Nation

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Inhaltsverzeichnis

1 Nationsbegriff

Die Mehrheit der N.sforscher stimmt darin überein, dass das, was wir heute N. nennen, eine relativ junge und moderne Form der Vergemeinschaftung ist, die sich hinsichtlich Komplexität und Mitgliederzahl von älteren „face-to-face“-Gemeinschaften unterscheidet. Zwar ist das lateinische Wort ›natio‹ (= Geburt, Volksstamm, zu ›nasci‹ = geboren werden) im lateinisch geprägten, abendländischen Europa schon seit dem ausgehenden Mittelalter für verschiedene Gruppierungen (etwa für die Einteilung von Universitätsmitgliedern nach Landsmannschaften oder zur Bezeichnung einer rechtlich privilegierten Schicht, z. B. des Adels: ›natio hungarica‹ usw.) verwendet worden. Aber im Unterschied zu der durch den gesellschaftlichen und/oder rechtlichen Status definierten ›natio‹ verstehen sich die Mitglieder der modernen N. als eine schichten- und klassenübergreifende Gemeinschaft von Gleichen. Die N.enbildung impliziert die Überwindung früherer Standesbarrieren ebenso wie die Überwindung älterer „face-to-face“-Gemeinschaften (in Form von Stämmen, Dorfgemeinschaften u. ä.).

Die moderne N. ist untrennbar verbunden mit der Forderung nach einem eigenen Staat oder einem staatsähnlichen Gebilde auf der Grundlage der „Volkssouveränität“ und des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ (in Abgrenzung zu den durch „Gottesgnadentum“, „dynastische Rechte“ oder das „Recht des Eroberers“ „legitimierten“ vornationalen Staaten). Der Anspruch auf einen Staat unterscheidet die N. von i. d. R. älteren Wir-Gruppen, die kein staatspolitisches Programm verfolg(t)en. Schließlich ist die N. immer das Ergebnis eines Integrations- und Abgrenzungsprozesses, eines Prozesses von Inklusion und Exklusion. Denn ohne Abgrenzung nach außen gibt es keine N., wie es auch keine Identität ohne Alterität gibt.

Nach der Definition des amerikanischen Anthropologen Benedict Anderson ist die N. eine „imagined community“, „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“. Die vier tragenden Elemente dieser Definition sind: 1. die N. als imaginierte Gemeinschaft, deren Mitglieder sich nicht persönlich kennen, 2. der politische Souveränitätsanspruch, 3. die Abgrenzung gegenüber Anderen sowie 4. die vorgestellte Gleichheit der N.smitglieder.

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Ausdrücklich distanziert sich Benedict Anderson von Ernest Gellner, der die „Erfindung“ der N. mit der „Herstellung von ‚Falschem’ assoziiert, anstatt mit ’Vorstellen und Kreieren’“. Eine notwendige Bedingung für die Entstehung der N. ist die kollektive Bewusstseinsbildung bzw. die Formierung eines die gesamte Gemeinschaft umfassenden Wir-Gefühls. Sofern dies gelingt, ist die N. keine bloße Fiktion (mehr), sondern „real“ (wie viele andere Vorstellungen und Abstraktionen, unabhängig davon, ob sie „richtig“ oder „falsch“ sind).

Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit von Menschen, die sich nicht persönlich kennen, basiert auf Solidarität und (vermeintlich) gemeinsamen Merkmalen, die nicht vorgegeben sind, sondern von Fall zu Fall variieren und konstruiert werden müssen. Alle Versuche, die N. anhand eines festen (objektiven) Merkmalskatalogs universal zu definieren, sind gescheitert. Die Bestimmungsmerkmale der N. müssen von den Protagonisten der N.sbildung ausgehandelt, im Innern implementiert und nach außen durchgesetzt werden, dies dauert i. d. R. mehrere Jahrzehnte. Obwohl die Merkmale variieren, sind sie nicht beliebig. Sie müssen bestimmte Gemeinschaft stiftende Qualitäten aufweisen, z. B. plausibel, relevant, vertraut und eindeutig erscheinen, um von der Zielgruppe (den Mitgliedern der künftigen oder bereits existierenden N.) akzeptiert zu werden. Gemeinsame Sprache, gemeinsame Religion, Verwandtschaft, gemeinsames Territorium oder eine gemeinsame Vergangenheit weisen Gruppen bildende Qualitäten auf Ob sie aber tatsächlich als plausibel und relevant empfunden und wie sie gewichtet werden, hängt vom jeweiligen Kontext sowie von Verlauf und Ergebnis des Aushandlungsprozesses ab. Dabei kann sich die Gewichtung zwischen den einzelnen Merkmalen ändern, was zu einer Verlängerung des N.bildungsprozess führen kann.

Die Kriterien müssen nicht nur plausibel, relevant, vertraut und eindeutig, sie müssen auch unterscheidend (distinktiv) sein, da sie anderenfalls keine Abgrenzungswirkung entfalten. Nehmen wir das Beispiel Sprache. Die Sprache als Kommunikationsmedium hat in vielen N.sbildungsprozessen eine konstitutive Rolle gespielt. Sprachnationalismus ist daher bis heute ein wichtiges Untersuchungsfeld geblieben. Aber Sprache allein reicht häufig nicht zur N.sbestimmung aus. Nicht alle, die Englisch, Spanisch oder Deutsch als Muttersprache sprechen sind Engländer, Spanier oder Deutsche. Oder nehmen wir das Beispiel Religion. Ihre Bedeutung für die Bildung einer N. hängt nicht nur von der Religiosität der Zielgruppe, sondern auch davon ab, ob und inwieweit die Religion als Kultur prägend verstanden wird. Selbst in stark säkularisierten Gemeinschaften kann der Religion als kulturellem Merkmal eine Identität stiftende Rolle zufallen. Zumeist wird die Religion aber mit anderen N. stiftenden Merkmalen verbunden, denn nicht alle Katholiken, Muslime etc. bilden eine N. Bei der orthodoxen Bevölkerung im Balkanraum wurde der Prozess der Nationalisierung (und Profanisierung) von Religion durch die im 19. Jh. einsetzende Erosion des panorthodoxen Gemeinschaftskonzepts zugunsten autokephaler National- (und nicht mehr bloßer Territorial-)Kirchen gefördert. Die These, dass das osmanische millet-System dem modernen, in der Regel „religiös“ konnotierten Nationalismus im Balkanraum den Weg bereitet habe bzw. dass die ethnonationalen Gemeinschaften der Gegenwart ein Erbe des millet-Systems seien, steht im Widerspruch zu den historischen Fakten. Vielmehr haben der „Phyletismus“, die mit ihm verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Interessen der nationsbildenden Eliten und die Umwertung des Autokephalie-Prinzips das traditionelle, ethnisch neutrale millet-System erst zum Einsturz gebracht. Dass das panorthodoxe Gemeinschaftskonzept im Balkanraum schneller erodierte als das panislamische, war sehr wahrscheinlich dieser Entwicklung geschuldet. In der Türkei setzte sich der „Phyletismus“ erst in den 1920er Jahren durch und stürzte die nicht-türkischen Balkan-Muslime in eine Identitätskrise.

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In der Praxis definieren sich die meisten N.en durch eine Kombination von zwei oder mehreren Merkmalen (z. B. Herkunft + Sprache; Sprache + Religion + Territorium; Territorium + Verfassung etc.). Dabei ist wichtig, dass die einzelnen Merkmale des Clusters miteinander kompatibel sind oder als kompatibel empfunden werden. Denn im Falle der Inkompatibilität droht der N.sbildungsprozess zu scheitern bzw. sich in divergierende Nationalbewegungen aufzulösen. Eine gemeinsame Sprache kann religiöse Unterschiede überbrücken (z. B. bei Albanern); religiöse Unterschiede können andererseits die Durchsetzung einer Sprachgemeinschaft erschweren oder verhindern (z. B. bei Serben, Kroaten, bosnischen Muslimen). Die Definition einer konkreten N. durch bestimmte Merkmale ist also variabel, kontextabhängig und prozessual.

