Istrien

Istrien (ital. Istria; kroat./slowen. Istra).

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

I. ist eine Halbinsel in der nordöstlichen Adria, im W. begrenzt durch den Golf von Triest, im O. durch die Kvarnerbucht (kroat. Kvarner, ital. Quarnero). Nach Norden geht das gebirgige Landesinnere I.s unmerklich in den Triestiner Karst über. Geologisch ist I. in drei Zonen gegliedert. In Nord-Süd-Richtung folgen aufeinander:
▪ das unmittelbar an den Karst anschließende „weiße I.“ (ital. Istria bianca, kroat. Bijela Istra, slowen. Bela Istra). Dazu gehört neben dem Gebiet von Čičarija (slowen., dt. hist. Tschitschenboden, ital. Ciceria, kroat. Ćićarija) und dem Gebiet um I.s höchsten Berg Učka (kroat., ital. Monte Maggiore, 1401 m) v. a. der östliche Küstenstreifen von Opatija (kroat., ital. Abbazia) im Norden bis Plomin (kroat., ital. Fianona) im Süden. Das Landschaftsbild ist hier vom weißen Kreidegestein und von der Karstvegetation geprägt.
▪ Das „graue“ (ital. Istria grigia, kroat., slowen. Siva Istra) oder „gelbe I.“ erstreckt sich vom Golf von Triest und von Piran (slowen., it. Pirano) aus nach Südosten. Das Flyschgebiet mit seinen Sand- und Mergelböden wurde bis in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg von italienisch- und slawischsprachigen Bauern intensiv kultiviert. V. a. im Küstenabschnitt zwischen Triest und Portorož (slowen., italien. Protorose) findet sich eine mittlerweile zum großen Teil dem Verfall preisgegebene Kulturterrassen-Landschaft, die einst den größten Hafen der Habsburgermonarchie und später das italienische Triest mit Agrarprodukten versorgte.
▪ Die „istrische Platte“, auch das „rote I.“ (ital. Istria rossa, kroat. Crvena Istra) genannt, bedeckt den südlichen Teil Zentrali.s und den Süden der Halbinsel bis zum Kap Premantura (kroat., ital. Promontore). Das niedrig gelegene Kalksteinplateau ist an zahlreichen Stellen mit fruchtbarer roter Erde aufgefüllt. Der nördliche Rand dieser Platte reicht von Buje (kroat., ital. Buie) bis Labin (kroat., ital. Albona).

Klimatisch gehört die Halbinsel zum mediterranen bzw. submediterranen Küstenraum (Juli: 24,0 °C, Januar: 5,0 °C; Niederschläge: 600–1050 mm/Jahr). Drei Winde beherrschen das Klima: Der böige Nordostwind Bora, der im Winter eiskalt vom Festland zum Meer weht und im Sommer für strahlende Sonnentage sorgt, der warme Südwind Jugo, der oft Regen bringt, und der von Westen bzw. Nordwesten kommende Mistral.

Charakteristisch für die Küstenstreifen I.s sind die tief eingeschnittenen Fjorde. Auch die sog. Foibe, manchmal bis auf Meereshöhe reichende Abgründe im Karstgestein, sind typisch für die istrische Landschaft. Ausgedehnte (v. a. Eichen-) Wälder gibt es am Fluss Dragonja und in der Gegend von Motovun (kroat., ital. Montona). Das v. a. für seine landwirtschaftlichen Produkte (Wein, Olivenöl) bekannte I. weist eine Reihe von – heute wirtschaftlich unbedeutenden – Bodenschätzen auf, darunter Braunkohle, Bauxit und Marmor. Traditionelle Erwerbszweige der Bewohner in den kleinen Hafenstädten waren Fischfang und Küstenschifffahrt. Ursprünglich meist auf Landzungen oder Inseln errichtet, sind viele Orte inzwischen durch Aufschüttung mit dem Festland verbunden. Die urbanen Ansiedlungen im Landesinnern, wie Pazin (kroat., ital. Pisino), Motovun oder Buje liegen auf Anhöhen.

In der habsburgischen Zeit beschäftigte das Arsenal des Marinestützpunktes Pola mehrere tausend Arbeiter. Die Gegend um Abbazia (ital., kroat. Opatija) an der Kvarnerbucht war schon unter der Donaumonarchie ein Zentrum des Fremdenverkehrs. V. a. seit den 1970er Jahren hat sich der Tourismus zu einem der Haupterwerbszweige der gesamten Halbinsel entwickelt. Ähnlich wie in Dalmatien und auf den Inseln entstanden an den Buchten und auf den Landzungen I.s zahlreiche Ferienanlagen und Hotels.

