Woten

Woten (Selbstbezeichnung [Sing.] vadʹdʹalain, finn. vatjalainen, russ. vodʹ).

Inhaltsverzeichnis

1 Definition

Die W. sind ein finnougrisches Volk. Ihre Sprache wird dem Ostseefinnischen zugezählt. Bis ins 18. Jh. lebten die W. in einem Gebiet, das sich vom Peipus-See im Westen bis hin zum Ladogasee im Osten und Novgorod im Süden erstreckte (hist. Ingermanland). Seit dem 19. Jh. sind sie in stetig abnehmender Zahl nur noch im äußersten Westen dieser Region ansässig. Der Ethnograph Peter von Köppen registrierte 1848 noch 5148 W. in 32 Dörfern (›Erklärender Text zu der ethnographischen Karte des St. Petersburger Gouvernements.‹ St. Petersburg 1867), die sowjetische Volkszählung 1926 erfasste 705 W., 1942 nur noch 500. Seit 1956 wird die wotische Nationalität in der Statistik nicht mehr berücksichtigt. Inzwischen handelt es sich bei den W. nur noch um einige wenige Personen, die alle das mittlere Lebensalter überschritten haben. Sie leben nordöstlich des Flusses Narva und an der Mündung des Flusses Luga in den Dörfern Jõgõperä (russ. Krakolʹe), Liivtšülä (russ. Peski), Luutsa (russ. Lužicy) und Rajotšülä (russ. Mežniki) in Russland.

Das dem Estnischen verwandte Wotisch wird traditionell in einen West-, Ost- und Kukkosi-Dialekt unterteilt. (Der Ostdialekt war der erste, der ausstarb.) Überlebt hat nur der Westdialekt.

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2 Geschichte

Woher die W. ursprünglich kamen, ist ungewiss. Wahrscheinlich spalteten sie sich von den Esten ab. In den alten russischen Chroniken fällt im Zusammenhang mit der Gründung Novgorods um 859 der Name ›čudʹ‹, eine Sammelbezeichnung für verschiedene ostseefinnische Stämme, unter denen auch die W. zu vermuten sind. Die erste eigenständige Erwähnung (als russ. vodʹ) verzeichnet ein altes Novgoroder Reglement über die Instandhaltung von Straßen und Brücken aus der Regierungszeit des Fürsten Jaroslav Vladimirovič (1019–54). Für 1069 ist die Beteiligung der W. an einem Angriff auf Novgorod überliefert. Das Siedlungsgebiet der W., in den Quellen als ›Watland‹, Watlandia (latein.) oder Vodskaja zemlja (russ.) bezeichnet, war über lange Zeit Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen dem livländischen Zweig des Deutschen Ordens, dem Großfürstentum Moskau und später Schweden. 1240 fiel ›Watland‹ für zwei Jahre an den Deutschen Orden, danach blieb es unter der Herrschaft der Stadtrepublik Novgorod, in deren Verbänden W. ab 1270 nachweisbar dienten.

Im 13. Jh. begannen die ersten Versuche der orthodoxen Kirche, die heidnischen W. zu christianisieren. Anfangs waren die paganen Glaubenselemente noch sehr stark, wurden jedoch über die Jahrhunderte rückläufig. Mit weniger Erfolg entsandte der römisch-katholische Papst 1255 eigene Priester zu den W., die in den päpstlichen Bullen als ›pagani Watlandiae‹ erscheinen. Mitte des 15. Jh. führte der Deutsche Orden erneut Krieg gegen Novgorod um das ›Watland‹. Eine größere Zahl W. wurde dabei als Kriegsgefangene nach Semgallen (heutiges südliches Lettland) verschleppt. Ihrer Herkunft und ihres Glaubens wegen wurden sie dort von den Letten als Krewinen (= „Rüsschen“) bezeichnet. Bis ins 19. Jh. konnten sie ihre eigene Sprache bewahren, bevor sie in der lettischen Bevölkerung aufgingen.

Nachdem Novgorod 1478 Teil des Großfürstentums Moskau geworden war, wurde das Siedlungsgebiet der W. zum Grenzland und viele W. ins Innere Russlands deportiert. 1617 verlor das Zarenreich im Frieden von Stolbova seinen Zugang zur Ostsee, Ingermanland wurde dem finnischen Teil Schwedens eingegliedert. Ein Großteil der W. floh vor dem Druck der schwedisch-lutherischen Kirche und hohen Steuern nach Russland. Im Verlauf des Nordischen Kriegs (1700–21) kam Ingermanland wieder unter russische Herrschaft. Die 1703 durch Peter den Großen hier errichtete neue Hauptstadt St. Petersburg zog die massenhafte Ansiedlung russischer Bevölkerung und eine fortschreitende Russifizierung auch der W. nach sich, die nicht zuletzt durch ihre Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche begünstigt wurde.

Die W. betrieben vorrangig Ackerbau und Viehzucht, daneben vereinzelt auch Jagd, Bienenzucht und an der Küste Fischfang. Die sowjetischen Kollektivierungsmaßnahmen nach 1917 hatten ein Auflösen der traditionellen Dorfgemeinschaften, in denen bis dahin wotische Kultur und Sprache gepflegt werden konnten, zur Folge. Unter Stalin schließlich wurden wotische Bauern massenhaft deportiert. Die im Zweiten Weltkrieg durch Ingermanland verlaufende Frontlinie vor Leningrad brachte weitere Bevölkerungsverluste. Große Teile der W. wurden nach Finnland evakuiert, nach 1945 an die Sowjetunion ausgeliefert, wo sie zunächst in anderen Landesteilen angesiedelt wurden. Erst ab 1956 konnten sie in ihre Heimat zurückkehren. Ihre Dörfer waren in der Zwischenzeit mehrheitlich durch Russen neubesiedelt worden.

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3 Ethnologie

Die W. brachten nie eine eigene Schriftsprache hervor. Interesse an den W. und ihrer Sprache, v. a. bei estnischen und finnischen Forschern, lebte im 18. Jh. auf. Insbesondere die mündlich überlieferten Hochzeitslieder der W. wurden vielfach aufgezeichnet. Ursache für den Rückgang der W. ist neben zahlreichen Kriegen, die aus strategischen Gründen um das wotische Siedlungsgebiet geführt wurden, die fehlende Schriftsprache und das Verschwinden der alten Dorfgemeinschaften. Die W. und ihre Sprache stehen heute kurz vor dem Aussterben.

Bartens H.-H. 2000: Die finnisch-ugrischen Minoritätsvölker in Europa. Hamburg (= Mitteilungen der Societas Uralo-Altaica 19). Bereczki A. 2000: A vótok története. Nanovfszky Gy. (szerk.): Nyelvrokonaink. Budapest, 69–71. Jokipii M. (toim.) 1995: Itämerensuomalaiset. Heimokansojen historiaa ja kohtaloita. Jyväskylä. Paulson I. 1984: Die Woten. Aus der Geschichte eines erloschenen ostseefinnischen Volkes. Finnisch-Ugrische Mitteilungen 8, 99–110. Winkler E. 2002: Wotisch. Okuka M. (Hg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Klagenfurt, 761–763.

(Cathrin Kreutzer)

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