Höchst umstritten ist, woraus die N.en hervorgegangen sind. Drei Hauptströmungen stehen sich gegenüber: 1. Die N. bestand schon immer oder zumindest seit langer Zeit. Sofern sie sich infolge fremder Unterdrückung zeitweilig nicht artikulieren konnte, musste sie „wiedererweckt“ oder „wiedergeboren“ werden (Essentialisten). 2. Die N. ist eine modernisierte und (infolge des Bevölkerungswachstums) vergrößerte Fortsetzung einer oder mehrerer älterer Ethnie(n), die ihrerseits durch gemeinsame Herkunft (Abstammung), gemeinsame Sprache und gemeinsames Territorium, allerdings ohne politischen Souveränitätsanspruch, definiert werden (Modernisten). 3. Die N. ist eine komplette Neuerfindung des 19./20. Jh. (Konstruktivisten). Bei der ersten und dritten Strömung handelt es sich um Extrempositionen. Denn N.en sind nicht zeitlos, sondern Produkte historischer Prozesse: sie entstehen, verändern sich und vergehen. Dass sie völlige Neuerfindungen sind, ist unwahrscheinlich, da es keine anderen Beispiele für soziale Organisationsformen gibt, die ex nihilo erfunden worden wären.

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2 Typen der Nation

In der Regel wird zwischen zwei idealtypischen Varianten des N.sverständnisses unterschieden. Diese Differenzierung geht auf die Phase der N.sbildung zurück. Auf die nachfolgende Phase des Massennationalismus ist sie aber nur mit Einschränkungen anwendbar. Im ersten Fall (Musterbeispiel Frankreich) vollzog sich die N.sbildung im Rahmen eines konsolidierten Staates und zielte auf die „Nationalisierung“ der Staatsbevölkerung ab („state into n.“). Im zweiten Fall, der für Deutschland, Italien und den gesamten ostmittel- und südosteuropäischen Raum charakteristisch ist, musste der Nationalstaat erst durch eine starke Nationalbewegung mittels Vereinigung von mehreren Staaten oder mittels Abspaltung von einem multiethnischen Imperium geschaffen werden („n. into state“). Während im ersten Fall der bereits existierende Staat als n.sstiftende Bezugsgröße angenommen wurde, mussten die Nationalbewegungen ohne eigenen Staat zunächst auf andere Bezugsgrößen (Sprache, Religion, Abstammung etc.) bzw. auf das rekurrieren, was seit der Aufklärung unter dem Begriff „Volk“ (›demos‹) subsumiert wurde. Der Staatsn. (›populus‹) stand die Volksn. (›demos‹) gegenüber. Die Zugehörigkeit zur Staatsn. beruhte (tendenziell) auf dem subjektiven Bekenntnis des Einzelnen (vgl. Ernest Renans berühmte Formulierung vom „plébiscite de tous les jours“) und leitete sich aus der Staatsbürgerschaft (citizenship) ab, während sich die Zugehörigkeit zur Volksn. auf vermeintlich objektive Kriterien (etwa die gemeinsame Abstammung, unabhängig von der Staatszugehörigkeit) gründete (Ethnon.). Da man sich die Abstammung nicht wählen kann, sind die Inklusions- und Exklusionsmuster der Volksn. sehr viel rigider als die der Staatsn. Exemplarisch lässt sich dies an den unterschiedlichen Definitionen des Staatsbürgerschaftsrechts (›ius soli‹ versus ›ius sanguinis‹) und an der staatsbürgerschaftlichen Praxis verfolgen.

