Thorn (Stadt)

Thorn (poln. Toruń)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die Stadt T. liegt am rechten Ufer der Weichsel, ca. 69 m ü. d. M., in der polnischen Woiwodschaft Kujawien-Pommern. Die Altstadt grenzt an den Fluss, nordöstlich schließt sich die Neustadt an. In der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jh. dehnte sich die Stadt rasch über ihren historischen Kern aus; seit den 1960er Jahren kamen im Norden zahlreiche neue Industrie- und Wohngebiete dazu. Die Durchschnittstemperatur T.s im Januar beträgt –2,8 °C, im Juli 17,8 °C, die jährliche Niederschlagsmenge 536 mm.

Die Bevölkerungszahl lag im 16. Jh. bei ca. 12. 000, sank am Ende des 18. Jh. stark (1793: ca. 6000), um im 19. Jh. wieder zu wachsen (1895: 30.314). 1938 hatte T. – nach Eingemeindungen – 81.200, 2005 – nach weiteren Eingemeindungen – 201.000 Einwohner. Die Stadt wird heute weitgehend von Polen bewohnt; vor 1945 war die Einwohnerschaft gemischt polnisch und deutsch, im Mittelalter überwiegend deutsch. Entsprechend hat sich die Bedeutung des Katholizismus vergrößert.

T. ist seit 1999 neben Bromberg (Bydgoszcz) eine von zwei Hauptstädten der Woiwodschaft und Sitz des Regionalparlaments. Nachdem die Bedeutung der Stadt als eines Zentrums des Weichselhandels im 18. und 19. Jh. nachließ, gewann sie Bedeutung als Verwaltungssitz und Garnison. Heute ist der öffentliche Sektor größter Arbeitgeber (Verwaltungen, Universität, Schulen); es gibt außerdem zahlreiche Industriebetriebe (u. a. Chemie, Lebensmittelverarbeitung [„T.er Pfefferkuchen“], Elektrotechnik und Maschinenbau).

T. ist ein wichtiger Knotenpunkt für den Schienen, Auto- und Wasserverkehr (drei Häfen). Durch T. verläuft die Nord-Süd-Hauptverkehrsachse, welche das Oberschlesische Industriegebiet mit den Häfen von Danzig und Gdynia verbindet. Ein internationaler Flughafen ist ebenfalls geplant – zu diesem Zweck wird seit 2005 der lokale Sportflughafen ausgebaut. Der ÖNPV wird über 33 Bus- und drei Straßenbahnlinien abgewickelt.

T. besitzt seit 1945 eine Universität (Uniwersytet Mikołaja Kopernika) mit 42.000 Studenten (2005), eine Offiziersakademie sowie weitere Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen. Es gibt zwei Theater, ein Völkerkundemuseum und ein Bezirksmuseum mit Abteilungen für Archäologie, Geschichte, ostasiatische Kunst sowie dem Nikolaus-Kopernikus-Haus. Von Bedeutung sind die Sammlungen der Stadtbücherei (Książnica Miejska) sowie des Staatsarchivs.

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2 Kulturgeschichte

Als der Deutsche Orden 1231 vom Culmer Land (Ziemia Chełmińska) Besitz ergriff, wurde zunächst in ›Stary Toruń‹ („Alt T.“) mit dem Bau einer Burg begonnen, die aber 1236 8 km stromaufwärts an die Stelle der heutigen Stadt verlegt wurde, wo seit dem 10./11. Jh. eine Fährstelle über die Weichsel mit einer kleinen Wachburg bestanden hatte. 1233 erhielt T. durch die ›Culmer Handfeste‹ die Stadtrechte. Während sich in der Altstadt (Stare Miasto) der bald aufblühende Handel konzentrierte, siedelten sich in der 1264 gegründeten Neustadt (Nowe Miasto) vorrangig Handwerker an. Zwischen den beiden städtischen Organismen wurde die Ordensburg als Sitz eines Ordenskomturs errichtet. Die Einwohner stammten u. a. aus der Niederlausitz, Westfalen und Niederschlesien.

Die Bedeutung der Stadt beruhte auf ihrer Lage an wichtigen Handelswegen; bis um 1400 dominierte T. den Handel mit dem nahegelegenen Polen. Seit 1358 war es Mitglied der Hanse. Wohlstand und Bedeutung drückten sich in der sakralen und weltlichen Bautätigkeit aus, gingen aber in dem Maße zurück, in dem sich das an der Mündung der Weichsel gelegene Danzig als bedeutsamer Handelsplatz etablierte.

