Ostseefinnische Sprachen

Ostseefinnische Sprachen (auch: Ostsee-Finnische Sprachen)

Inhaltsverzeichnis

1 Verbreitung

Die o.-f.n S. sind eine Untergruppe des finnougrischen Zweigs der uralischen Sprachfamilie. Mit Ausnahme der beiden obugrischen Sprachen Mansisch (Wogulisch) und Chantisch (Ostjakisch) sind alle finnougrischen Sprachen in Europa verbreitet. Die Sprachgemeinschaften der o.-f.n S. befinden sich überwiegend im Gebiet der östlichen Ostsee, rings um den Finnischen und auf der Ostseite des Bottnischen Meerbusens. Zwei der o.-f.n S. sind Nationalsprachen in unabhängigen Staaten mit ostsee-finnischer Mehrheitsbevölkerung: das Finnische in Finnland und das Estnische in Estland. Mit Ausnahme des Livischen in Lettland (Kurland, westlich der Rigaer Bucht) sind die übrigen o.-f.n S. im Nordwesten der Russischen Föderation verstreut. Hier gibt es zahlreiche Enklaven mit ostsee-finnischer Bevölkerung inmitten russischer Siedlungszonen. Die Sprachgemeinschaften haben verschiedene Größenordnung, von Millionensprachen, wie Finnisch und Estnisch bis hin zu extrem kleinen Gruppen, wie Ingrisch und Wotisch reichend. Nach Sprecherzahlen (die Angaben für Russland nach dem Zensus von 2002) ergibt sich folgendes Bild: Finnisch (5,1 Mio.), Estnisch (1,25 Mio.), Karelisch (52 800), Wepsisch (5700), Ingrisch (120), Wotisch (ca. 50), Livisch (24).

Anfang

2 Kulturgeschichte

Die heutige Verbreitung o.-f.r S. ist das Ergebnis eines langen historischen Schrumpfungsprozesses, in dessen Verlauf sich Bevölkerungsgruppen ostsee-finnischer Identität v. a. an das Russentum akkulturierten und assimilierten. Im Mittelalter reichte das Siedlungsgebiet der Ostsee-Finnen viel weiter nach Süden als heute. Novgorod hatte eine gemischt-ethnische Bevölkerung, die sich aus Russen, Ostsee-Finnen und Balten zusammensetzte. Als äußeres Zeichen des russischen Kultureinflusses ist zu beachten, dass die meisten Ostsee-Finnen in Russland der russisch-orthodoxen Kirche angehören. Zudem standen die ostsee-finnischen Bevölkerungsgruppen seit Jahrhunderten im Sozialkontakt mit Russen und haben gemischt-ethnische Ehen geschlossen. Beispielsweise sind die Familiennamen der karelischen Minderheit in der Region südlich des Onegasees (Tichvin-Karelier) fast ausnahmslos russischer Provenienz.

Der vorherrschende Assimiliationsdruck gefährdet auch das Fortbestehen des Ingrischen und Wotischen. Etliche der lokalen Sprachgemeinschaften stehen im Begriff sich aufzulösen. Das betrifft auch größere karelische Enklaven, z. B. die Tver- und Tichvin-Karelier. Die Angehörigen der ostsee-finnischen Völker, die ihre jeweilige Muttersprache bewahrt haben, sprechen im allgemeinen Russisch als Zweitsprache. Da die sozialen Funktionen der o.-f.n S. in Russland stark eingeschränkt sind, fungiert das Russische für die Mehrheit der Ostsee-Finnen als Sprache der Alltagskommunikation, weiterhin ist es Sprache der Schulausbildung. Es sind aber auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten. In der Republik Karelien gibt es mittlerweile an einigen Schulen Kurse in karelischer Sprache. Seit März 2004 ist das Karelische offiziell als Minderheitensprache anerkannt. Auch auf das Estnische wirkte während der Sowjetära russischer Assimilationsdruck. Mit der Unabhängigkeit Estlands im Jahre 1991 hat sich dieser Prozess in sein Gegenteil verkehrt. Seither hat die russische Minderheit im Land die Alternative, sich sozial in der eigenen Sprachgemeinschaft zu isolieren oder Estnisch zu lernen und am Wirtschafts- und Kulturleben Estlands teilzunehmen. Die estnische Staatsbürgerschaft ist von estnischen Sprachkenntnissen abhängig.