Europaweit kam es im Gefolge von Darwinismus, Biologismus und Rassismus seit dem ausgehenden 19. Jh. zu einer zunehmenden „Ethnisierung“ des N.sverständnisses, die insbesondere bei den Volksn.en auf fruchtbaren Boden fiel. Die „Nationalisierung“ des „Volkes“ erhielt durch die „Ethnisierung/Biologisierung“ der N. eine neue Qualität.

Begriffsgeschichtlich bedeutsam ist die Tatsache, dass bei den osteuropäischen Gesellschaften, darunter auch bei den Südslawen, Volk und N. als Synonyme verstanden und i. d. R. mit demselben Wort (z. B. ›narod‹) bezeichnet werden. Die aus ›natio‹ abgeleiteten Neologismen (z. B. ›nacija‹) fanden dagegen erst an der Wende vom 19. zum 20. Jh. Eingang in die jeweiligen Sprachen und werden bis heute nahezu ausschließlich in wissenschaftlichen Abhandlungen verwendet.

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Nationenbildung Der aus dem angelsächsischen Schrifttum übersetzte Begriff N.sbildung (n. building) bezeichnet den Konstruktionsprozess moderner N.en im Besitz von oder im Streben nach einem eigenen Staat. Historiker in Südosteuropa verwendeten diesen Begriff bis in die jüngste Vergangenheit i. d. R. nicht, da sie N.en nicht als historische Konstrukte, sondern als epochenübergreifende, „natürliche“ Entitäten verstanden, die zwar zeitweilig unterdrückt, anschließend aber „wiedergeboren“ werden können. Statt von N.sbildung ist daher (in Anlehnung an italien. risorgimento) von „Wiedergeburt“ (serb./kroat. preporod, bulgar. văzraždane, alban. rilindja etc.) die Rede.

Dass das moderne N.sverständnis in Westeuropa seine originäre Ausprägung erhielt, ist weitgehend unstrittig. Im Zuge von Aufklärung, Französischer Revolution und Romantik verbreitete sich das Konzept N. über ganz Europa. Die treibenden Faktoren der originären N.sbildung waren gesellschaftspolitischer, ideengeschichtlicher und ökonomischer Art sowie die damit einhergehenden Kommunikations- und Vereinheitlichungsbestrebungen. Bürgerliche Emanzipation, Liberalismus, Marktexpansion, Rechtssicherheit, Urbanisierung, Alphabetisierung, Industrialisierung standen in einem engen Wechselverhältnis zur westeuropäischen N.sbildung. Das Modell der N. und des Nationalstaats erwies sich aber schnell als so attraktiv, dass es auch von zunächst kleinen Eliten in Ost- und Südosteuropa übernommen wurde, obwohl die Ausgangs- und Rahmenbedingungen dort völlig anders waren als in Westeuropa. Im Zuge der Übernahme kam es daher zu vielfältigen Modifizierungen des ursprünglichen Modells. Die N.sbildung in Ost- und Südosteuropa ist daher keine zeitversetzte Wiederholung der westeuropäischen Nationsbildung, sondern folgte einem eigenen Entwicklungsschema.

Im Zentrum der Forschung steht die Frage, von wem, warum und wie N.en gemacht bzw. wie aus vormodernen Gruppenidentitäten moderne N.en geformt (bzw. „wiedergeboren“) werden. In Südosteuropa vollzog sich die N.sbildung mit unterschiedlichen Anfangs- und Endphasen während des 19. und 20. Jh. Am Anfang des Prozesses standen überall einzelne Persönlichkeiten (patriotisch gesinnte Adelige oder Vertreter des Stadtbürgertums in ständischen Gesellschaften resp. Geistliche, Kaufleute, Gelehrte, später auch Studenten und Schüler in nicht-ständischen Gesellschaften), die über ein höheres Maß an Bildung (Zugang zu einer Schriftkultur) und Kontakten zur “Außenwelt“ verfügten und damit stärker in überregionale Kommunikationsnetze eingebunden waren als die übrigen Mitglieder der vorwiegend illiteraten Gesellschaft. Häufig handelte es sich um Angehörige von Schichten, denen entweder sozialer Abstieg drohte (Teile des Adels infolge des Verlusts von Privilegien) oder die für ihren sozialen und politischen Aufstieg kämpften (frühes Bürgertum). Neben sozioökonomischen Motiven wurden auch ideelle Beweggründe wirksam. Auf Grund von Auslandsreisen, Studien an ausländischen Universitäten, Fernhandelsbeziehungen oder Leben in einer Diaspora-Gemeinde kamen die Vorkämpfer der N.sbildung in Kontakt mit den west- und mitteleuropäischen Ideen von N. und Volk. Neben dem Ideengut Jean Jacques Rousseaus und der Französischen Revolution war es namentlich Johann Gottfried Herders Verständnis von “Volk“ und “Nationalcharakter“, das von den Vorkämpfern der N.sbildung in Ostmittel- und Südosteuropa rezipiert wurde. Da hier der Staat der N. erst geschaffen werden musste, stand die „Nationalisierung“ des „Volkes“ im Zentrum der Bemühungen.

