Belyj, Andrej

Belyj, Andrej (eigentl. Bugaev, Boris Nikolaevič); *26.10.1880 Moskau †8.1.1934 Moskau. Das Pseudonym Andrej Belyj erfand Michail S. Solovʹëv, der Bruder des Religionsphilosophen Vladimir A. Solovʹëv, dessen Einfluss das Werk des jungen Symbolisten prägte, der in Absetzung von der Dekadenz einen mythopoetischen Symbolismus als ganzheitliche Weltanschauung auszubilden versuchte. B. machte sich in Russland anfangs als innovativer Lyriker einen Namen. In die Weltliteratur ging der Schriftsteller mit dem Roman „Petersburg“ ein.

B. befasste sich seit der Schulzeit intensiv mit Musik, Kunst, Philosophie und Literatur. Zunächst studierte er an der naturwissenschaftlichen, dann der historisch-philosophischen Fakultät. Von 1900 an entwickelte er eine rege Tätigkeit in der Literaturkritik, der philosophischen Begründung des Symbolismus und in der Dichtung, deren Formen er durch Einbeziehung anderer Genres wie Musik und Malerei erweiterte. Er strebte ein Zusammenwirken der Künste mit Wissenschaft und Leben an, so dass sich in seinem Werk heterogene Richtungen wie moderne Naturwissenschaft, Theosophie, Solovʹëvs Sophiologie, deutsche Philosophie mit A. Schopenhauer, F. Nietzsche, aber auch Kant und den Neukantianern H. Cohen und H. Rickert mit einer auf den Formalismus vorausweisenden strukturorientierten Analyse von Dichtung verbanden, die ihn in seinem literarischen Werk zu Experimenten mit Rhythmus, Lautinstrumentierung sowie Bild- und Sinngestalt anregte.

Formale Komplexität und anspruchsvoller Ideengehalt zeichnen schon sein Frühwerk mit den vier „Sinfonien“ (russ. Simfonii, 1902–08) sowie dem Gedichtband „Gold in Azur“ (russ. Zoloto v lazuri, 1904) und dem Aufsatzbuch „Symbolismus“ (russ. Simvolizm, 1910) aus. B. engagierte sich im literarischen Leben mit der Organisation und dem Besuch literarischer Zirkel, den „Argonauten“, Vjačeslav I. Ivanovs „Mittwoche“, dem „Turm“ u. a. Er wurde in Konflikte wie das Liebesdreieck mit den Bloks oder das „mystische Dreieck“ mit Anna R. Minclova und V. Ivanov verwickelt, die im Versuch des „Lebensschaffens“ (russ. žiznetvorčestvo) aus dem Zusammenspiel von Persönlichem und Literarischem hervorgingen und in seinem Werk reflektiert werden.
1908/9 begann B. sich für die Theosophie und spätere Anthroposophie Rudolf Steiners zu interessieren. 1912 verließ er Russland, um bis 1916 im Umfeld Steiners zu leben, zuerst als sein Einweihungsschüler, dann als Mitarbeiter am Johannesbau, dem späteren Goetheanum im Schweizer Dornach. Steht in seinen ersten Romanen „Die silberne Taube“ (russ. Serebrjanyj golubʼ, 1909) und „Petersburg“ (russ. Peterburg, 1911–13) mit einer Analyse des zeitgenössischen Russlands eine Phänomenologie des modernen Bewusstseins im Vordergrund, deren Darstellung als Krise der abendländischen Kultur durch eine subtile Bildsprache vor dem Hintergrund der Anthroposophie verständlich wird, entfaltet B. in dem autobiographisch stilisierten Roman ›Kotik Letaev‹ (1915–16) über die Entwicklung des frühkindlichen Bewusstseins in Auseinandersetzung mit Steiners Erkenntnistheorie, Goetheanismus und Eurythmie die Vorstellung, dass die spirituelle Selbstumgestaltung den Menschen aus der Kulturkrise herausführt und ein anthropologisch fundiertes Konzept zur Ausbildung russischer Identität bereitstellt.

Neben den Romanen verfasste er Arbeiten in theoretisch-literarischer Mischform wie das Lautpoem „Glossolalie“ (russ. Glossolalija, 1917) oder die Schrift über „Rudolf Steiner und Goethe in der Weltanschauung der Gegenwart“ (russ. Rudolʼf Štejner i Gëte v mirovozzrenii sovremennosti, 1915), die in interaktiver Beziehung mit seiner Dichtung zu sehen sind. Bis auf das Intermezzo 1921–23 in Berlin, wo es zu einem zeitweiligen Zerwürfnis mit Steiner kam, blieb B. nach der Revolution in der Sowjetunion.

Neben der Aktivität im Proletkult setzte er sich anfangs für eine kulturelle Aufbauarbeit mit Arbeitskreisen und Gründung einer freien Akademie ›Volʼfila‹ ein. Nach dem Verbot der Anthroposophie 1923 und den zunehmenden Repressionen der Intellektuellen mied er den Konflikt mit dem Regime, indem er seine geistige Arbeit in der Tradition der vorsowjetischen Kultur im Verborgenen fortsetzte. So ließ er seine „Geschichte über die Entstehung der Bewusstseinsseele“ (russ. Istorija stanovlenija samosoznajuščej duši, 1925–31), in der die abendländische Geistesgeschichte auf anthroposophischer Grundlage dargestellt wird, im Privatkreis. Die veröffentlichten Romane um Moskau (1924–26, 1930), die theoretischen Schriften zum „Rhythmus als Dialektik“ (russ. Ritm kak dialektika, 1929) und über die „Meisterschaft Gogols“ (russ. Masterstvo Gogolja, 1934) gehen dagegen an der Oberfläche mit der Parteiideologie konform, um dahinter einen spirituellen Subtext mit den eigentlichen Ideen zu verbergen. In der sowjetischen Zeit entstehen umfangreiche Memoiren über für B. besonders bedeutsame Persönlichkeiten wie Blok und Steiner und über das literarische Leben um die Jahrhundertwende sowie autobiographische Aufzeichnungen.

1934 starb B. durch einen Bluterguss im Gehirn. Nach seinem Geburtsjubiläum 1980 hat sich v. a. im angloamerikanischen Raum eine breitgefächerte B.-Forschung entwickelt, deren Schwerpunkt sich mit der Perestrojka nach Russland verlagert hat. Der russischen Wiederentdeckung B.s verdankt sich die Publikation bislang unbekannter Texte und zahlreicher Sekundärliteratur. B.s Werk lebt heute in der Rezeption durch die zeitgenössische russische Literatur und in wissenschaftlich fundierten Neuübersetzungen wieder auf.

Gut T. (Hg.) 1997: Andrej Belyj. Symbolismus. Anthroposophie. Ein Weg. Texte – Bilder – Daten. Dornach.

(Henrieke Stahl)

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