Drohobyč

Drohobyč (ukrain., jidd. Drobyṭš , poln. [auch dt.] hist. Drohobycz, russ. hist. Drogobyč)


Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

D. liegt ca. 295 m ü. d. M. am Fluß Tysʹmenyca (poln. Tyśmienica, russ. hist. Tisʹmenica) im Karpatenvorland, im Gebiet Lemberg, ca. 60 km südlich der Stadt Lemberg. Die mittlere Temperatur in D. beträgt im Januar –4,5 °C, im Juli 17 °C. Die jährliche Niederschlagsmenge beläuft sich auf ca. 800 mm. Die Stadt hat 79.595 Einwohner (2004) und eine Fläche von 32,7 km². 99,2 % der Bewohner der Stadt sind Ukrainer (Volkszählung 2001), daneben gibt es eine geringe Anzahl von Polen und Russen.

D. ist Kreiszentrum, Verkehrsknotenpunkt von lokaler Bedeutung und Zentrum des Industriegebietes D.-Borislav, zudem ein wichtiger Industriestandort für Erdölverarbeitung, Maschinenbau, Metall verarbeitende, Leicht- und Nahrungsmittelindustrie. Von besonderer Bedeutung für die Stadt sind der Abbau und die Verarbeitung von Kalisalz, dessen Fundstätten zu den größten Europas zählen. In D. befindet sich eine Pädagogische Universität, die den Namen des ukrainischen Schriftstellers Ivan Franko (1856–1916) trägt. Mehrere Fachschulen bilden den Nachwuchs für die ortsansässige Industrie aus.

Ungeachtet der Industrieanlagen und der aus der Sowjetzeit stammenden Neubaugebiete ist D. ein sehenswertes Städtchen mit Marktplatz im Zentrum. Architektonische Sehenswürdigkeiten sind ein Wehrturm (13./14. Jh.), die St. Bartholomäus-Kirche (kostël Cv. Bartolomeja, 1392–1541), zwei Holzkirchen – die St.-Georgskirche (cerkva Cv. Jur[ij]a), die 1657 aus dem Gebiet Ivano Frankivsʹk überführt wurde und die „Kreuzerhöhungskirche“ (cerkva Vozdvyžennja Česnoho Chresta, 15./16. Jh.) – und eine Synagoge (1865). Die Stadt besitzt ein Theater und ein Heimatmuseum.

Anfang

2 Kulturgeschichte

Als Teil Galiziens gehörte D. im Mittelalter zur Kiewer Rus, im 13. Jh. zum Fürstentum Galizien-Wolynien und ab dem 14. Jh. zum Königreich Polen. Das erste Mal wurde D. in der zweiten Hälfte des 14. Jh. erwähnt. In dieser Zeit wurden erste königliche Salzbergwerke und Salzsiedereien gegründet. Durch die Ausbeutung der Salzvorkommen entwickelte sich D. zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Zentrum des Karpatenvorlands, das auch mit dem Ausland Handel führte. Auf die Bedeutung der Salzgewinnung verweist das Stadtwappen: Auf hellblauem Schild sind neun Salzsiede-Bottiche abgebildet. Es gibt verschiedene Versionen zur Herkunft des Stadtnamens: vermutlich lässt er sich auf die Gewinnung des „weißen Goldes“ zurückführen (ostslaw./russ. dobyča = Ausbeute).

1422 erhielt D. das Magdeburger Recht. Vermutlich Ende des 14. Jh. wurde auf den Fundamenten einer noch älteren Anlage eine befestigte Burgsiedlung errichtet. Im 15./16. Jh. entstand ein neues Stadtzentrum mit Marktplatz und Rathaus; in Nachbarschaft zu den Salzsiedereien entwickelten sich die Vorstädte. Im 15. Jh. bis Anfang des 17. Jh. verwüsteten die Tataren (Krimkhanat) mehrmals die Stadt, daher wurden immer wieder Anstrengungen unternommen, die Stadtbefestigungen auszubauen. Seit dem 17. Jh. siedelten in D. neben Polen und Ukrainern v. a. auch Juden (Aschkenasim), D. wurde zu einem der wichtigsten Zentren des osteuropäischen Chassidismus. Zwischen den ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen kam es wiederholt zu Konflikten, bei denen v. a. die Juden als Sündenböcke für ungelöste soziale Probleme herhalten mussten: Bei einem Überfall des Kosakenheeres unter Bohdan Chmelʹnycʹkyj 1648 kam es zu verheerenden Massakern an der jüdischen Bevölkerung. Als Gegengewicht zur polnisch-katholischen Vorherrschaft entstanden im 17./18. Jh. orthodoxe Bruderschaften.

