Chişinău

Chişinău (mold./rumän., krimtatar. hist. Kyşlakanäv/Kylanäv, russ. Kišinëv, ukrain. hist. Kyšyniv)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die am Fluss Bâc (mold., russ. Byk) gelegene Hauptstadt der Republik Moldau, Ch., hat gegenwärtig 593.800 Einwohner (2005).

Die Stadt liegt in einer Wein- und Obstbaulandschaft am Rande der „Zentralen Moldauischen Hochebene“ (Podişului Central Moldovenesc). Das Klima ist kontinental. Im Winter wechseln frostige und warme, vom Süd- und Südwestwind bestimmte Tage einander ab. Die mittlere Temperatur beträgt im Januar –3,2 °C, im Juli 20,9 °C. Im Sommer herrschen oft starke Ost- und der Südwind und heftige Regenfälle vor. Die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge liegt bei 547 mm.

In Ch. haben alle wichtigen politischen Gremien, Parteien, Behörden und Ministerien sowie Bildungs- und Medieneinrichtungen des Landes ihren Sitz. Hier befindet sich weiterhin die Mehrheit der nationalen und internationalen Bankinstitute und zahlreiche Betriebe der in der Region dominierenden Maschinenbau, Lebensmittel- und Holzindustrie. Die Stadt ist heute in 5 Bezirke (Centru, Buicani, Râşcani, Botanica und Ciocana) unterteilt und umfasst 120 km². Der Stadtkreis Ch. (Municipiul Ch., ca. 635 km², 717.900 Einwohner 2005) schließt darüber hinaus sechs weitere Städte und 16 Dorfsiedlungen ein.

Die Moldauer (rumänischsprachige Bevölkerung) bilden heute die absolute Mehrheit in den Vorstädten, die im Stadtkreis Ch. eingeschlossen sind. Gemäß der Volkszählung von 2004 stellen die Moldauer und die Rumänen im Verwaltungsbezirk Ch. einen Anteil von 72,8 % der Bevölkerung. Andere wichtige ethnische Gruppen sind die Russen (13,7 %), die Ukrainer (8,4 %), die Bulgaren (1,2 %) und die Gagausen (0,9 %).

Die meisten Arbeitsplätze gibt es im Dienstleistungssektor (v. a. im Handel) und in der Schwerindustrie (v. a. Maschinenbau und Stahlver- und bearbeitung). Der Anteil Ch. an dem Bruttosozialprodukt der Republik Moldau beträgt ca. 60 %, bei einer Bevölkerungsanteil von ca. 21 %.

Anfang

2 Kulturgeschichte

Auf dem heutigen Gebiet Ch.s datieren die ersten Siedlungen aus dem Spätpaläolithikum. Es gibt mehrere Erklärungen für den Ursprung des Namens Ch.: Die erste leitet den Stadtnamen vom altrumänischen Wort für „Quelle“ ›chişinău‹ ab; die zweite von den turksprachigen Bezeichnungen ›keşene, kaşana‹ für „Mausoleum”, „Grab”; „Kapelle”, „Einsiedelei” oder „Wohnung”. Der erste urkundliche Beleg für eine Siedlung Ch. stammt von einer Schenkung der moldauischen Fürsten Iliaş und Ştefan vom 17.7.1436. 1466 war Ch. im Besitz des moldauischen Adligen Vlaicu Parcalab. Aus diesem Grund hat Ch. im 20. Jh. sein 500-jähriges Jubiläum zwei Mal gefeiert (1936 und 1966). Unter osmanischer Herrschaft gehörte Ch. den Bojarenfamilien Drăguş (ab 1576) und Roşca (ab 1616), aber auch dem Jassier Kloster „Hl. Paraskeva” (ab 1641). Erst ab der ersten Hälfte des 17. Jh. entwickelte sich Ch. dank der günstigen geographischen Lage entlang des Handelsweges Jassy (heute rumän. Iaşi)–Bender (heute rumän. Tighina)–Akkerman (heute ukrain. Bilhorod-Dnistrovsʹkyj) zu einer Stadt, die u. a. in Dimitrie Cantemirs ›Descriptio Moldaviae‹ (1716) erwähnt wird.

In der zweiten Hälfte des 17. Jh. und in der ersten Hälfte des 18. Jh. wurde Ch. mehrmals durch die Krimtataren und die Osmanen verwüstet. So wurde Ch. 1739 und 1788 von den Osmanen völlig gebrannt. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. vergrößerte sich die Fläche Ch.s wesentlich, die Zahl der Handwerker und Händler nahm rasch zu. Um 1774 lebten in Ch. registrierte 162 Familien (ca. 800 Einwohner).