Auch die Verleihung des Stapelrechts 1403 konnte diese Verlagerung nicht aufhalten. T. gehörte dem ordensfeindlichen Preußischen Bund an. 1454 wurde beim Aufruhr gegen die Ordensherrschaft die Ordensburg zerstört; die Stadt huldigte dem polnischen König. 1466 endete der Dreizehnjährige Krieg zwischen dem Orden und Polen mit dem Zweiten T.er Frieden (der TErste T.er Frieden hatte den Krieg von 1409/11 beendet). Trotz Spannungen im Bürgertum konnte sich die städtische Wirtschaft aufgrund großer Privilegien des polnischen Königs erholen, doch die Dominanz Danzigs erwies sich auf Dauer als zu stark. Wachsende soziale Spannungen wurden durch konfessionelle Unruhen verstärkt; ein Religionsprivileg erlaubte 1558 die Abhaltung protestantischer Gottesdienste. T. blieb von großer kultureller Bedeutung, so durch die Einrichtung des „Akademischen Gymnasiums“ (1568/94). Versuche zur Gründung einer Universität hatten keinen Erfolg. Dafür konnten 1605 die Jesuiten ein Kollegium einrichten. Seit 1581 existierte zudem eine Druckerei. 1645 war T. Schauplatz eines vom polnischen König angeregten „Religionsgesprächs“ (colloquium charitativum).

Die zwischenzeitliche Belebung des städtischen Handels endete durch die Kriege und Besetzungen seit 1655. Schwedische (Besetzung 1655–59, Bombardierung und Brandschatzung 1703), polnische, kaiserliche, sächsische und russische (Besetzung 1758–62) Truppen setzten der Stadt arg zu. Die wirtschaftlichen Probleme fielen mit einer Verschärfung der konfessionellen Beziehungen zusammen, was im „T.er Blutgericht“ von 1724 endete. Nach Unruhen zwischen Protestanten und Jesuiten wurden die beiden Bürgermeister sowie zwölf Bürger von einem königlichen Gericht zum Tode verurteilt.

1772 blieb T. bei der ersten Teilung Polen-Litauens zwar bei Polen, verlor aber sein großes Landgebiet an Preußen. Der Handel wurde durch die neuen Zollgrenzen und administrative Beschränkungen behindert. 1793 kam die Stadt an Preußen, was das Ende der privilegierten Selbstverwaltung, doch auch eine gewisse wirtschaftliche Belebung bedeutete. Zwischen 1807 und 1815 gehörte sie zum Herzogtum Warschau und war dann bis 1918/20 preußische Verwaltungs-, Garnisons- und Grenzstadt. 1818 wurde mit dem Bau von Festungsanlagen begonnen, die 1878–94 um einen großen Befestigungsring ergänzt wurden. Positiv wirkte sich seit den 1860er Jahren die Eisenbahnanbindung aus.

1853 wurde der ›Coppernicus-Verein für Kunst und Wissenschaft‹ gegründet, 1875 die polnische „Wissenschaftliche Gesellschaft in T.“ (Towarzystwo Naukowe w Toruniu). Seit dem ausgehenden 18. Jh. gab es Zeitungen, darunter seit 1867 auch eine polnische.

Mit dem Erstarken der polnischen Minderheit im ausgehenden 19. Jh. nahmen die nationalen Gegensätze zu; 1910 stellten Polen knapp 40 % der Einwohnerschaft, Juden 2 %. Aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags wurde T. 1920 polnisch; große Teile der deutschen Bevölkerung wanderten ab. In der Zwischenkriegszeit war T. Hauptstadt der Woiwodschaft Pommern und kulturelles Zentrum im nordwestlichen Polen (seit 1925 Sitz des „Baltischen Instituts“ [Instytut Bałtycki]); neue Industriebetriebe entstanden.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden die polnischen Einwohner von den deutschen Besatzern verfolgt und vertrieben, viele Angehörige der Intelligenz sowie die Juden wurden ermordet, 16.000 Deutsche neu angesiedelt. Am 1.2.1945 nahm die Rote Armee die Stadt ein. Nach dem Krieg entwickelte sich die Stadt als Zentrum von Wissenschaft, Verwaltung und Industrie (Chemie, Textilien); 1975 wurde T. wieder Hauptstadt der gleichnamigen Woiwodschaft.

In T. wurde 1473 der Astronom Nikolaus Kopernikus (Mikołaj Kopernik) geboren, um dessen nationale Zugehörigkeit im 19. und 20. Jh. heftig gestritten wurde. 1945 gründeten aus Wilna umgesiedelte Professoren die heutige – nach Kopernikus benannte – Universität. Aufgrund der hervorragend erhaltenen Innenstadt ist T. ein Kleinod unter den polnischen Städten. Das Ensemble mit mehreren, reich ausgestatteten gotischen Kirchen, dem Rathaus (1391–99), den Ruinen der Ordensburg, der Stadtmauer und unzähligen Bürgerhäusern im Backsteinstil ist seit 1997 ein UNESCO-Weltkulturerbe.

Biskup M. (Hg.) 1992-2003: Historia Torunia. 3 Bde. Toruń. Jähnig B., Letkemann P. (Hg.) 1981: Thorn. Königin der Weichsel 1231-1981. Göttingen. Przybyszewski K. 1994: Toruń w latach Drugiej Rzeczypospolitej (1920-1939). Toruń.

(Peter Oliver Loew)

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