Im Zuge der Ersten Teilung Polen-Litauens (1772) fiel D. an das Habsburgerreich. Nachdem im 19. Jh. in der Umgebung D.s Ablagerungen von Ozokerit, Erdöl und Erdgas entdeckt wurden, erlangte es größere wirtschaftliche Bedeutung. An der Ölförderung beteiligten sich ausländische Firmen, darunter auch deutsche. Anfang des 20. Jh. entstanden in D. Erdölraffinerien. Von 1869–1939 wuchs die Einwohnerzahl von 16.880 auf 34.600 Bewohner, davon waren 26,3 % Ukrainer, 33,2 % Polen und 39,9 % Juden. Zwischen den ethnischen Gruppen herrschten tiefe soziale Spannungen und wirtschaftliche Konkurrenz: Die städtische Elite bestand vorwiegend aus Polen, die das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben dominierten, während die meisten Ukrainer als Arbeiter und Dienstboten tätig waren. Die jüdische Bevölkerung war außer in den traditionellen Berufen als Händler und Handwerker vorwiegend in der industriellen Erdölgewinnung tätig. Die jüdische Arbeiterschicht lebte zumeist in bitterer Armut.

Als russische Truppen im Ersten Weltkrieg die Stadt besetzten, richteten sie sich v. a. gegen national-ukrainisch gesinnte Einwohner und die jüdische Bevölkerung. 1919 wurde D. Teil des neuen polnischen Staates, gegen den sich um etwa 1930 die Untergrundbewegung OUN (Orhanizacija Ukrajinsʹkych Nacionalistiv, „Organisation Ukrainischer Nationalisten“) organisierte. Nach der Besetzung D.s durch sowjetische Truppen im September 1939 wurden im Juni 1941 1101 Insassen von Gefängnissen des D.er Gebietes, darunter zahlreiche Anhänger der OUN, vom NKWD erschossen. Am 1.7.1941 besetzten deutsche Truppen die Stadt, mit denen die OUN anfänglich zusammen arbeitete und eine örtliche Selbstverwaltung organisierte. Nach der Rückeroberung durch die Rote Armee im August 1944 wurde D. dem Staatsgebiet der Ukrainischen SSR angeschlossen.

Im Zweiten Weltkrieg fiel der Großteil der jüdischen Bevölkerung der Schoah zum Opfer. Bereits wenige Tage nach Einmarsch der deutschen Truppen wurden ca. 400 Juden getötet. Ein Teil konnte zeitweilig der Vernichtung entkommen, da in den für die deutsche Kriegswirtschaft wichtigen Erdölförderanlagen unersetzbar. Ab März 1942 bis zum Beginn der Liquidation des Gettos im Mai 1943 fanden mehrere „Aussiedlungsaktionen“ statt. Die jüdischen Einwohner wurden entweder in das Vernichtungslager Bełżec verbracht oder im nahegelegenen Wald von Bronyci (poln. Bronice) erschossen. Das Kriegsende überlebten nur etwa 500 Juden. + Durch Zwangsumsiedlungen der polnischen Bevölkerung nach dem Kriege verschob sich die Bevölkerungsstruktur markant: 1959 waren 70 % der Einwohner Ukrainer, 22 % Russen, 3 % Polen und 2 % Juden. Seit 1991 ist D. der Ukraine zugehörig.

Aus D. stammen der Mediziner und Philosoph Jurij Kotermak (1450-94) und der jüdische Schriftsteller Bruno Schulz, der 1942 im Getto von D. von der deutschen Besatzungsmacht ermordet wurde. Der ukrainische Schriftsteller Ivan Franko (1856–1916) besuchte in D. das Gymnasium der ukrainischen Bruderschaft.

Grynberg H. 2000: Drohobycz, Drohobycz. Zwölf Lebensbilder. Wien. Šalata M. I. 1986: Drohobyč. Narys-putivnyk. Lʹviv. www.drohobych.com.ua [Stand 24.4.2006].

(Evelyn Scheer)

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