Für 1814 sind 2109 Häuser, sieben orthodoxe Kirchen, ein Kloster, mehrere Schulen, ein theologisches Seminar, ca. 50 Handwerksbetriebe und eine Druckerei belegt. Die Stadt zählt 7000 Einwohner. 1812 fiel Ch. an Russland, wurde Zentrum Bessarabiens und erhielt 1818 offiziell den Status einer Stadt. Russische und deutsche, aber auch jüdische Bevölkerung wanderte nach Ch. ein, sodass die Einwohnerzahl in wenigen Jahren auf 18.500 Einwohner anstieg. 1823 wurden mehrere Nachbardörfer in Ch. eingegliedert. 1834 genehmigten die russischen Behörden eine erste städtebauliche Erweiterung. Die Stadt breitete sich besonders im südlichen Teil aus. Das Stadtzentrum wurde allmählich in Richtung des heutigen Boulevards „bulevardul Ştefan cel Mare, der von Nordwesten nach Südosten quer durch Ch. verläuft, verschoben. 1830–36 wurde die erste orthodoxe Kathedrale (Catedrala Naşterea Domnului) errichtet, 1832 die erste öffentliche Bibliothek und 1833 ein regionales Gymnasium eröffnet. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich erneut.

In den 50er bis 70er Jahren des 19. Jh. erhielt Ch. auch architektonisch den Charakter einer modernen Stadt, als neue Straßen und wichtige, v. a. von Allesandro Bernardazzi entworfene, Gebäude errichtet wurden. Nach der Bevölkerungsgröße gehörte Ch. 1856 zu den fünf größten Städten im Russischen Zarenreich.

1860 wurde das erste Telegrafenamt und 1871 der Bahnhof samt der Zugverbindung zwischen Ch. und Tiraspolʹ (russ., mold. Tiraspol) eröffnet, was v. a. den Handel mit dem entfernten Odessa belebte. 1892 wurden der erste Aquädukt und 1889 die erste Straßenbahnlinie (seit 1913 elektrifiziert) gebaut. Anfang des 20. Jh. gab es in Ch. schließlich 142 Straßen, 8410 Häuser, 12 Märkte, 5 Parks, die noch heute das Stadtbild prägen und Ch. sein „grünes Aussehen“ geben.

Im 19. Jh. bis Anfang des 20. Jh. gewann Ch. als Hauptstadt Bessarabiens allmählich an politischer, wirtschaflicher und kultureller Bedeutung. 1869 wurden die Provinz- und Stadtversammlungen der Semstwos (russ. Zemstva) ins Leben gerufen, und der Provinzgerichtshof Bessarabiens gegründet, 1871 die erste städtische Duma gewählt. Während der russischen Verwaltung wurden in Ch. mehrere Banken und Krankenhäuser eröffnet und der Feuerwehrdienst eingeführt. Bedeutende russische Parteien und politische Gruppierungen ließen sich in Ch. nieder. In dieser Zeit erschienen auch zahlreiche Periodika (die meisten auf Russisch). 1903 und 1905 kam es zu heftigen Judenpogromen, die Ch. in den Mittelpunkt europäischer und amerikanischer Medienaufmerksamkeit rückten. Bereits zur Jahrhundertwende wurde Ch. auch zum Zentrum der nationalen moldauischen und panrumänischen Bewegung Bessarabiens. 1917-/18 gab es in Ch. ein regionales Parlament (Sfatul Ţării, „Der Landesrat”), das die Unabhängigkeit der „Moldauischen Demokratischen Republik“ (Republica Democrată Moldovenească) proklamierte (am 24.1.1918) und über die Vereinigung Bessarabiens mit Rumänien abstimmte (am 27.3.1918).

In der Zwischenkriegszeit blieb Ch. als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Bessarabiens innerhalb Rumäniens und war zugleich auch Verwaltungszentrum des Kreises Lăpuşna, wobei die Zahl der Einwohner abnahm: 1930 wurden 114.800 Einwohner gezählt (1914: 130.000), davon 42 % Moldauer, 35 % Juden, 17 % Russen u. a. In Ch. gab es nun auch Zweigstellen der politischen und kulturellen Organisationen aus dem Rumänischen Königreich. Mehrere Periodika (besonders auf Rumänisch und Russisch) erschienen, neue wirtschaftliche, kulturelle sowie soziale z. T. bis heute bestehende Einrichtungen eröffnet: das „Rumänische Soziale Institut Bessarabiens“ (Institutul Social Român din Basarabia), die Landwirtschaftliche Fakultät der Iaşier Universität, die Theologische Fakultät der Iaşier Universität, die „Moldauische Volksuniversität“ (Universitatea Populară Moldovenească), das Nationaltheater; das „Russische Theater V. Vronski”, das „Nationalmuseum der Naturwissenschaften“ (Muzeul Naţional de Istorie a Naturii) und das Konservatorium.

Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Bessarabien (am 28.6.1940) aufgrund des sog. Geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes wurde Ch. zur Hauptstadt der nun neu errichteten Moldauischen SSR. Infolge des Einmarsches der mit NS-Deutschland verbündeten rumänischen Truppen evakuierten die Sowjetbehörden Ende Juni bis Anfang Juli 1941 die Mehrheit der politischen und kulturellen Institutionen und viele Industriebetriebe aus Ch.

Zu dieser Zeit war schon der Großteil der deutschen Bevölkerung ins Deutsche Reich „heimgeholt“. Ein Teil der jüdischen Bevölkerung konnte noch im Juni/Juli 1941 in die Sowjetunion fliehen, andere wiederum wurden in die Lager Transnistriens deportiert. Die Überlebenden kehrten nach 1944 nach Ch. zurück, doch hat Ch. in diesen Jahren fast alle jüdischen Einwohner verloren.

Die Rote Armee besetzte Ch. am 24.8.1944 und die Stadt wurde erneut Hauptstadt der Moldauischen SSR. Durch ein Erdbeben 1940 und die Kriegsereignisse war Ch. größtenteils zerstört worden. In den ersten Nachkriegsjahren wurden die zerstörten Gebäude, die Infrastruktur und die Betriebe saniert. Eine wichtige Rolle in der Stadtplanung nach dem Krieg spielte der Architekt Aleksej V. Ščusev, der ein großzügig angelegtes, geometrisches Straßennetz entwarf. Die Einwohnerzahl stieg wieder rasch an und erreichte insbesondere durch Zuzug von ländlicher Bevölkerung um 1950 etwa den Stand von 1923.

Seit 1945 wuchs insbesondere die Anzahl der Moldauer, der Russen und der Ukrainer. In den ersten Nachkriegsjahren wurden mehrere Hochschulen, u. a. für Medizin und Landwirtschaft, zahlreiche Fabriken (u. a. für Traktoren und Pumpen) sowie Arbeiterviertel neu errichtet.

Weitere im nationalen Maßstab bedeutende Kultureinrichtungen entstanden ebenfalls in den 1950er und 60er Jahren: der Botanische Garten, das Kinostudio Moldova-Film, das Moldauische Fernsehen, das Theater ›Luceafărul‹ „Der Morgenstern“), der Nationalpalast, die Orgelhalle (Sala cu Orgă), das Theater für Oper und Ballett, der Zirkus, die Akademie der Wissenschaften der MSSR, das Polytechnische Institut. Die wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften der MSSR erschienen zudem mehrheitlich in Ch.: (›Moldova Socialistă‹ „Sozialistische Moldau“, ›Sovetskaja Moldavija‹ „Sowjetische Moldau“, ›Viaţa Satului‹ „Dorfleben“, ›Literatura şi Arta‹ „Literatur und Kunst“, ›Moldova‹, ›Nistru‹.

Zwischen 1988–91 wurde Ch. zum Zentrum der moldauischen Bürgerrechtsbewegung. In diesem Zeitraum fanden zahlreiche Demonstrationen statt, die für die Proklamation der rumänischen Sprache zur Staatssprache, die Wiedereinsetzung des lateinischen Alphabets und für das Austreten aus der UdSSR eintraten. Zu den wichtigsten Demonstrationen zählen die sog. Nationalversammlung vom 27.8.1989 (Marea Adunare Naţională) mit ca. 500.000 Teilnehmern und die vom 27.8.1991, auf der die Unabhängigkeit der Republik Moldau gleichzeitig mit der Proklamation des Parlaments erklärt wurde. Heute gibt es in Ch. 16 Hochschulinstitute und 20 Kollegs, die Akademie der Wissenschaften der Republik Moldau ist durch zahlreiche Forschungsinstitute in der Stadt präsent. In Ch. gibt es 11 Theater, 9 Museen, 5 Konzertsäle, 48 Bibliotheken und 8 Kinos.

Mit Blick auf die ökonomische Situation ist in den vergangenen Jahren der Abstand zwischen Ch. und dem Rest der Republik Moldau immer größer geworden. Die höheren Gehälter und mögliche Arbeitsplätze ließen nach der Wende viele Menschen aus ländlichen Gebieten nach Ch. ziehen. Dies führte u. a. zur Erhöhung der Mietpreise und zu einer Zunahme der Kriminalität und der Straßenkinder. Im Vergleich zu anderen europäischen Städten ist die Infrastruktur Ch.s schlecht entwickelt und überholt. Diese wurde vor Jahrzehnten nach veralteten Methoden geplant und gebaut. Sie beeinträchtigt das alltägliche Leben (Strom- und Wasserknappheit) und die Umwelt. Bedingt durch die steigende Zahl an PKW und LKW sowie aufgrund des schlechten Straßenzustands wird der innerstädtische Verkehr von Staus geplagt.

(Flavius Solomon)

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