Tatra (Gebirge, Überblick)
Tatra (poln./slowak. Tatry)
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1 Geographie
Die T. ist das höchste Gebirgsmassiv der Westkarpaten. Im Norden wird sie vom Fluss Dunajec, im Westen und Osten von Orava und Poprad begrenzt. Der Váh bildet die Grenze von der Hohen zur Niederen T. Nördlich der T. liegt die polnische Landschaft Podhale, östlich schließt sich auf slowakischem Gebiet die Zips (Spiš) an, welche die T. in einem Halbkreis umschließt. Der Gebirgskamm der Hohen T. bildete ab 1920 die Grenze zwischen Polen und der Tschechoslowakei und seit 1993 zwischen Polen und der Slowakei. Den westlichen Teil des Gebirges bildet die Westt. (poln. Tatry Zachodnie, slowak. Západne Tatry) – ein Teil davon wird auch Liptauer T. (slowak. Liptovské Tatry) genannt –, den östlichen die Hohe T. (poln. Tatry Wysokie, slowak. Vysoké Tatry) und die Weiße oder auch Belaer T. (slowak. Belanské Tatry). Den Südrand des Liptauer (Liptovská kotlina) und Zipser Beckens (Spišská kotlina) bildet die Niedere T. (Nízke Tatry). An diese grenzt im Osten das Slowakische Paradies (Slovenský raj), ein Teil des Slowakischen Erzgebirges (Slovenské rudohorie), im Westen die Große Fatra (Veľká Fatra) und im Süden liegt zwischen der Niederen T. und dem Slowakischen Erzgebirge das Tal des Gran (Hron).Die Niedere T. ist von mehreren größeren Städten umgeben – am nordwestlichen Rand liegt Ružomberok, ca. 25 km östlich davon Liptovský Mikuláš. Am südwestlichen Rand befindet sich die ehemals bedeutende Silber- und Kupferbergbaustadt Banská Bystrica und in der nordöstlichen Ecke Poprad, welche auch die größte Stadt nahe der Hohen T. auf slowakischer Seite ist. Weitere Städte auf dem Gebiet der T. dort sind Kežmarok im Osten sowie die 1999 durch Zusammenschluß von 15 Gemeinden gegründete Stadt Vysoké Tatry mit ihren am Südrand des Gebirges gelegenen Orten Tatranská Lomnica, Starý Smokovec und Štrbské Pleso. Am Nordrand der T. liegt Zakopane, die „heimliche Wintersporthauptstadt“ Polens.
Das Klima der T. ist höhenabhängigen Schwankungen unterworfen. Bis ca. 800 m betragen die durchschnittlichen Januartemperaturen –5 °C, bis 1500 m ca. –7 °C, darüber ca. –9 °C; im Juli entsprechend 15 °C, 11 °C und 7 °C. An den nördlichen Bergseiten weht oft der für dieses Hochgebirge typische Föhn (poln. halny). Die ganzjährigen Niederschläge erreichen 1500–1800 mm.
Die T. entstand gleichzeitig mit den Alpen und den Pyrenäen in der Zeit der alpidischen Gebirgsfaltung. Während das kristalline Gebirgsmassiv der Hohen T. vorwiegend aus Granit und Schiefer (überwiegend Gneis) besteht, setzt sich die Belaer T. – ein jüngeres Kalksteingebirge – aus organischen Meeressedimenten zusammen; der aus dem Quartär stammende Kern der Liptauer T. wird von einer Gesteinsschicht des Mesozoikums überdeckt. Die Niedere T. besteht ebenfalls hauptsächlich aus Granit und Schiefer, ihre Nebenkämme und Täler aus Kalkstein und Dolomit. In der Eiszeit des Quartärs bildeten sich in der Hohen T. bis zu 280 m dicke Eisgletscher, die von ihnen gebildeten Täler (z. B. Bielovodská dolina mit 14 km, Kôprová dolina mit 12,5 km und Mengusovská dolina mit 10,7 km Länge) zeugen immer noch von deren Größe. In der Hohen T. gibt es einen der seltenen Hochgebirgskarste mit über 550 Höhlen, die bekannteste zugängliche Höhle ist Belanská jaskyňa (Slowakei, 112 m Tiefe und 1752 m Länge), das größte Höhlensystem bildet jedoch Demänovský jaskynný systém mit 201 m Tiefe und 35.044 m Länge in der Niederen T. Im polnischen Teil ist Wielka Śnieżna Jaskinia mit 829 m die tiefste und 22.749 m Länge die größte Höhle.Insgesamt erstreckt sich die Gebirgskette der T. über 75 km in die Länge und 15–35 km in die Breite, was einer Fläche von etwa 750 km² (davon ca. 180 km² in Polen) entspricht.
