Pověstʹ vrěmennych lět

Pověstʹ vrěmennych lět (altostslaw., „Erzählung von den vergangenen Jahren“).

Bei der als Nestorchronik bekannten Schrift P. handelt es sich um Annalen der Kiewer Rus, die 1113 im Kiewer Höhlenkloster fertiggestellt wurden. Sie bilden den gemeinsamen Kern zahlreicher ab dem 14. Jh. verbreiteter Handschriften, in denen sie allein überliefert sind. Die Erzählung setzt in vorgeschichtlicher Zeit mit der Aufteilung der Erde unter den drei Söhnen Noahs ein und führt von der biblischen Überlieferung zur Abstammungs- und Siedlungsgeschichte der Slawen, Finnougrier und Balten. Eigentliches Thema ist die Geschichte der Rus und ihrer Herrscher. P. erzählt von der Missionierung und der sagenumwobenen Gründung Kiews, der normannisch-warägischen Abstammung der ersten Herrscherdynastie der „Rjurikiden“ (Ankunft von Askolʹd und Dir in Kiew), ausführlich von den Kriegszügen gegen Byzanz, der Abwehr angreifender Steppenvölker (z. B. Chasaren, Awaren und Polovcer) und zeichnet Porträts der Fürsten Oleg, Olʹga, Svjatoslav Igorevič und Jaroslav Vladimirovič, gen. Mudryj. Besonders großen Raum nimmt die Schilderung der Christianisierung im Jahr 988 unter Fürst Vladimir Svjatoslavič ein. Auch die Entwicklung des Schrifttums und die Geschichte des Kiewer Höhlenklosters finden große Beachtung. Während zunächst der typisch lakonische und nüchterne Stil altrussischer Chroniken vorherrscht, wird die Erzählweise für das 11. Jh. lebendiger und facettenreicher und greift auch Alltäglichkeiten auf. Es ist zu vermuten, dass der Chronist seit etwa 1070 Augenzeuge der Ereignisse war. Eine stilistische Besonderheit sind Dialoge in direkter Rede. Poetische Schilderungen, klagende und pathetische sowie freirhythmische Passagen erhöhen den literarischen Wert der Chronik. Die Porträts enthalten auch moralische Charakterisierungen und unterscheiden sich darin von der byzantinischen Tradition.

