Birkenrindenschrifttum

Birkenrindenschrifttum (Novgoroder)

Die Stadtrepublik Novgorod war die einzige russische Region, die sich im Mittelalter kulturell wie politisch frei entwickeln konnte. Die Stadt blieb im 13. Jh. von der mongolischen Eroberung verschont und stand zu keiner Zeit in einem Vasallenverhältnis zur Goldenen Horde. Die Hanse unterhielt in Novgorod ein Kontor, und die Handelskontakte reichten nach Skandinavien und Mitteleuropa. Die ältesten Schriftzeugnisse Novgorods (Kerbhölzer) in kyrillischer Schrift stammen aus dem 10. Jh. Vom 11. bis 15. Jh. konnte sich in Novgorod ungestört eine lokale Schriftkultur entfalten, deren Besonderheit darin besteht, dass hier vorzugsweise Birkenrinde als Beschreibstoff verwendet wurde. Birkenrinde war auch anderswo in Russland in Gebrauch, teilweise bis ins 18. Jh. Nirgendwo sonst hat sich aber eine so vitale Schriftkultur auf der Basis dieses Beschreibstoffes entwickelt wie in Novgorod.

Die meisten Texte sind mit einem spitzen Griffel in die weiche Rinde geritzt worden, andere wurden auch mit Tinte auf die glatte Oberfläche aufgetragen. Die thematische Vielfalt der Texte weist darauf hin, dass die Schriftlichkeit in allen sozialen Schichten der Bevölkerung verbreitet war, und nicht nur auf die Kreise der Bildungselite beschränkt blieb. Thematisch werden folgende Textkategorien unterschieden: 1. Texte des Wirtschaftslebens wie Steuerurkunden, Geschäftsbriefe und sonstige Handelskorrespondenz, 2. juristische Texte (Urkunden, Erlasse u. ä.), 3. administrative Texte mit Informationen über die politische Geschichte der Stadtrepublik (z. B. Chronikfragmente, Schriftverkehr der Stadtverwaltung), 4. Texte des Alltagslebens (wie private Korrespondenz, Graffiti), 5. religiöses und kirchlich-praktisches Schrifttum (Gebetstexte, liturgische Formeln u. a.), 6. Texte für Unterrichtszwecke (etwa Abecedarien). Die Texte der letzteren Kategorie sind auch auf Holztafeln geschrieben worden. Die Texte sind in altrussischer Sprache verfasst und sämtlich in kyrillischer Schrift geschrieben. Lediglich ein einziger Text (Dokument Nr. 292) weicht sprachlich ab. Dies ist eine Fluchformel im karelischen Dialekt des Finnischen, die ins 13. Jh. datiert wird. Außerdem sind Fragmente eines russisch-finnischen Glossars erhalten. In Novgorod lebten nicht nur Russen, sondern auch Angehörige ostseefinnischer Völker sowie Balten. 1478 eroberten die Moskowiter die Stadtrepublik und Novgorod verlor seine Unabhängigkeit an das Fürstentum Moskau. Damit erlosch auch die lokale Tradition des B.

Haarmann H. 1992: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt a. M. Janin V. L., Zaliznjak A. A. 1993: Novgorodskie gramoty na bereste (iz raskopok 1984–1989 gg.). Moskva.

(Harald Haarmann)


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