NATO (Osterweiterung)
NATO-Osterweiterung
Im November 2002 wurde in Prag die Aufnahme von sieben Staaten Mittelosteuropas beschlossen. Damit werden 2004 zehn Länder des früheren Sowjetblocks in die westliche Sicherheitsstruktur integriert sein.
Inhaltsverzeichnis |
1 Das transatlantische Verteidigungsbündnis
Die ›North Atlantic Treaty Organisation‹ (NATO) wurde im April 1949 als kollektives Verteidigungsbündnis gemäß Artikel 51 („Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung“) der Charta der Vereinten Nationen (UN) in Washington von zwölf Mitgliedern, zehn europäischen sowie Kanada und den USA, gegründet. Laut Bündnisvertrag fällt ihr als wichtigster Auftrag der Schutz der Mitglieder vor militärischer Bedrohung zu. Dementsprechend sind die NATO-Mitglieder gemäß Artikel 5 zu gegenseitigem Beistand dann verpflichtet, wenn der Bündnisfall erklärt wird. In der Geschichte der NATO war das bisher nur einmal der Fall: nach dem 11.9.2001, den terroristischen Attentaten in den USA. Zu einem Einsatz der NATO kam es damals allerdings nicht.
Anders als traditionelle Militärbündnisse ist die NATO nicht nur ein militärisches, sondern gleichermassen ein politisches, soziales, ökonomisches und kulturelles Bündnis, ein Bündnis gewissermaßen zur Verteidigung der westlichen Demokratie, deren Prinzipien von allen Mitgliedsstaaten formal anerkannt wurden. In der Praxis hat es immer wieder eklatante Abweichungen gegeben, wie Griechenland und Portugal bis 1982, und die Türkei seit 1981 zeigen.
2 Die Struktur der NATO
Die NATO ist in eine politische und eine militärische Organisation gegliedert. Während der politischen Organisation alle Mitgliedsländer angehören, sind Frankreich und Island aus unterschiedlichen Gründen nicht Teil der militärischen Organisation. Oberstes Entscheidungsgremium ist der NATO-Rat, der sich aus Vertretern der Mitgliedsregierungen zusammensetzt und nach dem Prinzip der Einstimmigkeit geführt wird. Militärische Fragen werden im Militärausschuss verhandelt, dem die Stabschefs der Mitgliedsstaaaten angehören. 1993 erfuhr die NATO eine grundlegende Strukturreform der militärischen Organisation: Die Unterorganisationen ACLANT (›Allied Command Atlantic‹), geführt von dem SACLANT (›Supreme Allied Commander‹), sowie dem ACEUR (›Allied Command Europe‹), mit dem SACEUR (›Supreme Allied Commander Europe‹) an der Spitze wurden gegründet. Weitere grundlegende institutionelle Reformen wurden auf dem Prager Gipfel im November 2002 beschlossen: zwei strategische Kommando-Zentralen sollen eingerichtet werden, von denen sich die operationelle und die konzeptionelle in den USA befinden wird.
3 Neue Rahmenbedingungen 1990
Das Ende des Ost-West-Konfliktes stellte alle internationalen Organisationen, so auch die NATO, vor erhebliche Identitäts- und Anpassungsprobleme. 1991 hatte sich der Warschau (Pakt) als Hauptkontrahent der NATO und auf Beschluss seiner Mitgliedsstaaten aufgelöst. Nunmehr, nach der Auflösung der Sowjetunion, der deutschen Vereinigung und dem Ende des Ost-West-Konflikts schien es, als habe sich das sicherheitspolitische Gleichgewicht zugunsten der NATO und des Westens verschoben. Die Parole von der Rückkehr nach Europa, skandiert von den Nachfolgestaaten des zerfallenen Ostblocks, stand nicht zuletzt für den Wunsch nach Aufnahme in EU und NATO.
Verschiedene Anpassungsmodelle bis hin zur Auflösung der NATO wurden in den frühen 90er Jahren in Brüssel und den Hauptstädten der NATO-Mitgliedsländer diskutiert. In der allumfassenden Fragestellung nach der sicherheitspolitischen Neuorganisation der postbipolaren Welt,und insbesondere des vereint scheinenden Europa favorisierte Russland die Neugewichtigung der KSZE. Als kosmetisches Zugeständnis, nicht aber reales, wurde der Status der Einrichtung 1993 durch Umbenennung in Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufgewertet. Auch Budget und Mandat der Organisation wurden ausgeweitet. Die Abschaffung der NATO aber, wie sie Russland forderte, erfolgte nicht. Die Neu- und Umorientierung des transatlantischen Bündnisses führte zu folgendem Ergebnis: Die NATO begriff sich zunehmend als politisches Bündnis, mit dem Ziel, gemeinsam mit der OSZE eine neue sicherheitspolitische Architektur in Europa aufzubauen. Die NATO bot den Vereinten Nationen und der OSZE Friedensmissionen in ihrem Auftrag an, und änderte damit ihren bisherigen Aktionsrahmen: militärische Operationen außerhalb des Bündnisfalls gemäß Artikel 5, und militärische Operationen ausserhalb des NATO-Gebiets wurden neu aufgenommen.