Der Hauptkamm der Niederen T. besteht aus einem 80 km langen bewaldeten Rücken, der eine durchschnittliche Höhe von 1500-2000 m aufweist. Im höchsten Teil überwiegt ein felsiges Relief.
Die höchste Erhebung der Liptauer T. ist mit 2250 m ü. d. M. der Berg Bystra, die Belaer T. wird vom Havran (2154 m) bekrönt. Insgesamt gibt es in der Hohen T. etwa 25 Gipfel, die 2500 m erreichen. Der höchste Berg ist mit 2654 m die Gerlsdorfer Spitze (slowak. Gerlachovský štít), sie ist zugleich auch der höchste Berg der Slowakei. Weitere hohe Gipfel im slowakischen Teil der T. sind die Lomnitzer Spitze (Lomnický štít, 2632 m), Ľadový štít (dt. hist. Eistalspitze, 2627 m), Vysoká (T.spitze, 2560 m), Kriváň (2495 m) und Slavkovský štít (Schlagendorfer Spitze, 2432 m). Höchster Gipfel auf polnischer Seite und auch höchster Berg Polens insgesamt ist Rysy (Meeraugenspitze) mit 2499 m (auf der slowakischen Seite bis 2574 m). Mit 2043 m und 2024 m sind der Ďumbier und der Chopok die höchsten Berge der Niederen T.
Insgesamt gibt es in der Hohen T. über hundert Bergseen, die aufgrund ihrer besonderen Form Meeresaugen genannt werden. Die größten und bedeutendsten befinden sich auf polnischer Seite, davon ist mit 79,3 m der „Große See“ (Wielki Staw; 34,14 ha) im „Tal der fünf Polnischen Seen“ (Dolina Pięciu Stawów Polskich) der tiefste, Morskie Oko (dt. hist. Meerauge, 50,8 m tief) mit 34,5 ha der flächenmäßig größte und berühmteste. Weiterhin bekannt auf polnischer Seite ist der „Schwarze See“ (Czarny Staw, 20,64 ha, 76 m tief). Die größten Seen auf slowakischer Seite sind mit jeweils 20 ha Größe Veľké Hincovo pleso (dt. hist. Hinzensee, 53,2 m tief) und Štrbské pleso (Tschirmer See, 20 m tief).
Die obere Grenze des Ackerlandes liegt bei ca. 700 m ü. d. M., der Mischwald aus Fichten, Kiefern, Karpatenbirken, schlesischen Weiden, Eschen und Zirbelkiefern zieht sich bis zu einer Höhe von 1550–1600 m hinauf. Darauf folgt bis in eine Höhe von 1800–1850 m die subalpine Vegetationsstufe, die durch flächendeckende Krummholzgewächse (Latschen) bestimmt wird, auch findet man hier Preiselbeeren und Heidelbeeren, Karpaten-Johannisbeeren, Gebirgsrosen, Wacholder und Farne. Die alpine Vegetationsstufe in 1800–2300 m Höhe wird durch Bergwiesen mit niedrigwachsendem Gestrüpp und Felsgeröll, auf denen früher Schafe geweidet wurden, charakterisiert. In der subnivalen Region in über 2300 m Höhe wachsen überwiegend Hochgebirgs- und arktische Pflanzen, darunter etwa 130 Blumenarten, wie das Stengellose Leimkraut, das Edelweiß, der Türkenbund, die Stengellose Silberdistel und der Kälte-Enzian.
Die Fauna dominieren mitteleuropäische Arten, wie z. B. Murmeltiere, Gämsen, Hirsche, Rehe, Wildschweine, Wildkatzen, Luchse, Bären, Wölfe, Füchse, Auerhähne, Birkhühner, Schrei- und Steinadler.
2 Kulturgeschichte
Seit ältester Zeit war das Vorland der Hohen T. besiedelt. Bereits in der La-Tène-Zeit wurde dort Eisenerz verhüttet. Die Besiedlung der Zips ist seit dem 12. Jh. belegt, die von Podhale seit der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts. Im 13. und 14. Jh. kam es nach den Mongoleneinfällen aus strategischen Gründen zu einer organisierten Besiedlung des Talbeckens am Poprad-Fluss. Im 15. Jh. ließen sich v. a. auf polnischer Seite walachisch-aromunische Nomadenstämme vom Balkan und aus Siebenbürgen nieder. Sie verschmolzen mit den dort ansässigen deutschen und polnischen bzw. slowakischen Bauern zu den Goralen. Die wirtschaftliche Nutzung der T. bestand hauptsächlich aus Holz- und Weidewirtschaft, Jagd sowie später auch Bergbau (Kupfer und Silber, später auch Gold und Eisen).