Der Name I. unterlag im Laufe der Zeit einem Bedeutungswandel: Heute bezeichnet er den engeren, peninsularen Raum südlich einer gedachten Linie zwischen Triest und Rijeka. Früher rechnete man auch die beiden Städte mit ihrem Umland zu I. Die etwa 97 km lange und 75 km breite Halbinsel umfasst eine Fläche von 3476 km² und hat 310.000 Einwohner.

Politisch gehört I. heute zu drei Staaten: Kroatien, Slowenien und Italien. Anders als in der Zwischenkriegszeit, als das Königreich Italien ganz I. beherrschte, zählt jetzt nur noch ein kleiner Teil im Nordwesten um die Industriestadt Muggia (ital., slowen. Milje) zur italienischen Republik. Ein von hier bis zum Fluss Dragonja reichender Gebietsstreifen gehört unter der Bezeichnung „Slowenisches I.“ (slowen. Slovenska Istra) zum slowenischen „Küstenland“ (slowen. Primorska). Der größte Teil I.s mit den Städten Pula (kroat., ital. Pola), Rovinj (kroat., ital. Rovigno) und Pazin liegt auf dem Territorium der Republik Kroatien.

Während die Grenzziehung südlich von Muggia durch das Abkommen von Osimo (1975) heute kaum noch ernsthaft infrage gestellt wird, ist die slowenisch-kroatische Grenze im Bereich der Bucht von Piran und am Unterlauf des Dragonja-Flusses umstritten. Der unter Tito festgelegte Grenzverlauf ließ Slowenien zwar ein rund 45 km langes Stück Adriaküste mit Koper (slowen., ital. Capodistria) als wichtigster Hafenstadt und drei kleineren Städten: Izola (slowen., ital. Isola d’Istria), Portorož, Piran. Seit 1991 aber treffen die italienisch-slowenischen und die slowenisch-kroatischen Demarkationslinien vor der Küste aufeinander, so dass die slowenischen Häfen keinen freien Zugang zu internationalen Gewässern haben.

2 Kulturgeschichte

Hauptstützpunkt Roms an der nordöstlichen Adria und zugleich Ausgangspunkt zur Eroberung I.s war das 181 v. Chr. gegründete Aquileia (in Friaul, Italien). Nach mehreren Vorstößen gegen die Piraterie treibenden sog. Histrier besetzten die Römer seit 178/177 v. Chr. die bis dahin von Illyrern und Kelten bewohnte Halbinsel. Unter Kaiser Augustus bildete I. einen Teil der Region ›Venetia et Histria‹. Die Halbinsel wurde früh christianisiert.

Anfänglich Westrom zugehörig, wurde I. nach dessen Zerfall byzantinisch (und dem Exarchat Ravenna unterstellt). Um 600 setzte die slawische Besiedlung der Halbinsel ein. Es folgten im Mittelalter häufige Besitzerwechsel, ehe I. dem Patriarchen von Aquileia übertragen wurde. In den Küstenstädten machte sich früh der venezianische Einfluss bemerkbar. Im 12. Jh. unterwarfen sich Capodistria (ital., slowen. Koper), Pola und Parenzo (ital., heute kroat. Poreč) der Republik Venedig. Lange blieb die Halbinsel ein Zankapfel zwischen der Seerepublik, dem Patriarchat und den Grafen von Görz. Am Ende übernahm Venedig das Erbe der Patriarchen entlang der Küste, während die Habsburger im Landesinnern an die Stelle der Görzer Grafen traten. Auf der wiederholt durch Seuchen entvölkerten Halbinsel wurden immer wieder slawische Flüchtlinge aus dem Inneren der Balkanhalbinsel angesiedelt. Daneben ließen sich auch romanischsprachige Bauern und Hirten aus Südosteuropa in I. nieder („Tschitschen“, Istrorumänen).