Auf die Sinnkrise, die das Verschwinden des Gegners ausgelöst hatte, gab die NATO damit die folgende Antwort: die Organisation dient nunmehr der Aufrechterhaltung der euro-atlantischen Sicherheitsordnung, fungiert als transatlantisches Bindeglied, und stellt drittens eine Versicherungsgemeinschaft gemäss Artikel 5 gegen verbleibende militärische Risiken dar.
Nach der Auflösung des Warschauer Paktes fielen ihr als neue Aufgaben das Krisenmanagement zu, die Durchsetzung und Überprüfung von Rüstungskontrolle, sowie ›Peace-Keeping‹ und ›Peace-Enforcement‹ im Auftrag der OSZE oder der Vereinten Nationen. Gemäss Kapitel VII der UNO-Charta. 1992 fand der erste Einsatz in Bosnien statt, und 1999 intervenierte die NAT0 ohne ausdrückliches Mandat des UN-Sicherheitsrats in der Bundesrepublik Jugoslawien. Die Begründung für diesen Krieg - humanitäre Intervention - brachte das Bündnis weit über sein eigentliches Mandat der Verteidigung seiner Mitgliedsstaaten hinaus. Allerorts stellte sich die Frage, ob diese neue Politik nunmehr zur Regel werden sollte, oder Ausnahme bliebe. Mehr als zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks ist die Rolle der NATO ungeklärt.
Folgende Dilemmata sind ungelöst:
– institutionelle Schwäche, denn die Aufnahme neuer Mitglieder wird, ohne grundlegende Reform der Entscheidungsstrukturen, ganz ähnlich wie die EU sie vorzunehmen hat, die Institution schwächen;
– ›Capability gap‹ (unterschiedliche technologische Kapazitäten der Mitgliedsstaaten): die Allianz weist erhebliche Disproportionalitäten und ungleiche Qualifikationen ihrer Mitgliedsstaaten auf. Während die USA, Großbritannien und Frankreich zu den technologisch modernsten Mitgliedern zählen, wurde die Bundeswehrreform in Deutschland verschleppt, und weisen neue Kandidaten wie Rumänien und Bulgarien ein unzureichendes Militärbudget und rückständige Ausrüstung auf. So wurde das Thema neue Kapazitäten - neue Risiken zum Motto des Prager Gipfels und erstaunlicherweise nicht die Aufnahme neuer Mitglieder. Neue Strukturen sollen nun ebenso geschaffen werden wie die sogenannte schnelle Eingreiftruppe, die NATO-Response Force.
4 NATO Osterweiterung
Artikel 10 des NATO-Vertrages sieht die Aufnahme weiterer Mitglieder vor. Von 1952 (Griechenland, Türkei, Bundesrepublik Deutschland 1954) bis 1982 (Spanien) war die Allianz bereits auf 16 Mitgliedsstaaten angewachsen. Als erste osteuropäische Kandidaten traten nach der Einladung des Madrider Gipfels 1997 im Jahr 1999 Polen, die Tschechische Republik und Ungarn bei. Ein Sondervertrag vom Mai 2002 bindet Russland ein, ohne es als Mitglied aufzunehmen. Eine zweite Welle wird 2004 erfolgen: Im November 2002 in Prag beschloss der sog. Transformationsgipfel der NATO eine erneute sog. Big-Bang Erweiterung. Einladungen wurden an die folgenden sieben Kandidaten ausgesprochen Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien. Diese werden im Jahr 2004 und, mit Ausnahme Bulgariens und Rumäniens, zeitgleich mit der Aufnahme in die EU, Allianzmitglieder. Eine dritte Welle wird Albanien, Makedonien und weitere Balkan-Staaten voraussichtlich im Jahr 2005 umfassen.
1. Das Procedere der Aufnahme
Schon vor der eigentlichen Aufnahme hatten die Kandidaten Gelegenheit, mit der NATO zusammenzuarbeiten: der im Dezember 1991 geschaffene NATO-Kooperationsrat (NKR), 1997 in Euro-Atlantischer Kooperationsrat (EAK) mit inzwischen 46 Mitgliedern umbenannt, ermöglicht die militärpolitische Kooperation der ehemaligen Gegner und stellt eine Vorstufe zur Mitgliedschaft dar. Im Rahmen des EAK fanden und finden gemeinsame Manöver und Peace-Keeping Missionen statt, von Bosnien bis Kosovo und Afghanistan. Seit 1999 haben Kandidaten einen sog. Membership Actionplan (MAP) einzuhalten, der an ein ›Acquis Communautaire‹ der NATO erinnert. Der MAP besteht aus den folgenden fünf Kapiteln: Politik und Wirtschaft, Verteidigung und Militär, Ressourcen, Sicherheit, Rechtsfragen. Er ist in mehrere Phasen eingeteilt und schreibt institutionelle Anpassungen vor, wie die zivile Führung des Verteidigungsministeriums, ein Verteidigungsbudget von 2 % des Bruttosozialprodukts, und die Harmonisierung der Streitkräfte im Einklang mit NATO-Erfordernissen.