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Das vom tschechischen Nationalismusforscher Miroslav Hroch entwickelte 3-Phasen-Modell für das „Erwachen“ „kleiner“ (d. h. in der Ausgangssituation politisch und sozial entrechteter) N.en – vom Gelehrtenpatriotismus einer zahlenmäßig schwachen, im wesentlichen unpolitischen Intellektuellengruppe (Phase A) über die zielbewusste politische Agitation einer nationalbewussten Minorität (Phase B) bis zum integralen Massennationalismus (Phase C) – lässt sich mit einigen Modifizierungen und Einschränkungen auch auf die von Hroch nicht behandelten Balkann.en sowie auf diejenigen Ethnien übertragen, deren ständische Führungsschichten sich (mehr oder minder ausgeprägte) Elemente von Eigenstaatlichkeit seit dem Mittelalter hatten bewahren können, aber dennoch in Opposition zu einer „herrschenden N.“ standen (Ungarn zu Deutschen oder Kroaten zu Ungarn). Der Wunsch nach Sezession von den multiethnischen Imperien war allen Vorkämpfern der „kleinen Völker“ gemeinsam. Unterschiede ergaben sich daraus, dass das Verständnis von N. bei Ungarn und Kroaten stark durch einen staatsrechtlichen Traditionalismus und die lange Persistenz der feudalen ›natio‹ geprägt wurde, während die Repräsentanten der “geschichtslosen Völker“ (z. B. Slowaken und Slowenen) eher auf volks- und naturrechtliche Argumente, die Vertreter vormals „staatsbildender Ethnien“ (z. B. Griechen, Serben, Bulgaren) auf einen untergegangenen mittelalterlichen Staat und daraus abgeleitete „historische Rechte“ rekurrierten.