Lange galt der hoch gebildete und literarisch talentierte Mönch Nestor Iskander (ca. 1056–ca. 1114) als Verfasser der Schrift. Slawisten, wie Michail I. Suchomlinov und Aleksandr A. Šachmatov untersuchten Ende des 19. Jh. als erste den Aufbau von P. und stellten in Folge die These der alleinigen Urheberschaft Nestors in Frage. Heute gilt als gesichert, dass dieser lediglich für eine 1113 abgeschlossene, nicht erhaltengebliebene Redaktion des Textes verantwortlich ist. Die Chronik muss als Kompilation und Fortführung verschiedener überlieferter Schriften betrachtet werden. Mittlerweile sind der Textbestand und die Vorstadien gut erforscht, die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte weitgehend rekonstruiert. Neben religiösen Schriften dienten byzantinische Chroniken und die Texte der Verträge zwischen Byzanz und der Rus als Vorbilder. Darüber hinaus gingen auch verschiedene im 11. Jh. in Kiew und Novgorod entstandene annalistische Aufzeichnungen, mündliche Überlieferungen von Sagen, Preisliedern sowie Teile der aristokratischen Kriegsepik und private Überlieferungen, z. B. eines Gjurjata (Georgij) Rogovič aus Novgorod in das Werk ein. Diese Vorlagen bestimmten den Stil ganzer Passagen, der den Annalen folgend sachlich ist, den geistlichen Schriften nach meditativ und in der folkloristischen Überlieferung poetisch. Die Redaktionsgeschichte stellt sich heute folgendermaßen dar: 1116 entstand eine überarbeitete und um Ausführungen des Auftraggebers, Vladimir Vsevolodovič Monomach (sog. Anweisungen an seine Söhne, russ. Poučenie detjam) erweiterte Version, die Sylʹvestr, Igumen des Vydubycʹkyj-Klosters anfertigte. Sie ist als Abschrift in der sog. Laurentius-Chronik, die ca. 1377 entstand, erhalten. Weitere spätere Kopien in der sog. Königsberger Chronik, der „Moskauer Akademie-Handschrift“ (russ. Moskovsko-Akademičeskij spisok) und der „Dreifaltigkeitshandschrift“ (russ. Troickij spisok) aus dem 15. Jh. stimmen mit dieser Version überein. Eine dritte Edition wurde 1118 abgeschlossen und ist nach dem Fundort, dem sog. Hypatios-Kloster (russ. Ipatʹevskij monastyrʹ) in Kostroma, Hypatios-Chronik benannt. Die älteste überlieferte Handschrift dieser Version stammt aus dem frühen 15. Jh. Die Forschung ist sich hinsichtlich der Annahme einer „Urchronik“, nicht jedoch deren zeitlicher Zuordnung, einig. Es dominiert die Hypothese Šachmatovs, die das Entstehen einer solchen Urschrift auf das Jahr 1095, ihr Erzähl-Ende auf 1093 datiert und die Versionen von 1116 und 1118 als direkte Überlieferungen annimmt. Ob Nestor tatsächlich Verfasser der Chronik war, spielt in der Forschung eine untergeordnete Rolle. P. steht als Zeugnis des frühen ostslawischen Schrifttums, das seine Entwicklung der kulturfördernden Politik Jaroslav Mudryjs verdankt und in dem sich die umfassende Rezeption byzantinischer Vorbilder, mithin ein christliches Weltbild, in dem geschichtliche Ereignisse von kosmischen bzw. göttlichen abhängen, widerspiegelt. Nestors besondere Leistung besteht nicht nur in der Endredaktion der verschiedenen Schriftfragmente. Als erster Chronist der Rus lässt er eine wissenschaftlich-ideologische Konzeption erkennen, die das lokale Geschehen aus einer nationalen Perspektive zu betrachten und in den weltgeschichtlichen Rahmen einzuordnen scheint. Sein Werk konzentriert sich auf die Kiewer Rus, insbesondere unter der Regentschaft Jaroslav Mudryjs, und übergeht die anderen Fürstentümer. Die Realität der herrschaftlich zunehmend fragmentierten Rus wird idealisiert. Nestor stellt daneben als erster die These vom normannisch-warägischen Ursprung der Rus auf. Großen Raum nehmen dann die Beziehungen zu Byzanz ein, die sich von Handels- und Kriegskontakten zu diplomatischer und kulturell-religiöser Nähe entwickelten. Die vielfältigen Beziehungen zu Westeuropa bleiben dagegen ausgespart.

Die Chronik P. wurde zu einem gattungsprägenden Mustertext, der mehrere Jahrhunderte lang die Historiographie des osteuropäischen Raums bestimmte und der Chronik des Cosmas von Prag (Anfang 12. Jh.) oder der Historia Francorum des Gregor von Tours aus dem 6. Jh. vergleichbar ist. Er ging in zahlreiche im 12. und 13. Jh. entstandene regionale Chroniken (Kiew, Novgorod, Suzdalʹ, Galizien-Wolynien) ein. Bis heute dient die Schrift der nationalen Identitätsfindung von Ukrainern, Russen und Weißrussen. Zahlreiche Übersetzungen in europäische Sprachen im 18. und 19. Jh. würdigten ihre Bedeutung.

Ausgaben: Adrianova-Peretc V. P., Lichačëv D. V. (red.) 1999: Povestʹ vremennych let. Sankt-Peterburg. Die Nestor-Chronik. Wiesbaden 1969 (= Slavistische Studienbücher 6). Šachmatov A. A. (red.) 1916: Povestʹ vremennych let. t. 1. Petrograd. Trautmann R. (Hg.) 1948: Die altrussische Nestorchronik. In Auswahl. Leipzig. – Eremin I. P. 1946: „Povestʹ vremennych let“. Problemy eë istoriko-literaturnogo izučenija. Leningrad. Zenkovsky S. A. (Hg.): Aus dem alten Rußland Epen, Chroniken und Geschichten. Herrsching. Müller L. 1977–2001: Handbuch zur Nestorchronik. 4 Bde. München. Ostrowski D. (ed.) 2003: The Povest vremennykh let: An Interlinear Collation and Paradosis. Cambridge. Schlözer A. L. 1802–09: Nestor. Russische Annalen in ihrer slavonischen Grundsprache. 4 Bde. Göttingen. Trautmann R. 1931: Die altrussische Nestorchronik. Leipzig. Tvorogov O. V. 1987: Povestʹ vremennych let. Lichačëv D. S. (red.): Slovarʹ knižnikov i knižnosti Drevnej rusi. Leningrad, 337–343.

(Jutta Lindekugel)


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