2. Debatten um die NATO-Erweiterung
Keineswegs hat die Osterweiterung der NATO in allen Mitgliedsstaaten ungeteilte Zustimmung gefunden. Während Konsens über die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik herrschte, bestanden Vorbehalte gegen die Aufnahme der ehemaligen sowjetischen Republiken Estland, Lettland und Litauen. Die Skeptiker in allen Administrationen, auch der USA, hielten zwei gewichtige Argumente in den Händen: die baltischen Staaten waren im Falle eines russischen Angriffs kaum zu verteidigen, und somit war die Bündnisverpflichtung gemäß Artikel 5 in Frage gestellt. Russland hatte schon die erste Erweiterung in Madrid mit großem Unmut hingenommen, der durch die Unterzeichnung der NATO-Russland-Akte konnte nur wenig gemildert wurde. Die Erweiterung der NATO in das frühere sowjetische Territorium hinein, das sog. „Nahe Ausland“, traf dagegen auf den einmütigen und scharfen Widerstand Moskaus, insbesondere nach dem NATO-Angriff auf Russlands traditionellen Verbündeten Serbien. Der Amtsantritt der wenig diplomatischen Bush-Administration, sowie das neue russisch-amerikanische Verhältnis nach dem 11.9.2001 ebnete schließlich den Weg für den baltischen Beitritt. Im Vorfeld des Prager Gipfels unterzeichneten die NATO-Mitgliedsstaaten im Mai 2002 in Rom einen Vertrag mit Russland, der dem britischen Vorschlag des ›Council on 20‹, des NATO-Russlandrates entsprach. Über den Grundlagenvertrag von 1997 hinaus wurde Russland nunmehr ein Sonderstatus innerhalb der Allianz eingeräumt.
5 Perspektiven
Die neuen Mitgliedsländer müssen sich im Rahmen der neuen militärischen Arbeitsteilung im Rahmen der NATO ihre Nischen suchen. Rumänien und Bulgarien, die den MAP zum Zeitpunkt der Einladung nicht erfüllten, da ihre Aufnahme geopolitisch motiviert war, müssen im Nachhinein den Anforderungen gerecht werden. Die künftige Rolle der NATO ist vermutlich in der Konflikt-Nachsorge zu suchen, einer Art zweiten OSZE: damit scheint es, als würde die NATO-Rolle im Kosovo eher die Ausnahme bleiben. Ob sie sich dabei als willfähriges Organ der USA profilieren wird - eine Option, die durch die heute proamerikanische Haltung der neuen Mitglieder verstärkt werden könnte - oder zunehmend an Bedeutung verlieren wird, steht dahin. Die Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) wird nicht zuletzt eine Rolle spielen. Entscheidend wird in Mitteleuropa sein, wie der Brückenschlag zu den Ländern mit derzeit unklarer Zugehörigkeit-, das sind Weißrussland, Ukraine, Moldova, Kaukasus-Staaten und Zentralasien, gelingen wird. Insbesondere Weißrussland und die Ukraine stellen die europäische Sicherheitsarchitektur und die unmittelbaren Nachbarn vor schwer einzuschätzende, in jedem Falle aber heute in Europa zu wenig beachtete Risiken.
Asmus R. D. 2002: Opening NATO's door: how the alliance remade itself for a new era. New York. Bono G. 2002: NATO's „peace-enforcement“ tasks and „policy communities“: 1990-1999. Aldershot. Chladek T., Volle A. (Hg.) 2000: Europäische Sicherheitspolitik in der Bewährung. Bielefeld. Colloquium on the Role of the Economic Dimension in Conflict Prevention in Europe 2001. New York 2002. Hars H. 2002: NATO zwischen 11. September und Prager Gipfel. Bremen. Müller-Brandeck G. 2002: Europäische Außenpolitik. GASP-; und ESVP- Konzeptionen ausgewählter EU- Mitgliedstaaten. Baden-Baden. NATO (Hg.) 2002: NATO-Handbook. Brüssel. Saadhoff C. 2001: GASP: Außenpolitik für ein geeintes Europa. Die zweite Säule der EU auf dem Prüfstand. Norderstedt. Beschlüsse des Prager NATO Gipfels November 2002 (http://www.nato.int/docu/pr/2002/p02-127e.htm.) NATO (http://www.nato.int.)