals von Jugoslawien einverleibte heute makedonische Stadt) kommenden Flüchtlingen sowie auf die Ankunft von Beamten (besonders aus dem Süden des Landes) zurückzuführen. Außerdem zogen Leute aus den ländlichen Regionen in die neue Hauptstadt.

Diese neue Situation bedingte städtische Veränderungen: die Friedhöfe wurden z. B. an die Peripherie verlegt. Stadterweiterungspläne führten zum Beginn der 1930er Jahre zur Errichtung von zwei Achsen, die auf das neue politische Zentrum (den Skanderbeg-Platz) ausgerichtet waren. Dort entstand auch das Regierungszentrum. Unter den modernen Gebäuden befanden sich die Nationalbank, das Rathaus, ein Krankenhaus, ein Gefängnis, Geschäfte, Kasernen und administrative Gebäude. Ein neuer Markt (Pazar i ri) wurde im Osten des alten Basars eingerichtet, und Wohnungshäuser wurden insbesondere für die Beamten im „Neues Tirana“ (›Tirana e Re‹) genannten Viertel gebaut. T. wurde auch das Zentrum der religiösen Gemeinschaften (ab 1920 der sunnitisch-muslimischen Gemeinschaft, und ab 1930 des Bektaschi-Ordens und der christlich-orthodoxen Gemeinde). Eine Nationalbibliothek, ein Kinotheater, ein Knaben- und Mädchengymnasium, eine amerikanische technische Schule wurden eröffnet, und mehrere Zeitungen begannen zu erscheinen. Die Handelsfunktion der Stadt wurde zunehmend nachrangig.

Obwohl die italienische Besatzung (April 1939–September 1943) von kurzer Dauer war, beschleunigte diese die städtebauliche Entwicklung viel. Die Nord-Südachse wurde als Monumental-Achse ab dem Skanderbeg-Platz (Sheshi Skenderbej) verlängert.
Skanderbeg Platz
Das ›Hotel Dajti‹, verschiedene Verwaltungsgebäude, ein Sportkomplex sowie das Gebäude der albanischen faschistischen Partei (heute das Hauptgebäude der Universität) verstärkten das Bild von T. als politisches Zentrum des Landes. Während dieser Periode und während der kurzen deutschen Besatzungszeit (September 1943–November 1944) stieg die Bevölkerungszahl der Stadt aufgrund ihres wirtschaftlichen Reizes und danach auch wegen der aufkommenden Widerstandskämpfe auf dem Land an.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Errichtung des kommunistischen Regimes unter Enver Hoxha wurde T. „Herz“ des extrem zentralistischen Staates. T. war nicht nur die politische Hauptstadt (mit den höchsten Instanzen der Partei, der Armee und der Regierung), sondern auch das größte, wirtschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche, Erziehungs-, Gesundheits- und Bevölkerungszentrum, sowie der größte Kommunikationsknoten Albaniens. Während die Stadt vorher nur wenig industrialisiert war, wurde T. jetzt Zentrum verschiedener Industrien (Maschinen, Textil, Holz, Ernährung, Braunkohleverarbeitung usw.). 1957 entstand die erste albanische Universität (Universiteti i Tiranës). Mehrere Hochschulen wurden eröffnet (der Partei, der Offiziere, der Landwirtschaft, der Künste, sowie die Militärakademie usw.). 1947 wurde ein Institut der Wissenschaften, dann 1972 die Akademie der Wissenschaften (Akademia e Shkencave) gegründet. Unter den kulturellen Institutionen sind weiters zu erwähnen: das Volkstheater (Teatri popullor), das Opern- und Balletttheater, ein weiteres Kino, das Ensemble der Volksarmee, eine neue Nationalbibliothek und die Museen. Die Zahl der Einwohner stieg von 59.900 Einwohnern (1945) auf 136.600 (1960) und auf 244.200 (1990) an. Die Zusammensetzung der Bevölkerung veränderte sich hinsichtlich ihres geographischen (viele der neuen Stadtbewohner kamen aus den südlichen Regionen, wo die Partisanenbewegung während des Zweiten Weltkrieges stark verbreitet gewesen war) und konfessionellen Ursprungs. T. war nicht mehr ein „muslimisches Bollwerk“. Dies galt um so mehr, als die Religion dort wie anderswo im Land 1967 verboten wurde und die Eliten der Hauptstadt sich mehr als der Rest der Bevölkerung säkularisierten. Darüber hinaus entstand nach und nach eine Kluft zwischen dem städtischen Leben der Führungskräfte sowie Intellektuellen und dem Rest des Landes.