In die erste Phase der N.sbildung fiel die Kodifizierung der Nationalsprache, die i. d. R. (Ausnahme: Griechisch) auf einer volkssprachlichen Variante basierte. Konkret beinhaltete dies die Entscheidung für ein bestimmtes Alphabet, die Erstellung von Wörterbüchern, Grammatiken, Lesefibeln und die Sammlung volkssprachlicher Literatur (Lieder, Märchen u. ä.). Hinzu kamen die Konstruktion einer nationalen Geschichte, die möglichst weit in die Vergangenheit zurückprojiziert wurde (mit Ursprungsmythen, Siedlungsprioritäten etc.), die Nationalisierung der Folklore bzw. die “Erfindung von Tradition“, die Errichtung nationaler Bildungsstätten (Privatschulen, Lesehallen), die Gründung von Gelehrtenzirkeln u. a. Auf dem Gebiet der Habsburger-Monarchie ging die Phase A mit Beginn des Vormärz oder spätestens mit der Revolution von 1848 in die Phase B über. Die Formierung von (Honoratioren-)Parteien verlieh der politischen Agitation und der Forderung nach erweiterten staatlichen Rechten oder nach voller Souveränität ungeahnten Auftrieb. Durch die Bauernbefreiung und die Proklamierung von “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ erhofften sich die nationalbewussten Agitatoren die Überwindung der Standesbarrieren und die Erlangung einer Massenbasis, scheiterten jedoch zunächst an den national indifferenten Bauern. Parallel zur Politisierung des Nationalen wurden die kulturellen Anstrengungen der ersten Phase mittels Institutionalisierung von nationaler Kultur und Wissenschaft (Gründung von Akademien, Museen, Denkmälern, Ausbau des Bildungswesens etc.) auf eine breitere Basis gestellt. Der Eintritt in die dritte Phase, die Phase des integralen Massennationalismus, lässt sich beim derzeitigen Forschungsstand und mit den bisher bekannten Quellen nicht zuverlässig datieren. Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 schuf die Voraussetzungen für eine Magyarisierungspolitik „von oben“ sowie für die staatliche Inszenierung und Dramatisierung des Nationalen, so dass anzunehmen ist, dass das Konstrukt N. in den Jahrzehnten nach dem Ausgleich von großen Teilen der magyarischen und den assimilationsbereiten Teilen der nichtmagyarischen Bevölkerung allmählich akzeptiert wurde. Komplizierter verlief die dritte Phase bei den Kroaten, da der für sie ungünstige ungarisch-kroatische Ausgleich von 1868 und die widerstreitenden (kroatisch-staatsrechtlichen, südslawischen, naturrechtlichen und austro-slawischen) N.skonzepte sowie die (zwischen Autonomie, Trialismus und Sezession schwankenden) Staatsmodelle der kroatischen Eliten die Entfaltung des Nationalbewusstseins behinderten, so dass der Abschluss des N.sbildungsprozesses erst in die Zwischenkriegszeit zu datieren ist.

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Im N.sbildungsprozess der Balkanvölker und Rumänen spielten Vertreter der jeweiligen Diaspora – v. a. in der ersten Phase – eine entscheidende Rolle (z. B. der Grieche Adamantios Koraīs in Paris, der Serbe Vuk Stefanović Karadžić in Wien, die „siebenbürgische Schule“ in Transsilvanien, die bulgarische Diaspora in den Donaufürstentümern etc.). Während bei Serben, Griechen und Rumänen die Phase B bereits im zweiten Drittel des 19. Jh. begann, setzte der Übergang von der ersten zur zweiten Phase bei den Bulgaren erst im letzten Drittel des 19. Jh., bei den Albanern und Makedoniern sogar erst im 20. Jh. ein (während die N.sbildung der bosnischen Muslime – Bosniaken – erst seit den 1960er Jahren klarere Konturen gewann). Für diese Ungleichzeitigkeiten waren – nicht allein, aber in hohem Maße – die unterschiedlichen politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen verantwortlich. Die Errichtung des autonomen Fürstentums Serbien, des souveränen Kgr. Griechenland sowie das Ende der Phanariotenherrschaft in den rumänischen Fürstentümern (jeweils um 1830), die alle ein Ergebnis europäischer Interventionspolitik darstellten, haben den Übergang von der Phase A zur Phase B maßgeblich erleichtert, da die jungen staatlichen oder staatsähnlichen Institutionen fortan als nationale Sozialisationsagenturen eingesetzt werden konnten. Dagegen waren die Startbedingungen bei Bulgaren, Makedoniern und Albanern erheblich ungünstiger. Die Bulgaren lebten im unmittelbaren Vorfeld der osmanischen Reichshauptstadt und waren schon durch diesen Umstand stark beeinträchtigt. Die ethnisch, sprachlich und konfessionell fragmentierte Bevölkerung Makedoniens wurde schnell in die nationalen Konkurrenzkämpfe ihrer Nachbarn verstrickt und die vorwiegend muslimischen Albaner (ebenso wie die bosnischen Muslime) unterhielten starke Loyalitätsbindungen zum Osmanischen Reich und waren für die N.sbildung zunächst nicht erreichbar. Die in den 1830er Jahren entstandenen serbischen und griechischen Kernstaaten waren außerdem ebenso wie die Donaufürstentümer konfessionell, sprachlich und ethnisch einheitlicher als der spätere bulgarische Staat oder als Makedonien, Thrakien, die Dobrudscha und Bosnien. Beginn, Verlauf und Erfolg der N.sbildungsprozesse wurden somit von einer Vielzahl von Faktoren (darunter Kontakte mit dem Westen, geopolitische Lage, sprachliche, konfessionelle, ethnische und soziale Gliederung der Bevölkerung, unterschiedlich ausgerichtete Loyalitätsbeziehungen u. ä.) beeinflusst. Und je später der N.sbildungsprozess die kritische Phase B erreichte, desto komplizierter gestaltete er sich.