In der napoleonischen Zeit waren beide Teile I.s zusammen mit Triest Teil der von Ljubljana aus verwalteten ›Illyrischen Provinzen‹. Vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg gehörte ganz I. zur Donaumonarchie. Die anfängliche Multiethnizität I.s, das istrische „Völkermosaik“ (Carl von Czoernig), verschwand mit dem Aufkommen der miteinander konkurrierenden Nationalbewegungen der Italiener, Slowenen und Kroaten in der zweiten Hälfte des 19. Jh und in Folge der faschistischen Entnationalisierungspolitik. Von den kleineren ethnischen Gruppen wurden nur die Istrorumänen durch das faschistische Regime Italiens gefördert – mit eindeutig antikroatischer Stoßrichtung. Der Nationalitätenkonflikt äußerte sich zunächst im Wettstreit um die Gemeindeverwaltungen und Schulen, in der Konkurrenz verschiedener national orientierter Vereine und Verbände und in der Auseinandersetzung zwischen einem „lateinischen“ und einem „slawischen“ Katholizismus. Einer der wirkungsvollsten Propagandisten der slowenisch-kroatischen Sache war Bischof Juraj Dobrila. Den Nationalbewegungen gelang es im Verlauf des 19. Jh. ihre Positionen in den traditionellen Siedlungsgebieten der jeweiligen Bevölkerungskomponente zu festigen: den Italienern v. a. in den Städten entlang der istrischen Westküste, den Slowenen und Kroaten unter den Bauern des Landesinnern. Die politische Führung übernahmen die aus dem Irredentismus hervorgegangene italienisch-liberalnationale Strömung und die slowenisch-liberale Edinost-Gruppe, die beide ihr Zentrum in Triest hatten. Daneben bestanden kleinere Zentren der Nationalbewegungen; so etwa auf der Insel Krk mit dem gleichnamigen Bistum und der von Bischof Anton Mahnič eingerichteten altkirchenslawischen Akademie.

Die am Ende des Ersten Weltkriegs von italienischen Truppen besetzte Halbinsel wurde 1920 im Vertrag von Rapallo Italien zugesprochen. Diese von der slowenischen und kroatischen Seite nie ganz akzeptierte territoriale Regelung behielt bis 1941 bzw. 1943 Gültigkeit. Ähnlich wie die anderen von Slawen besiedelten Teile der Grenzregion wurde auch I. zunächst von den „Strafexpeditionen“ der faschistischen „Mannschaften“ (ital. squadre), später dann von den Entnationalisierungs- und Assimilationskampagnen des Mussolini-Regimes heimgesucht. Binnen weniger Jahre verschwanden kroatische und slowenische Schulen, Parteien, Vereine, Genossenschaften, Zeitungen, Ortsnamen bzw. wurden durch italienische Einrichtungen und Namen ersetzt. Etwa 100.000 Slowenen und Kroaten verließen zwischen 1920 und 1941 die von Italien erworbenen adriatischen Gebiete, neben I., den Karst (ital. Carso, kroat./ serb./ slowen. Kras) und das Tal des Isonzo (ital., slowen. Soča). Nach der Kapitulation Italiens im September 1943 wendete sich das Blatt. Die Leitungen der slowenischen und kroatischen Partisanen (Slovenski narodnoosvobodilni odbor und Zemaljsko antifašističko vijeće narodnog oslobođenja Hrvatske) stellten neben den jüngsten Annexionen Italiens auch die Rapallo-Grenze in Frage und planten die Ausweisung der sog. – erst nach 1918 nach I. gelangten – „Reichsitaliener“ (ital. regnicoli). Tatsächlich setzte 1945 ein viel umfassenderer Exodus italienischsprachiger Bewohner ein, der erst nach 1954 wieder abebbte. Im Frühjahr 1946 bereiste eine internationale Kommission die Halbinsel, um die ethnisch-nationale Zugehörigkeit der Bevölkerung zu überprüfen. Als das noch von Briten und Amerikanern gehaltene Pola im Friedensvertrag von Paris zusammen mit dem ganzen südlichen Teil I.s Jugoslawien zugesprochen wurde, verließen fast alle italienischen Stadtbewohner – also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – die Hafenstadt auf dem Seewege.

Im Nordwesten I.s wurde das „Freie Territorium Triest“ (engl. Free Territory of Trieste, ital. Territorio libero di Trieste, slowen. Svobodno tržaško ozemlje) mit der anglo-amerikanisch verwalteten Zone A rund um die Stadt und der jugoslawisch verwalteten Zone B südlich davon (= slowenischer Distrikt Koper und kroatischer Distrikt Buje) errichtet. Die „kriegskommunistischen“ Maßnahmen der jugoslawischen Besatzungsmacht, das unkontrollierte Schalten und Walten der Geheimpolizei OZNA, z. T. auch die Nachwirkungen des „Abrechnungsfurors“ im September 1943 und Mai 1945 (bekannt unter dem italienischen Schlagwort ›Foibe‹), bewogen auch in der Zone B italienische Istrier, ihre Städte und Dörfer zu verlassen. Insgesamt gingen seit 1945 etwa 250.000 italienischsprachige Bewohner aus I., Rijeka und Dalmatien in den Westen. Die in I. verbliebenen Italiener mussten sich mit der Rolle einer in ihrem Handlungsspielraum sehr stark eingeschränkten Minderheit zufrieden geben. Mit dem Exodus und der Neubesiedlung I.s ging eine weitgehende Slawisierung des Schulwesens und des öffentlichen Lebens einher.