Im Kreis der o.-f.n S. sind das Finnische und Estnische die ältesten Schriftmedien. Sie wurden im 16. Jh. verschriftet. Sowohl das Finnische als auch das Estnische sind moderne Kultursprachen, die den kommunikativen Anforderungen des Informationszeitalters gerecht werden. In beiden Sprachen wird ein umfangreiches digitales Schrifttum produziert. Im 19. Jh. entstanden auch verschiedene Werke eines religiösen Übersetzungsschrifttums (Texte des Neuen Testaments) in Karelisch. Bemühungen der sowjetischen Sprachplanung, für das Karelische einen modernen Schriftstandard zu schaffen und das Ingrische und Wepsische zu verschriften, blieben jedoch erfolglos. Heute werden das Karelische und Wepsische in bescheidenem Masse als Schriftsprachen verwendet.

Anfang

3 Merkmale

Die o.-f.n S. haben sich aus dem Kontinuum des Proto-Finnischen (Proto-Fennic) ausgegliedert. Dazu gehören nicht die samischen Sprachen, die zwar mit den o.-f.n S. nahe verwandt sind, aber einen eigenen Sprachzweig der finnischen Sprachen präsentieren. Zu den gemeinsamen Merkmalen im Lautsystem, im grammatischen Bau und im Lexikon der o.-f.n S. gehören die folgenden: Die Wortbetonung liegt fast ausnahmslos auf der ersten Silbe. In längeren Wörtern gibt es einen Sekundärakzent, der auf der dritten oder vierten Silbe liegen kann.

In den meisten o.-f.n S. werden kurze und lange Vokale unterschieden. Die Länge der Vokale ist bedeutungsunterscheidend (phonematisch), z. B. finn. latu – „Skispur im Schnee“ versus laatu –„Qualität“ (Kurzvokale werden einfach, Langvokale doppelt geschrieben).

Der grammatische Bau der o.-f.n S. ist durch sowohl agglutinierende als auch flektierende Sprachtechniken charakterisiert. Das Kasussystem des Finnischen zeigt diese Tendenzen deutlich, z. B. talo –„Haus“, talo-sta –„aus dem Haus“ (agglutinierende Technik: unveränderter Stamm und Kasussuffix), joki –„Fluss“, joe + n –„des Flusses“ (flektierende Technik: veränderter Stamm im sog. Stufenwechsel und Kasussuffix). Der Stufenwechsel ist eine o.-f. Innovation und in anderen finnougrischen Sprachen unbekannt. Die Zahl der Fälle variiert stark. Gemeinsam sind den o.-f.n S. lediglich drei (Nominativ, Genitiv, Partitiv). In einigen Sprachen ist die Kasusflexion sehr differenziert, z. B. mit 15 Fällen im Finnischen und Estnischen. Alle o.-f.n S. (und die meisten finnischen Sprachen) drücken die Verneinung mittels eines Negationsverbs aus (vgl. finn. menemme –„wir gehen“ versus emme mene –„wir gehen nicht“; emme ist flektiertes Negationsverb und mene ist Stammform zu mennä –„gehen“).

Die Wortordnung war ursprünglich in allen o.-f.n S.: Subjekt – Objekt – Verb. Beeinflusst durch die Langzeitkontakte mit indoeuropäischen Sprachen ist bei einigen (z. B. Finnisch, Estnisch) ein Wandel zu Subjekt – Verb – Objekt eingetreten. Der Wortschatz ist durch regional-spezifische Kontakte geprägt. Gemeinsam sind den o.-f. S. ca. 400 baltische und 500 germanische Lehnwörter. Im Finnischen dominieren Entlehnungen schwedischer und englischer Herkunft, im Estnischen deutscher und englischer Herkunft, im Karelischen und den anderen Sprachen solche russischer Herkunft.

Abondolo D. (Hg.) 1998: The Uralic languages. London. Bartens H.-H. 2000: Die finnisch-ugrischen Minoritätsvölker in Europa. Hamburg. Hajdú P., Domokos P. 1987: Die uralischen Sprachen und Literaturen. Hamburg. Jokipii M. (Hg.) 1995: Itämerensuomalaiset. Heimokansojen historiaa ja kohtaloita. Jyväskylä. Laanest A. 1982: Einführung in die ostseefinnischen Sprachen. Hamburg. Roelcke T. (Hg.) 2003: Variationstypologie – Variation typology. Ein sprachtypologisches Handbuch der europäischen Sprachen in Geschichte und Gegenwart/A Typological Handbook of European Languages Past and Present. Berlin.

(Harald Haarmann)

Anfang
Views
bmu:kk