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Serben und Griechen hatten sich Anfang des 19. Jh. noch in einer weitgehend konkurrenzfreien Situation befunden. Das ändert sich, als im letzten Drittel des 19. Jh. nach Gründung des Exarchats auch die Bulgaren auf den Plan traten. Und besonders dramatisch wurde es, nachdem zwei weitere Akteure – Makedonier und Albaner – die Bühne betreten hatten und die multikonfessionelle sowie multiethnische osmanische Reichsidee zunehmend einem türkischen Nationalismus wich. Mit jeder neuen Nationalbewegung verschärfte sich der der Kampf der rivalisierenden nationalen Führungsschichten in denjenigen Gebieten, die entweder unter Berufung auf mittelalterliche Staatsgrenzen oder mit dem Hinweis auf Sprach-, Konfessions- bzw. (vermeintliche) Abstammungskriterien der Bevölkerung von mehreren Nationalbewegungen beansprucht wurden. Generell gilt: Je früher ein eigener Staat zur Verfügung stand, desto früher und leichter konnte die Phase C erreicht werden, wobei neben der staatlichen Sprach- und Geschichtspolitik, der Konstruktion eines „historischen Gedächtnisses“, der Beschäftigung mit Volkskunde/Ethnologie etc. auch außenpolitische Krisen und Kriege mit ihren Solidarisierungseffekten eine wichtige Rolle spielten („Schicksalsgemeinschaft“).

Der entscheidende Punkt in jeder N.sbildung war die Überwindung der vornationalen Identitäten sowie die Definition und Durchsetzung nationaler Bestimmungskriterien zur Abgrenzung gegenüber „den anderen“, denn nur so konnte die heterogene ethnographische Karte Südosteuropas national(staatlich) gegliedert werden. Der seit dem letzten Drittel des 19. Jh. verstärkte Rekurs auf die (nicht beweisbare) Abstammung erlaubte es, auch diejenigen Gruppen, deren Mitglieder eine „falsche“ Religion hatten oder eine „falsche“ Sprache sprachen, unter Hinweis auf deren angebliche Abstammung für die eigene N. zu reklamieren (z. B. bosnische Muslime als „islamisierte Kroaten“ oder „islamisierte Serben“ oder slavophone Makedonier als Griechen). Da die Abstammung für größere Gruppen über längere Zeiträume hinweg nicht nachweisbar war (und ist), öffnete sie der nationalen Manipulation Tür und Tor. In Gebieten mit ethnischen Gemengelagen führte daher das Verständnis der N. als Abstammungsgemeinschaft fast zwangsläufig zu nicht verhandelbaren Konflikten.

Als Ergebnis der N.sbildung und der damit verbundenen Einteilung der Bevölkerung in nationale Mehr- und Minderheiten wurde die ethnographische Karte Südosteuropas grundlegend umgestaltet. An die Stelle der traditionellen Kleingruppen in Gemengelage trat eine großflächige Gliederung nach N.en. Im Zuge dieses Prozesses wurden viele multiethnische Regionen seit dem letzten Viertel des 19. Jh. entweder geteilt oder mittels Vertreibung, Umsiedlung und Massenmord „ethnisch gesäubert“.

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(Holm Sundhaussen)

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