Die Zugehörigkeit I.s zur südlichen ›Slavia‹ bzw. zu Italien wurde wiederholt durch eine einseitig interpretierte Kulturgeschichte verabsolutiert. Dabei bedienten sich beide Lager oft ähnlicher Deutungs- und Interpretationsmuster: Aus der römischen oder byzantinischen Zeit stammende Monumentalbauten, darunter die Arena von Pula und die Kathedrale von Poreč, wurden vom Irredentismus als Beweis der ungebrochenen römisch-lateinisch-venezianischen Tradition I.s ins Feld geführt. Die slawischen Nationalbewegungen argumentierten demgegenüber mit der Verbreitung des Altkirchenslawischen und der glagolitischen Schrift auf der Halbinsel. Heute erinnern ein Denkmal auf dem „Kongressplatz“ (Kongresni trg) in Ljubljana und die Glagoljica-Ausstellung in Rijeka an die Annexion I.s durch Jugoslawien bzw. durch die Teilrepubliken Slowenien und Kroatien. Eine deutliche nationale Polarisierung trat auch im Bereich des Helden- und Totenkultes auf: Im Ersten Weltkrieg wurde der von den Österreichern hingerichtete Matrose Nazario Sauro zusammen mit dem Triestiner Guglielmo Oberdan und dem Trientiner Cesare Battisti zum Nationalhelden der italienischsprachigen Bewohner Istriens. Ähnliches widerfuhr im kroatischen Siedlungsraum dem in den 1930er Jahren vom faschistischen Sondergericht zum Tode verurteilten Widerstandskämpfer Vladimir Gortan.

Der istrischen Kultur zugehörig fühlten sich auch die Protagonisten der Migranten- und Flüchtlingskulturen, angefangen bei den slowenischen ›Primorci‹ und den kroatischen ›Istrani‹, die unter der Entnationalisierungspolitik Mussolinis die Halbinsel verließen, bis hin zu den italienischen ›Esuli‹, die I. nach 1945 den Rücken kehrten.

Die Minderheitenproblematik in I. gilt heute als weitgehend gelöst: Je ein Abgeordneter der italienischen Minderheit in Slowenien und Kroatien gehört per Wahlgesetz automatisch dem Parlament in Zagreb bzw. Ljubljana an. Die Minderheit verfügt über eigene Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehsendungen. Im kroatischen Teil der Halbinsel ist seit 1991 eine regionalistische Bewegung und Partei aktiv, die unter dem Namen „Istrische Demokratische Versammlung“ (kroat. Istarski demokratski sabor, ital. Dieta democratica istriana) für eine mehrsprachige, pluriethnische Region eintritt. Die istrische Literatur ist früher zu Unrecht als Unterkategorie der Triestiner Literatur gefasst worden. Ihr vielmehr eigenständiges Thema ist die ethnisch-nationale Gemengelage der Halbinsel, der Partisanenkrieg, die Grenzverschiebungen und der Exodus. Unter sprachlichem Gesichtspunkt ist sie sowohl der italienischen als auch der kroatischen und slowenischen Nationalliteratur zuzurechnen.

I. gehört kulturhistorisch gleichermaßen dem Alpen-, Donau- und Mittelmeerraum an und ist bis heute Brücke zwischen der Apenninen- und der Balkanhalbinsel, deren Einflüsse sich nicht zuletzt auch in der „istrischen Küche“ niedergeschlagen haben.

Cattaruzza M. (Hg.) 2003: Nazionalismi di frontiera. Identità contrapposte sull’Adriatico nord-orientale 1850–1950. Soveria Mannelli. Colummi C., Ferrari L., Nassisi G., Trani G. (Hg.) 1980: Storia di un esodo. Istria 1945–1956. Istituto regionale per la storia del Movimento di Liberazione nel Friuli-Venezia Giulia, Trieste. Dukovski D. 1998: Fašizam u Istri 1918–1943. Pula. Hočevar J. (Hg.) 1998: Slovenska Istra v boju za svobodo. Koper. Wörsdörfer R. 2004: Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum. Paderborn.

(Rolf Wörsdörfer)


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