Erste Expeditionen zur Erkundung des Gebirges sind im 16. Jh. belegt, die urkundlich erwähnte erste Besteigung eines T.gipfels (Kežmarský štít) fand 1615 statt. Seit Ende des 18. Jh. wird die T. auch von polnischer Seite aus bestiegen. Gedruckte Berichte über die T. weckten im 18. Jh. überdies im Ausland Interesse und lockten bedeutende Künstler und Forscher dorthin, z. B. den schottischen Arzt und Reisenden Robert Townson (1793 Erstbesteiger der Lomnitzer Spitze) oder den schwedischen Botaniker Göran Wahlenberg (1813).
1793 wurde Starý Smokovec mit den ersten Touristenunterkünften an den Südhängen von Slavkovský štít gegründet. Zu einem weiteren wirtschaftlichen und touristischen Aufschwung kam es 1871, als durch Poprad, das industrielle Zentrum auf slowakischer Seite und „Tor in die Hohe T.“, eine Eisenbahnlinie gebaut wurde. Ein Jahr später entstand am 1355 m hoch gelegenen Bergsee Štrbské pleso ein gleichnamiges Touristikzentrum. 1895 wurde Tatranská Lomnica (dt. hist. T.-Lomnitz) mit Poprad durch eine Eisenbahnstrecke verbunden, ein Jahr darauf eine mit Dampf betriebene Zahnradbahn zwischen Štrba (dt. hist. Tschirm) und Štrbské Pleso in Betrieb genommen. In Tatranská Štrba befindet sich heute die höchstgelegene Schnellbahn-Station der Slowakei. In den Jahren 1908–12 wurden weitere Touristikzentren durch elektrifizierte Bahnstrecken verbunden.
1873 wurden auf slowakischer Seite der T. der „Ungarische Karpatenverein“ (ungar. Magyarországi Kárpátegysület, MKE) und auf polnischer Seite der T.verein (Galicyjskie, seit 1874 Polskie Towarzystwo Tatrzańskie, PTT) gegründet, ersterer wurde 1918 in „Klub der tschechoslowakischen Touristen“ (slowak. Klub československých turistov) umbenannt. Beide Vereine errichteten Berghütten in der T. und machten diese durch markierte Wanderwege für Touristen zugänglich. Weiteres Ziel war die wissenschaftliche Erforschung der T.
1929 und 1939 war Zakopane, das Tourismuszentrum auf polnischer Seite, Austragungsort der Skiweltmeisterschaften; 1935 fanden diese in Štrbské Pleso statt.
In Zakopane wurde bereits zwischen 1913 und 1920 ein T.-Museum errichtet, welches nach dem Arzt Tytus Chałubiński (1820-89), der sich um die touristische Nutzung der T. besonders verdient gemacht hat, benannt ist. Es enthält Sammlungen zur Volkskunde und Geschichte von Podhale sowie der Goralen und einen botanischen Garten mit zahlreichen Pflanzen aus der T.
Seit 1940 führt auf slowakischer Seite ein Lift zur Lomnitzer Spitze. Dieser ermöglichte die Errichtung einer Sternwarte (heute Astronomisches Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften).
Im Zweiten Weltkrieg durchquerte die deutsche Wehrmacht die T. bei ihren Feldzügen gegen Polen und die Sowjetunion. Die T. stellte aber auch eine Verbindungstrasse für polnische und slowakische Widerstandskämpfer dar. Zur Zeit des sog. Slowakischen Nationalaufstandes wurde sie dann Operationsbasis der Partisaneneinheit ›Vysoké Tatry‹.
Bereits 1869 wurden Murmeltiere und Gämsen unter den Schutz des galizischen Sejms gestellt, da beide Tierarten in ihrem Bestand stark gefährdet waren. 1939 entstand auf polnischer Seite der „Naturpark T.“ (Park Przyrody w Tatrach) auf einer Fläche von ca. 16.000 ha 1949 wurde das gesamte tschechoslowakische Gebiet der Hohen T., die Belaer T. sowie der östliche Teil der Westlichen T. mit dem „Leisen Tal“ (Tichá dolina) zum T.-Nationalpark (slowak. Tatranský národný park, TANAP) erklärt. Das Gebiet umfasst 738 km². 1955 wurde auch der polnische Teil der T. auf einer Fläche von 211,64 km² zum Nationalpark (Tatrzański Park Narodowy, TPN). Der Nationalpark Niedere T. (Národný park Nízke Tatry, NAPANT), der heute 728,42 km² umfasst, wurde 1978 gegründet.