Das kommunistische Regime veränderte das Aussehen der Stadt radikal. Auf dem Skanderbeg-Platz im Zentrum, wo 1968 ein Monument des Nationalhelden errichtet wurde, wurden der Kulturpalast, das Nationalmuseum und das ›Hotel Tirana‹ gebaut. Die Nord-Südachse wurde in Richtung Norden verlängert. Im Süden wurde die Monumental-Achse mit dem Kongresspalast (Pallati Kongreseve) und dem Museum von Enver Hoxha (heute internationales Kulturzentrum: ›Piramida‹) vervollständigt. Im Südwesten dieser Achse war das als „Block“ (›blloku‹)
Museum
benannte Wohnviertel für die höchsten Führungskräfte reserviert. Der Zutritt war für den Rest der Bevölkerung verboten. Drei- bis fünfgeschossige Zeilenbauten wurden entlang der Hauptstraßen und in Randzonen gebaut. Die Behörden zerstörten den alten Basar, der das Herz der alten Stadt gewesen war. Mit dem Religionsverbot von 1967 wurde auch die Mehrzahl der Moscheen, darunter die von Sulejman Pasha, zerstört. Die anderen religiösen Gebäude wurden als Kaufhäuser, Museen etc. genutzt. Mit dem Fall des kommunistischen Regimes Anfang der 1990er Jahre hat T. gänzlich sein Gesicht gewechselt. Die seither freigesetzte städtische Dynamik grenzte gelegentlich an Anarchie. Die Bevölkerung stieg trotz der Auswanderung eines großen Teiles der Bevölkerung beträchtlich durch die Ankunft von Bauern und Gebirgsbewohnern (die insbesondere von den sehr armen Bergen des Nordostens des Landes kamen); neue bis zu zehn Stockwerke hohe Wohnhäuser entstanden dort, wo sich alte Häuser vom Ende der osmanischen Zeit oder der Zwischenkriegzeit befanden. Die Stadt erweiterte sich um Vororte ohne städtebaulichen Konzept und Infrastruktur. Der „Block“ wurde geöffnet und
Fassade
ist das Zentrum des Nachtlebens der Hauptstadt geworden; die Fassaden der sozialistischen Gebäude sind auf Initiative des Bürgermeisters bunt angestrichen worden; zum individuellen Fahrradverkehr kam der Kraftfahrzeugverkehr hinzu. Die Stadt erlebte eine sichtbare Internationalisierung. Alte und neue Kultorte (darunter eine katholische Kathedrale) haben ihre Tore geöffnet; neue religiöse Gruppen sind in die Stadt gekommen. Neue private Erziehungsinstitutionen konkurrieren mit den öffentlichen Schulen und mit der öffentlichen Universität. Geschäfte oder Cafés waren auf allen Bürgersteigen und in allen Parks installiert worden, bevor sie nach der Machtübernahme der sozialistischen Partei im Jahre 1997 zerstört wurden und durch neue Geschäfte ersetzt wurden.

Man kann davon ausgehen, dass sich die städtische Infrastruktur in den nächsten Jahren langsam stabilisieren wird und dass die Stadt mit dem Hafen von Durrës, der sich im Großraum T.s befindet und mit dem T. seit 2000 durch eine Schnellstraße verbunden ist, der dynamischste Punkt Albaniens bleiben wird.

Aliaj B., Lulo. K, Myftiu G. 2003: Tirana the challenge of urban development. Tirana. Frashëri K. 2004: Historia e Tiranës. Bd. 1. Tirana. Myderrizi O. 1937: Tirana 1604–1937. Tirana. Miho K. 1987: Trajta të profilit urbanistik të qytetit të Tiranës. Tirana. Mëzezi P. 1985: Tirana. Buda A., Lloshi X. (Hg.): Fjalor Enciklopedik Shqiptar, 1094–1097. Tirana.

(Nathalie Clayer)

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