Als 1970 die Nordischen Skiweltmeisterschaften in Štrbské Pleso stattfanden, wurde dafür das gesamte tschechoslowakische Gebiet der Hohen T. touristisch ausgebaut und modernisiert. Der Ort Podbanské entstand als neues Touristik- und Skizentrum im westlichen Teil der T. 1998 fanden nochmals Weltmeisterschaften in Štrbské Pleso statt. Die Städte Poprad und Zakopane bewarben sich schließlich gemeinsam für die Austragung der Olympischen Winterspiele 2006, mussten sich aber Turin geschlagen geben.
Aus der jüngsten Vergangenheit erwähnenswert ist ein schwerer Orkan, der am 19.11.2004 auf 3 km Breite und 50 km Länge fast die Hälfte aller Bäume auf der slowakischen Seite der Hohen T. zerstörte.
V. a. in Volksliedern und Märchen wird die T. als Sinnbild der slowakischen Natur dargestellt. Besonders auffällig ist dies in der Landeshymne (zunächst Teil der tschechoslowakischen Hymne, seit 1993– in Form der ersten zwei Strophen – Hymne der Slowakei), welche auf einem Volkslied beruht, das von Janko Matúška 1844 im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen die Absetzung von Ľudovít Štúr als Lehrer des Evangelisch-theologischen Lyzeums in Bratislava durch die ungarische Verwaltung einen neuen Text erhielt (Nad Tatrou sa blýska, hromy divo bijú, „Es blitzt über der Tatra, die Donner schlagen wild“), der die wilde Natur der T. in den Vordergrund stellt.
Literarische Würdigung fand die T. v. a. in der Slowakei in der Zeit des Klassizismus und der Romantik. Damals war sie u. a. auch Symbol für die Slowakei (die sich unter ungarischer Herrschaft befand) und den Freiheitskampf. 1844 wurde die gesamtslowakische kulturelle Vereinigung ›Tatrín‹ gegründet, welche die neue slowakische Schriftsprache als alleinig gültige Sprache für ihre Publikationen ausrief. Ebenso nannte Štúr die Literaturbeilage zu seiner seit 1845 erscheinenden „Slowakischen Nationalzeitung“ (Slovenskje národňje novini), ›Orol tatránsky‹ („Adler der T.“). Sehr verbreitet waren literarische Verarbeitungen des Jánošík-Mythos. In der polnischen Literatur wurde die T. insbesondere in der Periode des sog. Jungen Polens (Młoda Polska) popularisiert, als zahlreiche Werke von Jan Kasprowicz (1860-1926) und Kazimierz Przerwa-Tetmajer (1865-1940) u. a. entstanden, die tlw. von der lokalen Volkskunst inspiriert waren.
T.-Darstellungen gibt es ebenso zahlreich in der bildenden Volkskunst und der Malerei. Von ihrer Landschaft inspirieren ließen sich z. B. die Maler Martin Benka (1888–1971) und Karol Tibely (1813–70?) sowie der Kupferstecher Ján Juraj Lumnitzer (1783-1864). Auch Ladislav Medňanský (1852-1919) und sein Schüler Ferdinand Katona (1864-1932) fanden ihre Motive zeitlebens in der T. Die T.-Panoramen Wiliam Forbergers (1848-1928) entstanden oftmals im Auftrag des T.-Vereins und wurden in verschiedenen Zeitschriften veröffentlich. Auch im Werk des Malers und Kunsttheoretikers Elemér Kőszeghy-Winkler (1882-1954) finden sich zahlreiche Darstellungen der T. und Vedutten der T.-Städte. Im 20. Jh. verband Ľudovít Fulla (1902-80) eine avantgardistische Malweise mit typischen Volkskunstmotiven. Fasziniert von der T. waren darüber hinaus zwei tschechische Maler: Otakar Štáfl (1884-1945). und Antonín Hudeček (1872-1941) und nicht zuletzt der Wiener Aquarellist Thomas Ender (1793-1875).
Andráši J. 1977: W Tatrach Słowackich. Przewodnik. Warszawa. Andráši J., Bohuš I. 1986: Hohe Tatra. Touristenführer. Bratislava. Hochmuth Z. 1985: Niedere Tatra. Touristenführer. Bratislava. Nyka J. 1972: Tatry. Przewodnik. Warszawa.